Donnerstag, 7. Juli

Christian kam am nächsten Morgen gegen elf Uhr in seine Wohnung zurück, bepackt mit frischen Zutaten für ein opulentes Frühstück, die er in der Küche abstellte. In der vergangenen Nacht hatte er noch weniger geschlafen als in den Nächten zuvor, nämlich gar nicht. Dennoch fühlte er sich gut. Der Fall stand kurz vor dem Abschluß, und Anna lag schlafend in seinem Bett. Liebevoll warf er einen kurzen Blick auf ihren ihm zugekehrten Rücken, ihren braunen Wuschelkopf, betrachtete ihre schmalen Schultern, die sich in ihrem Atemrhythmus leicht hoben und senkten, und schloß leise wieder die Schlafzimmertür. Bald würde er sie wecken müssen. Er ging ins Wohnzimmer zu seinem Computer und öffnete das Mailprogramm. Nachdenklich rieb er seine Hände, ließ die Knöchel knacken und begann zu schreiben:

»Lieber Jan,

ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn Du bald zu Besuch kommen würdest. Ich kann mir garantiert ein paar Tage frei nehmen, wenn Du mir rechtzeitig Bescheid gibst. Wir könnten wegfahren. Oder zu Hause bleiben und reden. Ganz wie Du willst. Wir haben uns lange nicht gesprochen und noch länger nicht gesehen. Ich weiß nicht, wie es Dir geht, was Du machst, mit wem Du lebst. Vermutlich weiß ich nicht mal richtig, wer Du bist. Als Vater habe ich wohl auf ganzer Linie versagt. Dabei wird mir in letzter Zeit erschreckend klar, wie wichtig es ist, miteinander zu reden. Ich aber habe hauptsächlich geschwiegen, ich fühlte mich schon als Superdaddy, wenn ich Dich im Polizeiwagen mitfahren ließ. Es tut mir leid, daß ich so egoistisch, oberflächlich und dumm war. Bitte, gib mir Gelegenheit, Dich endlich kennenzulernen. Dein Freund ist mir natürlich auch willkommen.

In Liebe, Dein Vater«

Christian las die Mail noch einmal durch und fühlte sich ein wenig unbehaglich, solche Töne anzuschlagen. Er war es schlicht nicht gewohnt, seine Gefühle zu äußern, es sei denn durch Fluchen. Doch er schickte die Mail ab. Es war Zeit, ein paar Dinge zu ändern.

Erleichtert ging er in die Küche, um das Frühstück vorzubereiten. Während er die Radieschen putzte, hörte er plötzlich ein qualvolles Stöhnen aus dem Schlafzimmer. Eilig lief er hin. Anna wälzte sich unruhig im Bett hin und her, sie schwitzte, ihre Augen rollten wild unter den geschlossenen Lidern, ihre Hände zitterten fahrig über die Bettdecke. Christian faßte ihr beruhigend an die Schulter, doch sie schlug nach ihm.

»Ruhig, ganz ruhig. Anna, wach auf. Ich bin’s«, versuchte er sie mit halblauter Stimme aus ihrem Alptraum zu wecken. Sie riß die Augen auf. Zuerst war sie völlig orientierungslos. Dann erkannte sie Christian und ließ sich an seine Brust fallen.

»Du hattest einen Alptraum«, meinte er sanft.

»Das kann man wohl sagen. Was machst du hier?«

»Ich wohne hier. Und ich mache uns ein Frühstück. Alles wieder in Ordnung?«

Ihr Lächeln geriet ein wenig schief: »Mhmm …«

Sie löste sich von Christian und sah sich um. Es fiel ihr wieder ein. Sie lag in seinem Bett, in seiner Wohnung. Sie hatte nicht in ihr Haus zurückgewollt, sie hatte nicht durch die Küche gehen wollen, wo immer noch der Kreideumriß Joes auf dem Boden war, sein Hirn, sein Blut, auf den Fliesen eingetrocknet und vermengt mit dem ihren.

»Hast du Hunger?« fragte Christian. »Es gibt Rührei mit Speck und Schnittlauch. Und frische Brötchen. Und Käse. Und Krabbensalat.«

Anna rappelte sich hoch: »Klingt fürstlich. Hast du überhaupt geschlafen?«

»Ich war bis jetzt im Büro. Später ist noch genug Zeit zum Schlafen«, wiegelte Christian ab.

Anna stand auf, zog seinen Bademantel über, der neben dem Bett auf dem Boden lag, und folgte ihm in die Küche.

»Und?« fragte sie.

»Was und?« fragte Christian zurück.

»Weswegen wird Wilhelm Detering angeklagt? Könnt ihr ihm die Morde an Scout und Nicki beweisen?«

»Sieht nicht gut aus bislang. Eine der beiden Waffen, die wir auf Amrum sichergestellt haben, ist definitiv die Waffe, mit der Scout und Nicki erschossen wurden. Aber Detering behauptet, es sei die seines Bruders. Und tatsächlich sind auch dessen Fingerabdrücke drauf. Detering hat sauber gearbeitet, seine abgewischt und die Waffe Carlos in die Hand gedrückt. Und selbst Zwillinge haben keine identischen Fingerabdrücke.«

Anna nickte. »Deswegen hat Carlos bei mir in der Praxis auch nie was angefaßt.«

»Der Makler hat außerdem eine gute Geschichte, wie er Scout und Nicki entwischt ist«, fuhr Christian fort. »Wird schwer, wenn nicht unmöglich, ihm zu beweisen, daß er die beiden erschossen hat und nicht Carlos. Und der Mord an seinem Bruder war Notwehr, versteht sich.«

Anna blickte Christian fassungslos an: »Und was bleibt dann? Besitz und Verbreitung von Kinderpornographie? Ein paar Jahre, und gut? Das kann doch nicht wahr sein!«

Christian ließ ab von dem Schnittlauch, den er im Begriff war zu schnippeln, und wandte sich zu Anna um. Er sah sie ernst an.

»Wir kriegen ihn dran als Kinderhändler. Wir haben massenweise Adressen, Fotos, Filme. Wir haben inzwischen die Geschäftsverbindung nach Eindhoven, übrigens Wilhelms Pflegeeltern, die ihn damals von den Deterings gekauft haben. Ein echt übles Pack, ich erspare dir die Details.«

»Wieviel kriegt Detering dafür?«

»Zu wenig. Viel zu wenig.«

Kraftlos ließ Anna sich auf einen Stuhl fallen: »Das glaube ich einfach nicht!«

Christian setzte sich zu ihr und betrachtete sie schweigend.

»Was ist?« fragte Anna unwirsch, als wäre Christian schuld an der deutschen Rechtsprechung, die Kinderschänder viel zu milde bestrafte.

»Ich habe um ein Uhr einen Termin beim Oberstaatsanwalt. Um drei gemeinsame Pressekonferenz. Ich bin hier, weil ich mit dir reden muß. Wir, das heißt das gesamte Team, Volker, Eberhard, Daniel, Karen, Pete und ich … Wir wollen auch nicht, daß Detering so einfach davonkommt. Nicht nur wegen der Kinder, deren Leben er zerstört hat, bevor es anfing. Auch wegen unserer Kollegen. Deshalb haben wir beschlossen, ab sofort fest davon überzeugt zu sein, daß Wilhelm Detering nicht nur Scout und Nicki, sondern auch die Kinder umgebracht hat. Wir haben ein Haar, wir haben die Flüge, das falsche Alibi eines kinderschändenden Richters. Das reicht.«

Verständnislos sah Anna ihn an: »Wilhelm Detering wird die ganze Geschichte erzählen. Und die Leiche von Carlos bestätigt seine Version.«

»Auf Amrum gibt es keine Rechtsmedizin. Wir haben die Leiche mit nach Hamburg genommen. Und ich weiß nicht, wie, frag am besten Karen, sie hat sich in Luft aufgelöst.«

»Aber das exhumierte Kindergerippe in Baal beweist, daß Wilhelm Detering nicht im Alter von sechs Jahren starb«, gab Anna zu bedenken.

»Sorry, aber da habe ich gelogen. Die Exhumierung war inoffiziell, die Erlaubnis habe ich mir selbst ausgestellt. Der Kripochef dort ist ein alter Kumpel von mir, oder was glaubst du, wieso wir ganz ohne Spezialtruppe mitten in der Nacht angerückt sind? Wenn Detering nun eine Exhumierung beantragt, um seine Geschichte zu untermauern, wird man das Grab leider leer vorfinden. Wir brauchen nur noch ein passendes Gutachten von einem Psychologen, der uns bestätigt, daß Karl Detering eine gespaltene Persönlichkeit ist. Und da kommst du ins Spiel.«

»Kommen wir damit durch?« fragte Anna zweifelnd.

»Koste es, was es wolle«, sagte Christian.

Anna nickte langsam. Ihr Blick ging ins Leere. Christian konnte kaum verstehen, wie sie flüsterte: »Carlos, es ist vollbracht.«