Viele Menschen gehen im Musterhaus ein und aus. Manche kommen tagsüber, die wollen das Haus sehen. Andere kommen abends, die wollen den Jungen sehen. Manche bringen selbst Kinder mit. Sowohl die, die tagsüber kommen, als auch die, die abends kommen. Die Nachbarn freuen sich, wenn sie die vielen Familien sehen. Es ist ein Zeichen für Wohlstand, wenn sich in der Bundesrepublik so viele Menschen ein Eigenheim zulegen wollen und können. Und es heißt auch, daß die gesellschaftlichen Werte noch nicht alle auf dem Müllhaufen der Geschichte liegen, trotz der Hippies, die seit einigen Jahren auf den Straßen randalieren. Nein, das Musterhaus steht für die festen Fundamente der sozialen Ordnung. Manchmal kommen nur Männer. Die wollen vermutlich ihre Frauen mit einem Haus überraschen, denken die Nachbarn. Vor allem denken das Herr und Frau Petzold. Die wohnen direkt nebenan im Pfarrhaus und haben spätabends nicht viel zu tun. Deswegen schauen sie gern mal rüber zum Musterhaus. Sie sind mit dessen Bewohnern sogar befreundet, holen die Post und gießen die Gummibäume, wenn die Nachbarn in Urlaub fahren. Den Jungen, den finden sie etwas seltsam, weil er kaum redet und auch nicht mit anderen Kindern spielt. Warum der Junge so wenig redet, wissen die Petzolds nicht. Sie würden es auch nicht wissen wollen. Eigentlich will das keiner wissen. Nicht einmal der Junge will es wissen. Deswegen hat er sich ein Spiel ausgedacht: Wenn abends Besuch in das Musterhaus kommt – meistens Männer, manchmal ein einzelner, manchmal mehrere, und ab und zu ist auch die ein oder andere Frau dabei –, dann hält der Junge erst einmal, so lange er kann, die Luft an. Dann atmet er alles aus und holt so lange keine Luft mehr, bis ihm ganz schwindlig wird. Dabei starrt er an die mit weißer Rauhfaser tapezierte Decke. Auch wenn sein Vater ihn schon nach unten in den Keller geholt hat, hält er noch heimlich die Luft an. Wieder und wieder. Im Keller ist aber keine Rauhfasertapete, sondern eine Plastikvertäfelung, die wie Holz aussehen soll. Das ist nicht so gut wie die Tapete. Auf der Tapete kann er, wenn er lange genug ohne zu blinzeln draufguckt, kleine Gesichter und Tiere sehen. Manchmal sind es Fratzen, die machen ihm angst. Dann holt er Luft und fängt noch mal von vorne an. Im Keller geht das nicht. Weil da keine Rauhfasertapete ist. Der Junge weiß genau, an welchen Abenden er geholt wird und an welchen nicht. Er erkennt das schon am Klingeln, glaubt er. Oder an den Stimmen der Männer. Wie sie flüstern und dann plötzlich laut loslachen. Wenn er das hört, beginnt er sofort mit seinem Spiel und hält die Luft an. Unten im Keller ist ihm dann schon ein wenig schwindlig. Dann schalten sie das Licht der Kamera ein. Das Surren beruhigt ihn. Er sieht in das Licht. Die Mutter hat ihm früher, als sie noch bei den Aufnahmen dabei war, gesagt, er solle da nicht hingucken, das sei nicht gut für seine Augen. Dem Vater ist es ganz recht, wenn der Junge in das weiße Licht guckt. Einmal hat er zu einem Mann gesagt, der Junge sei ganz kamerageil, und dann haben die Männer gelacht. Dem Jungen sind seine Augen egal. Das weiße Licht zieht ihn an. Es ist so … leer. Der Junge verliert sich dann in dem weißen Licht. Und er tritt durch den Lichtstrahl hinaus. Hinaus aus seinem Körper. Hinaus aus dem Keller, hinaus aus dem Haus, der Straße, der Stadt, der Welt. Wenn das Licht ausgeht, braucht er lange, bis er wieder zurück ist in der Welt. Manchmal ist er dann schon wieder in seinem Zimmer. Und darf endlich schlafen.