Freitag, 1. Juli
Am nächsten Morgen überschlugen sich die Ereignisse. Um Viertel nach neun rief van Klerk aus Amsterdam an. Keines der ermordeten Kinder war in Holland als vermißt gemeldet. Völlige Fehlanzeige, wie schon die Suche über Interpol hatte vermuten lassen. Aber bei Eindhoven war in der Frühe die Leiche eines etwa sechsjährigen Jungen gefunden worden. Weder die Auffindesituation noch die Todesursache ließen auf den Bestatter schließen, doch das Kind war mißbraucht worden und bislang noch nicht identifiziert. Van Klerk hatte seine Kollegen in Eindhoven darum gebeten, Christian die Sektionsbefunde zu mailen. Kurz darauf kam ein Anruf vom Polizeipräsidenten. Christian wurde zu einem sofortigen Gespräch bei der Staatsanwaltschaft bestellt. Er nahm sich vor, bei dieser Gelegenheit Oberstaatsanwalt Waller davon zu überzeugen, Karl Detering unter polizeiliche Beobachtung zu stellen. Die Chancen standen zwar schlecht, aber er wollte es wenigstens versuchen.
Christian hatte keine Vorstellung davon, wie schlecht die Chancen standen. Kaum war er in Wallers schickem Büro am Sievekingplatz angelangt, knallte dieser ihm die Tageszeitung vor die Nase. Auf der ersten Seite prangte ein Foto von Christian und seinen Jungs im Restaurant an der Alster. Unter dem Bild stand: »Während der Bestatter ein Kind nach dem anderen tötet, verlustiert sich die hochbezahlte Spezialistentruppe unter Oberkommissar Christian Beyer beim mittäglichen Bierchen.«
»Das Foto haben die anonym zugeschickt bekommen. Von einem besorgten Bürger! Ich bin auch besorgt. Sehr besorgt«, fuhr Waller ihn an, »können Sie mir das erklären?«
Christian konnte: »Das sind meine Jungs und ich in der Mittagspause. Wir trinken Bier.«
Etwa eine Stunde später kam Christian zurück in die Bruchbude, die sie Einsatzzentrale nannten. Er betrat das stickige Zimmer, in dem Eberhard, Volker und Daniel zusammengepfercht saßen. Daniel sah nur kurz auf und hackte weiter auf der Tastatur herum.
»Und?« wollte Eberhard wissen. »Bekommen wir die Observierung?«
Christian warf die Zeitung auf den Tisch, die er unterwegs am Kiosk besorgt hatte: »Waller fand, daß wir besonders hübsch getroffen sind. Er war so begeistert, daß ihn ein Antrag auf polizeiliche Beobachtung Deterings vollkommen aus der Bahn geworfen hätte. Also hab ich’s gelassen. Aus lauter Rücksicht. Wo ist Pitt?«
»Der flirtet in seinem Zimmer mit Karen. Sie hat den Obduktionsbericht aus Eindhoven.«
»Dann alles in den Besprechungsraum, aber zackig«, befahl Christian und ging schneidig voraus. Es dauerte nur zwei Minuten, bis alle dort versammelt waren.
Karen faßte die Sektionsergebnisse gewohnt sachlich zusammen, doch das unvorstellbare Grauen, daß ein Kind verblutet war, weil ihm jemand eine zertrümmerte Colaflasche rektal eingeführt hatte, ließ sich selbst mit distanzierten wissenschaftlichen Ausdrücken nicht bemänteln. Yvonne schluchzte auf, schlug die Hände vors Gesicht und rannte hinaus. Die Wohnungstür, die gleich darauf zuschlug, knallte wie ein tödlicher Schuß in der Stille, die sich im Besprechungszimmer ausgebreitet hatte. Daniel stand auf, kreidebleich, und meinte leise, er werde mal nach Yvonne sehen. Die Tür fiel ein zweitesmal ins Schloß, diesmal leise. Eberhard hatte Tränen der Wut in den Augen, er verschränkte die Arme vor dem Brustkorb und ballte dabei die Fäuste, bis seine Fingerknöchel ganz weiß wurden. Volker goß sich bemüht unbeeindruckt ein Glas Wasser ein, wobei seine Hand allerdings verdächtig zitterte. Und Christians Erschütterung spiegelte sich gespenstisch in seinen Gesichtszügen. Die Kontraste der in seinem Gesicht nicht zueinander passenden Einzelteile verstärkten sich, als würde ein Polaroid langsam entwickelt, sie verschoben sich wie Kontinentalplatten, deren minimalste Bewegung zu einem Aufruhr ohnegleichen an der Erdoberfläche führte, mit verheerenden Folgen. Christian sah alt aus und irgendwie verzerrt, jegliches Gleichgewicht, jegliche Harmonie war, während Karen gesprochen hatte, aus seiner Miene verschwunden. Er atmete tief durch, erhob sich und schaute aus dem Fenster, um Zeit zu gewinnen und seine verkantete Kruste zu glätten. Gegenüber auf einer Bank vor dem Eingang zur S-Bahnstation saß Yvonne in dem seit Stunden niedergehenden leichten Nieselregen, einem Kompromißangebot der Natur nach dem nächtlichen Sommergewitter. Sie wurde von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt. Daniel setzte sich zu ihr, zog sein Hemd aus, unter dem er wie immer noch ein Shirt trug, legte es ihr schützend um die Schultern, obwohl sie trotzdem naß werden würde, und nahm sie fest in seine Arme. Offensichtlich redete er beruhigend auf sie ein, während er ein großes sauberes Stofftaschentuch aus seiner Jeans zog und Yvonne damit sorgsam die Tränen trocknete, die ihr unaufhörlich über die Wangen rannen. Der Anblick rührte Christian, und unverhofft durchströmte ihn eine friedliche Ruhe, ganz so, als ob Daniel mit seiner liebevollen Geste das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse wiederhergestellt hätte.
Pete räusperte sich und ergriff als erster das Wort: »Das war nicht der Bestatter. Deswegen wird uns die DNA vom Sperma auch nichts nützen.«
»Vielleicht hat er die Kontrolle verloren«, gab Eberhard zu bedenken, der seine Fäuste nur langsam wieder lockerte.
Pete schüttelte den Kopf: »Unser Mörder ist nicht wütend. Er ist nicht sadistisch.«
»Das Opfer paßt aber perfekt in die Reihe«, gab Volker zu bedenken, »daß es keinen Zusammenhang gibt, ist unwahrscheinlich. Perlmann war in Eindhoven. Joe war bei Perlmann. Früher schon mal hat er einen Auftrag in Eindhoven erledigt. Detering war vor ein paar Tagen in Düsseldorf und könnte auch nach Eindhoven gefahren sein.«
Pete widersprach weiter: »Perlmann war nicht der Bestatter. Joe ist nicht der Bestatter. Vielleicht Detering. Aber laut Flugplan hat er am siebenundzwanzigsten Düsseldorf verlassen. Da hat das Kind laut Sektionsbericht noch gelebt. Es stimmt zwar, daß das Opfer chronologisch in unsere Reihe paßt. Aber der Mord an sich nicht. Der Bestatter hat einen bestimmten Modus operandi. Unter anderem Erdrosseln und Abdecken der Würgemale. Undoing. Bestimmt nicht, einem Kind den Darm mit einer Scherbe aufzuschlitzen. Die Leiche in Eindhoven wurde in einen Abwasserkanal geworfen, eingewickelt in einer Plastikplane. Wie unliebsamer Müll. Der Bestatter hingegen arbeitet seit dem ersten uns bekannten Mord an der Verfeinerung seines Bestattungsrituals. Und zwar stilvoll.«
Christian nickte nachdenklich: »Der Typ, der diesen Jungen gekillt hat, war vielleicht ein pädophiler Kunde, der ausgeflippt ist. Und er selbst oder die Anbieter des Kindes haben das Opfer entsorgt.«
Pete erhob sich und ging auf und ab. »So sehe ich das auch. Aber mal zurück zum Modus: Normalerweise bezeichnen wir als Tatort den Ort, wo das Opfer getötet wurde. Oft wird die Leiche dann zur Tatverschleierung an einem anderen Ort hinterlegt. Dem Fundort. Ich behaupte in diesem Fall, daß der Ort, an dem wir die Leiche auffinden, der Tatort ist, obwohl der Tötungsvorgang nicht dort stattgefunden hat.«
»Unserem Mörder geht es um die Bestattung«, stimmte Christian zu. »Ich glaube inzwischen nicht mehr, daß er sich an der Angst der Opfer weidet, um seine Macht zu spüren, wie so viele Serienkiller. Ich weiß nicht, wieso. Seine Art der Bestattung, das strahlt fast was Zärtliches aus. Das ist die Tat, das ist das Ritual, das er ausführen will. Unser Mörder bringt die Kinder um, damit er sie leichter an den sogenannten Fundort verbringen kann. Dort macht er mit ihnen das, was er machen muß.«
»Glaubt ihr, wir haben es mit einem Nekrophilen zu tun? Sozusagen multipel pervers?« überlegte Eberhard mit deutlich angewiderter Miene.
Pete zuckte mit den Schultern: »Mir ist nicht klar, was ihn ankickt. Ich betrachte nur seine Perseveranz: Was ist typisch für den Tathergang, was passiert immer wieder? Die charakteristischen Merkmale sind: Erdrosselung von kleinen Jungen, vermutlich sogenannte Ware aus der Kinderschänderszene. Dann Bestattung. Aber was verfeinert er in seiner Vorgehensweise? Was erscheint ihm beim ersten Mal nicht perfekt? Ausschlaggebend für manchmal gravierende Abweichungen im sonst stabilen Modus operandi sind in erster Linie Lernprozesse des Täters, der seine Vorgehensweise was Tatmittel, Tatort oder Opferannäherung betrifft, besser absichern will. Bei unserem Täter jedoch findet die Veränderung, die Entwicklung, soweit wir wissen, einzig und allein im Ritual der Bestattung ihren Ausdruck. Wichtig dabei ist nicht nur das friedliche äußere Erscheinungsbild, sondern die damit offenbar eng verbundene religiöse Aufladung. Die Feiertage, die Psalmen.«
Unwillig schüttelte Eberhard den Kopf: »Das mag ja sein. Aber wir sollten den Aspekt des organisierten Verbrechens nicht aus den Augen verlieren.«
Volker griff den Gedanken auf: »Könnte es nicht sein, daß Joe die Kinder im Auftrag umbringt, aber Skrupel hat und sie deswegen nicht wie seine anderen Kunden malträtiert, sondern dieses ganze Ritual macht, um sich reinzuwaschen vom Kindermord? Russen sind doch oft sehr religiös.«
»Das wäre ein mögliche Variante«, stimmte Pete zu, »aber wo ist das Motiv? Warum sollte eine organisierte Kindersex-Mafia ihre, entschuldigt bitte, Wertgegenstände aus dem Weg räumen?«
Eberhard spekulierte: »Vielleicht haben die Jungs Kundennamen mitgekriegt. Vielleicht wollten sie nicht länger den Mund halten. Vielleicht ist dieses ganze beschissene Ritual nur dazu da, uns auf die falsche Fährte zu locken. Damit wir an einen durchgeknallten Serienkiller glauben. Vielleicht bringt uns dein Profil völlig vom Weg ab!«
Pete sah eindringlich in die Runde. Er spürte, daß Eberhard in eine ganz andere Richtung ermitteln wollte. Ungeduldig ging er zur Pinnwand und zeigte auf die Fotos der Leichenarrangements: »Nein, nein! Seht doch mal hin, das ist ein Gottesdienst! Wir haben es mit einem religiösen Pädophilen zu tun, der sich seiner Neigung schämt und die Kinder als seine Versuchung dafür verantwortlich macht. Er tötet mit den Kindern das, was ihn zur Sünde verführen könnte. Und da er mit den Morden selbst eine Sünde begeht, versucht er sie mit seinem Bestattungsritual wiederum ungeschehen zu machen.«
»Das hört sich alles logisch an. Aber wir brauchen Theorien, die wir auch beweisen können. Und zwar schnell«, wandte Christian ein. »Und dabei dürfen wir trotz des stimmig wirkenden Profils vom gestörten Einzeltäter nicht die deutlichen Hinweise auf organisiertes Verbrechen übersehen.«
»Sag ich doch«, beharrte Eberhard.
Christian hatte das Gefühl, daß die Wahrheit bei diesem Fall irgendwo dazwischen lag. Er konnte sich immer auf sein Gefühl verlassen, operierte vor den anderen aber stets mit Fakten, um weder sie noch sich selbst mit seinen diffusen Ahnungen in Verlegenheit zu bringen.
Entschlossen erhob er sich: »Ich glaube, beide Ansätze gehen in die richtige Richtung, auch wenn sie auf den ersten Blick auseinanderdriften. Wir müssen sie nur zusammenbringen.«
Keiner sagte ein Wort.
»Daniel, du sammelst mir alles, was du über diesen Detering noch kriegen kannst, mir egal, wo es herkommt«, fuhr Christian fort, »und du, Volker, treibst Scout und Nicki auf und setzt sie auf unseren Kandidaten an. Scheiß auf Waller.«
Scout und Nicki waren zwei verdeckt arbeitende Ermittler, die sich bislang hauptsächlich in der Drogenszene getummelt hatten. Der Beschattungsauftrag war zwar illegal, doch alle im Raum waren einer Meinung: Die Kinder, die möglicherweise noch auf der Todesliste des kranken Killers standen, konnten nicht auf eine juristisch günstigere Beweislage warten.
Anna entließ den 16jährigen Tim, der heute zum ersten Mal bei ihr gewesen war, aus der Sitzung und goß sich eine Tasse Kaffee ein. Der Jugendliche, der an der Schule durch Gewalttätigkeit auffiel, hatte sich extrem widerspenstig gegeben und sie zu provozieren versucht, indem er mit seinen schmutzigen Sneakers auf ihrem Sofa herumlümmelte und sich permanent an den halbwüchsigen Eiern kratzte. Vermutlich kam er sich dadurch männlicher vor. Er tat alles, um die in seinen Augen mädchenhafte Tatsache zu bemänteln, daß sein Gefühlsleben in erster Linie von Selbstmitleid bestimmt war.
Aus den Notizen des Schulpsychologen entnahm Anna eine frühe Vernachlässigung Tims durch den Vater, der sich schließlich mit einer anderen Frau komplett aus dem Staub gemacht hatte und seinen damals 13jährigen Sohn mit einer verzweifelten Mutter zurückließ. Der Junge dominierte seitdem die Mutter und behandelte seine Mitschüler so, wie er gerne seinen Vater behandeln würde. Mit den Streitereien an der Schule bestätigte er sich täglich selbst, daß sein Vater ihn zu Recht verlassen hatte, und provozierte gleichzeitig, daß der Direktor der Schule ihn auch noch verstieß. Sie würde dringend mit Tims Mutter reden müssen.
Anna machte sich ihre Notizen und sah auf die Uhr. Für Dante, der jeden Moment kommen mußte, hatte sie, wenn nötig, zwei Stunden Zeit. Aber vielleicht ging er ja schon wieder nach einer halben, ohne wirklich etwas zu sagen. Anna war sich überhaupt noch nicht im klaren, was sie von diesem seltsamen Patienten halten sollte.
Zwei Minuten später war er da, perfekt gekleidet in einem sommerlichen Anzug. Als Anna ihm die Haustür öffnete, stellte sie fest, daß es aufgehört hatte zu regnen und sich die Sonne gerade ihren Platz am Himmel zurückeroberte. Dante trat höflich grüßend ein und stellte seinen nassen Schirm zum Trocknen in eine Ecke. Dann folgte er Anna ins Sprechzimmer. Sie bat ihn, sich zu setzen, er nahm den Sessel und mied die Couch. Das Mineralwasser lehnte er dankend ab. Er wirkte hochkonzentriert und etwas angespannt. Um ihn zu lockern und an die Situation zu gewöhnen, bat Anna ihn beiläufig, erst einmal ein wenig von sich zu erzählen. Dazu seien sie bislang noch nicht gekommen.
»Was wollen Sie wissen?«
»Ganz schlichte Dinge. Sind Sie Italiener oder Spanier? Sie sprechen akzentfrei, aber Ihr Name …«
Dante zögerte kurz, dann lächelte er: »Das ist ein Künstlername.«
Anna horchte auf: »Sie sind Künstler?«
Dante blickte Anna abschätzig an.
»Ich bemühe mich.«
»Was für eine Art von Kunst machen Sie?«
Dante überlegte kurz: »Skulpturen.«
Der kleine Zögerer vor der Antwort war Anna durchaus aufgefallen. Sie fragte sich, warum er sich selbst bei diesen relativ belanglosen Fragen zu seiner Biographie jedes Wort aus der Nase ziehen ließ. Hatte er nicht, wie fast jeder Mensch, das Bedürfnis, von sich zu reden?
»Mit welchem Material arbeiten Sie?« fragte sie unverdrossen weiter.
»Mit natürlichen Materialien.«
Anna zeigte sich engagiert: »Ich habe kürzlich von einem Künstler gelesen, der sehr bekannt damit geworden ist. Ein Amerikaner, soweit ich weiß, mir fällt nur der Name nicht ein … sehr bekannt …«
Dante schwieg, was Anna stutzig machte. Wenn er sich ernsthaft mit seinem Metier beschäftigte, müßte er den Namen des Künstlers doch wissen. Und sagen.
»Er arbeitet in der Landschaft, arrangiert seine Kunst zwischen Wäldern und Hügeln, benutzt Zweige …«, fuhr sie fort.
Dante lächelte. Er wäre nie auf die Idee gekommen, daß seine spontane Angabe, er sei Künstler, zu solch passenden Vergleichen führen könnte. Anna sollte ihre Bildchen haben zum Deuten. »Ich manchmal auch. Vielleicht widme ich Ihnen mal eine Skulptur.«
»Das wäre wirklich zu viel der Ehre.« Anna machte eine kleine Pause in ihrem Fragenkatalog und wartete ab. Doch Dante schien immer noch nicht in Redefluß zu kommen. Jeden anderen Patienten hätte sie nun so lange schweigend herausgefordert, bis er von sich aus sprach. Schließlich nützte es überhaupt nichts, mit jemandem arbeiten zu wollen, der sich sperrte. Doch Dante war anders. Sie spürte, daß er sie herausforderte. Und sie hatte angenommen, gespannt auf die Aufgabe, die er für sie vorgesehen hatte.
»Wie sind Sie auf diese Art der künstlerischen Betätigung gekommen?«
»Schon als Kind. Da war ich meine eigene Skulptur.«
Anna hatte plötzlich das Gefühl, daß er den letzten Satz nicht hatte aussprechen wollen. Der Ton war verändert, absichtsloser, abwesender, entspannter, Dante hatte seinen Blick von ihr abgewandt und ins Leere gleiten lassen.
Sie gab ihm keine Zeit, einen Rückzieher zu machen: »Wie darf ich das verstehen?«
Dantes Gesicht lag im Schatten, er kniff die Augen zusammen und sah die gegenüberliegende weiße Wand an, deren Helligkeit durch das reflektierte Sonnenlicht fast blendete: »Ich habe mich selbst modelliert.« Dante sprach sehr leise weiter: »Wenn Sie sich in den Wind stellen, bewegt sich Ihr Haar. Gehen Sie im Regen spazieren, wird Ihre Haut weicher. Setzen Sie sich der Sonne aus, verändert sich die Farbe der Haut. Und ihr Geruch.«
Anna spürte die Spannung herannahen, die sie überfiel, wenn sie sich dem Wesen eines Menschen nähern durfte: »In diesen Fällen sind Wind, Regen und Sonne die freischaffenden Künstler, oder? Wie haben Sie sich modelliert?«
Dante starrte immer noch die Wand an: »Im Sand. Im Kopf. Im Blut.« Er atmete hörbar ein und aus, und dieses konzentrierte Atmen schien ihn für einen kurzen Moment ganz in Beschlag zu nehmen, ja sogar körperlich anzustrengen. Dann lächelte er, ohne Anna anzusehen: »Ich war mir selbst Wind, Regen, Sonne. Der Mensch ist immer das Material. Im Wechsel von Werden und Vergehen.«
Dantes Lächeln wirkte bemüht.
Anna bemühte sich, ihre Stimme ausdruckslos erscheinen zu lassen: »Das klingt irgendwie buddhistisch. Aber mir scheint, Sie sind in einem sehr christlichen Haushalt aufgewachsen?«
Dantes Blick flirrte für wenige Sekunden nervös durchs Zimmer, bis er wieder Ruhe fand an der Wand gegenüber: »Ich bin in einem Musterhaus groß geworden.«
Der Ausdruck irritierte Anna: »Sie meinen, ein mustergültiges Haus?«
Forschend sah sie Dante an. Der schien im Anblick der weißen Wand verloren, den Blick starr ins Nichts gerichtet. Kein Flackern, kein Lidreflex, keine noch so minimale Bewegung, er war wie in Trance. Er atmete nicht einmal mehr.
Leise fragte sie ihn: »Warum halten Sie die Luft an?«
»Um das weiße Licht zu sehen.«
Anna stutzte. Ihr Patient war komplett weggetreten. Doch plötzlich tat er einen vehementen Atemzug, als tauche er aus tiefem Wasser auf, wandte den Kopf von der Wand ab und sah zu Anna. Sein leerer Blick erschreckte sie. Erst langsam schien wieder Seele in die Augen zu strömen. Anna war etwas verstört durch sein Verhalten, so daß sie nicht schnell genug schaltete, bevor Dante sein Unterbewußtes wieder verschloß.
»Sie waren gerade wo?«
Dante schüttelte den Kopf: »Ich möchte im Moment nicht über meine Eltern sprechen.«
Er war bleich geworden, als er die Luft anhielt. Nun kehrte die Farbe in sein Gesicht zurück. Anna ließ ihm Zeit und beschloß, ihm das Tempo zurückzugeben.
»Worüber würden Sie gerne mit mir reden?«
»Über die Erbsünde. Über Schuld.«
Anna nickte: »Das haben Sie in Ihrer Mail geschrieben.« Sie wartete.
»Wie wird der Mensch zu dem, was er ist?« fragte Dante zögerlich.
Anna lehnte sich zurück. »Nun ja, Sie wissen sicher, daß es verschiedene Theorien gibt. Sozialisation, Genetik. Die Wahrheit liegt vermutlich in der Mitte. – Aber, Herr Dante, Sie wollen doch sicher keine wissenschaftlichen Diskussionen mit mir führen. Worum geht es Ihnen? Irgendwas macht Ihnen große Sorgen, das spüre ich. Woran glauben Sie Schuld zu tragen?«
Dante sah ihr schweigend in die Augen. Wieder beschlich Anna das Gefühl, daß er ihr weit voraus war und mit ihr spielte. Ihre Fragen waren für ihn keine Überraschungen, er führte sie genau da hin, wo er sie haben wollte. Anna fühlte sich plötzlich unzulänglich und spürte Wut in sich aufsteigen.
»Wir können natürlich auch nett Kaffee trinken, immerhin bezahlen Sie mich nicht schlecht.«
Dante lächelte kaum merklich: »Jetzt sind Sie böse auf mich. Warum?«
»Weil ich das Gefühl nicht loswerde, daß Sie mich manipulieren wollen«, sagte Anna ernst. Sie wußte, daß sie sich damit weit aus dem Fenster lehnte und gegen jegliche therapeutische Klugheit handelte, aber um hier weiterzukommen, mußte sie augenscheinlich unorthodoxe Wege gehen.
Dante erhob sich und ging zu dem Olivenbäumchen, das Anna nach seinem letzten Besuch auf die Fensterbank gestellt hatte.
»Es geht ihm schon viel besser«, sagte er leise.
»Sie mögen Pflanzen?« Anna suchte nach einem neuen Anknüpfungspunkt.
Dante nickte: »Sie sind unschuldig.«
»Erzählen Sie mir, was die Begriffe Schuld und Unschuld für Sie bedeuten.«
Dante wandte sich zu ihr um, blieb aber stehen.
»Schuld ist blutrot, kackbraun, nachtschwarz. Unschuld ist weiß. Weißes Licht. Schuld ist erwachsen, Unschuld ist kindlich. Schuld ist Körper, Unschuld ist Seele. Schuld ist sinnlich, Unschuld ätherisch. Schuld tut weh, Unschuld ist schmerzfrei. Schuld tötet. Unschuld wird getötet.«
Plötzlich war Anna klar, warum Dante sie so faszinierte. Weil er in ihr die Erinnerung wachrief an ihre Motivation, Psychologie zu studieren. Weil er sich nicht einfach öffnen ließ nach den Methoden aus dem Lehrbuch, die sie nur abzurufen brauchte, professionell die Distanz wahrend. Weil sie an ihn nur herankommen konnte, indem sie auch an ihre eigenen Wunden rührte. Weil er ein Verletzter war, dessen Schmerz sie fühlen und verstehen wollte, statt ihn auf dem Seziertisch mit dem messerscharfen Instrument der Analyse auseinanderzunehmen.
Dante sagte: »Ich habe Ihnen eine Mail geschrieben. Ein Gedicht.«
»Haben Sie es geschrieben?«
Er schüttelte den Kopf: »Nein. Aber ich verstehe es. Vielleicht verstehen Sie mich.«
Er nahm seine Jacke und wandte sich zum Gehen.
»Wollen Sie schon gehen? Die Zeit ist noch nicht um.«
Dante sah mit seinen dunklen Augen wie vom Grund des Marianengrabens herauf: »Das weiß man nie.«
»Keinen neuen Termin?«
»Ich werde Ihnen mailen, okay?«
Dante ging, ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen.
Hamburg dampfte wie eine Waschküche, während die Sonne versuchte, die Stadt zu trocknen und die schnell ziehenden Cumuluswolken aufzulösen. Als Dante auf die Straße trat, legte sich die Feuchtigkeit der Luft wie warme Seide auf seine Haut. Er fragte sich, ob er gut gewesen war. Er hatte einiges plazieren können, aber er war auch aus der Rolle gefallen. Wie klug war diese Maybach? War sie schon soweit? Oder war das Gedicht verfrüht? Sie durfte auf keinen Fall zu viele Unterscheidungen treffen. Das würde alles gefährden. Aber wahrscheinlich gab es gar nicht soviel, was zu unterscheiden war, beruhigte er sich. Schließlich waren sie eins. Trotzdem. Am besten würde er nicht mehr hingehen, sich nur noch per Mail bei ihr melden. Er würde ihr bald die Offenbarung schicken. Die Zeit war um, sie wußte es nur noch nicht.
Dante lief nachdenklich die Straße entlang, als ihm plötzlich ein Kind entgegenkam, einen Teddy im Arm haltend. Die Mutter stand einige Meter weiter, ins Gespräch vertieft mit einer anderen Frau, und achtete nicht auf ihr Kind. Kurz vor Dante stolperte das Kind über eine Bodenunebenheit und fiel hin. Der Teddy rollte ihm aus der Hand und blieb in einer Pfütze liegen. Das Kind schrie gellend auf und ging, ohne Luft zu holen, zu einem langgezogenen Heulton über. Dante bückte sich und hob den Jungen hoch. Er streichelte ihm über den Kopf und sprach beruhigend auf ihn ein. Die Mutter, durch das Weinen aufmerksam geworden, rannte herbei und riß Dante das Kind aus den Armen. Sie bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick und fuhr ihn an: »Lassen Sie mein Kind los!« Dante sah sie durchdringend an und ging ohne ein Wort weiter. Zwei Schritte, dann lag der Teddy vor ihm. Dante sah in die gläsernen Knopfaugen, hielt inne, erschrocken, von einer unüberwindlichen Barriere gestoppt. Er erstarrte. Ihm wurde schwindlig. Die Geräusche der vorüberfahrenden Autos traten in den Hintergrund, wurden leiser und leiser, bis sie sich zu einem undefinierten Brummen und Surren vermengten, ein Surren, ja, das war es, das Surren einer Kamera. Der Alkoholgeruch seines Vaters stieg ihm in die Nase. Da war das Lachen der Männer, ihr heiseres, forderndes Flüstern. Ihre Finger. Ihn fror, ihm wurde übel. Dante spürte, daß er die Luft anhielt. Er wehrte sich, schlug sich mit der Faust hart auf den Brustkorb, einmal, zweimal, zwang sich, tief einzuatmen, schüttelte den Kopf, verbannte das Surren der Kamera, das Flüstern der Männer, nahm die Autogeräusche wieder wahr, vereinzeltes Hupen, hastende Menschen, die Stadt um ihn herum, alles bestens, er sah den Teddy, es war doch nur ein häßliches, zotteliges Stofftier, und er beförderte es mit einem kräftigen Tritt aus seinem Blickfeld.
»Sie sind ja krank!« rief ihm die Mutter schrill hinterher und sammelte den Teddy wieder auf. Dante sah sie nicht mehr an, ging leicht schwankend weiter.
Anna beobachtete die Szene von ihrem kleinen vorderen Balkon aus. Sie war direkt nach Dantes Abgang hinausgetreten, um eine Zigarette zu rauchen. Und während sie sah, wie er dem Stofftier einen Fußtritt versetzte, wurde ihr plötzlich klar, was sie an ihm irritierte. Es waren außergewöhnliche und trotzdem vollkommen unauffällige Kleinigkeiten, die das Gesamtbild auf den ersten Blick nicht störten und dennoch ein gewisses Unbehagen auslösten, das um so intensiver wurde, je länger man vergeblich über die Ursache nachdachte. Da war seine Fähigkeit, über lange Zeit hinweg den Lidreflex zu unterdrücken. Jeder Mensch muß mehrmals in der Minute die Augen schließen, um sie zu befeuchten. Dante jedoch konnte einen fixieren wie eine Schlange. Außerdem faßte er nichts an. Als er unten auf der Straße für einen kurzen Moment das Kind in seine Arme nahm, war ihr aufgefallen, daß er ihr noch nie die Hand gegeben hatte. Er berührte sie nie, nichts faßte er in der Praxis an, er legte nicht einmal seine Hände auf den Sessel, weder auf die Lehnen noch auf die Sitzflächen, sondern er legte sie auf seinen Oberschenkeln ab, wo sie verblieben, bis er sich wieder erhob und ging. Anna würde ihm das nächste Mal nicht als höfliche Hausherrin die Zimmertür öffnen. Sie war gespannt, ob er die Klinke anfassen würde. Nachdenklich drückte sie die Kippe im Blumenkasten aus und ging hinein, um das Gedicht zu lesen.
Du sollst mein Racheengel sein Gott
Hilf mir tritt du für mich ein
Laß ihn nicht davonkommen diesen ehrbaren Schrebergärtner
Erfinde die Hölle neu für ihn
Da schwelt eine Wunde mir auf der Stirn
Die kannst auch du Gott nicht heilen
Taube Stelle und Ekel im Mund
Noch nicht einmal Sehnsucht Liebeswunschleere
Getötet die Unschuld verbrannt das Kind.
(Carola Moosbach)
Annas Nackenhaare stellten sich leicht auf. Sie kannte die Dichterin nicht, aber bis zu ihrem nächsten Patienten blieb genug Zeit, ein wenig im Internet zu recherchieren. In einem Artikel aus dem Sonntagsblatt Bayern vom 13. Oktober 2003 wurde sie fündig.
Wut, Tränen – und Rachepsalmen
Von Karin Vorländer
Sehr, sehr lange erschien es für Carola Moosbach völlig abwegig zu beten. Mit 18 war sie aus der katholischen Kirche ausgetreten. Mit einem Gott, zu dem sie als kleines Mädchen in einem Keller vergeblich um Hilfe geschrien hatte, wollte sie nichts zu tun haben. Heute ist Carola Moosbach 45 Jahre alt und nennt sich ›Inzest-Überlebende‹. In ihrer Kindheit gab es keinen Zeitpunkt, an dem sie jemals sich selbst gehört hätte, keinen Abend, an dem das kleine Mädchen nicht aus Angst vor neuer Vergewaltigung gegen das Einschlafen gekämpft hätte: »Bloß nicht schlafen Augen offen wer weiß was passiert.«
Den vom Vater begangenen Mord an ihrer Kinderseele hat sie überlebt. Seinen Namen hat sie abgelegt und sich eine neue Identität bekunden lassen: Moosbach heißt sie heute. Das klingt nach unberührter Natur, nach sauberer Frische …
Anna las den Artikel zu Ende, der davon erzählte, wie Carola Moosbach zu Gott zurückfand. Dann griff sie zum Telefon und sagte mit zittrigen Händen alle Termine für den restlichen Nachmittag ab. Kaum hatte sie sich den Nachmittag – nicht ohne Gezeter und temporären Vertrauensverlust – freigeschaufelt, ging sie wieder ins Internet. Skulpturen. Mensch als Material. Zweige. Kindesmißbrauch. Seelenmord. Unberührte Natur. Racheengel. Getötete Unschuld. Tötende Schuld. Das konnte nicht sein. Sie war garantiert hysterisch.
Drei Stunden später lag ihr ganzer Schreibtisch voll mit allem Material, das sie im Netz über den Bestatter hatte finden können. Sie hatte es gelesen und wieder gelesen und dabei Unmengen Kaffee getrunken, ohne es zu merken. Ihr Herz raste, die Hände flatterten. Es könnte sein, es könnte wirklich sein, sagte sie sich immer wieder. Es könnte aber genausogut sein, daß sie sich irrte. Mißbrauchsgeschichten ähnelten einander. Fest stand bislang nur, daß Dante ihr seinen frühkindlich erlittenen Mißbrauch hatte mitteilen wollen. Das hieß noch lange nicht, daß er selbst zum Mörder geworden war. Trotzdem war Anna sicher, daß Presse und Polizei mit ihrer bisherigen Theorie vom Pädophilen, der perverse Todesspiele zum Lustgewinn trieb, falsch lagen. Möglicherweise verspürte der Bestatter pädophile Neigungen – soweit sie wußte, kam es vor, daß mißbrauchte Kinder als Erwachsene selbst solche Neigungen entwickelten. Die stark verhaftete Neurosignatur, die diesen Kindern in ihrer Prägungsphase wie ein Brandzeichen in die Seele tätowiert wurde, ließ sie ein Leben lang nicht mehr los. So wie Kinder von Alkoholikern oft selbst alkoholabhängig wurden. Oder Töchter, deren Mütter geschlagen wurden, zu Männern tendierten, die auch sie schlagen würden.
Anna spürte erst jetzt, wie übel ihr war. Magensäure stieg nach oben und brannte in ihrer Speiseröhre. Ihre Gedanken waren genauso fahrig wie ihre Hände. Vermutlich zu viel Kaffee. Sie mußte etwas essen. Und in Ruhe nachdenken, was sie jetzt tun sollte. Mit Pete reden. Sie mußte erfahren, was die Signatur des Bestatters war. Das verräterische Detail, das die Polizei nicht an die Presse gegeben hatte. Pete kannte es. Aber sie durfte auf keinen Fall ihre Schweigepflicht verletzen. Sie mußte es irgendwie aus ihm herauskriegen. Ruhig, ganz ruhig. Aber was, wenn sie recht hatte mit ihrer Ahnung? Und der Bestatter schon zum nächsten Kind unterwegs war?
Anna wählte Petes Nummer, doch sein Handy war abgeschaltet. Sie entschloß sich, nicht auf die Mailbox zu sprechen, sondern es später noch einmal zu versuchen. Als es plötzlich klingelte, fuhr Anna erschrocken aus ihren Gedanken. Sie sah auf die Uhr, es war schon fast neun. Ein Patient konnte das nicht mehr sein. Mit dem hoffnungsvollen Gedanken, Pete könne unvermutet vor ihrer Praxistür stehen und ihr bei dem schrecklichen Dilemma helfen, das sie umklammerte, öffnete sie die Tür.
»Hallo«, sagte Christian verlegen.
Anna blieb vor Überraschung der Mund offen stehen.
»Ich war zufällig in der Gegend und sah Licht und da Sie kürzlich gesagt haben, ich dürfe gerne mal zur Therapie kommen …« Christian ließ den Satz unbeendet und lächelte schief. Beim Sprechen war ihm selbst aufgefallen, wie dämlich seine Ausrede klang.
Anna wandte sich um und sah durch den Flur ins Büro zu ihrem Schreibtisch, der voll war mit den Artikeln über den Bestatter. Irgendwie fühlte sie sich ertappt und wollte Christian nicht hereinbitten. Er würde sie sofort ausquetschen wie eine Zitrone. Sie aber fand, sie sollte, wenn überhaupt, zuerst mit Pete reden.
»Worum geht es denn?« fragte sie.
Christian fühlte sich extrem unwohl in seiner Haut, wie ein dämlicher Schuljunge, der in der Pause auf der Toilette von höhnischen Mitschülern beim Onanieren vor einem Foto der Schulschönheit erwischt worden ist, er fühlte sich elend, entlarvt, entblößt. »Ach, vergessen Sie’s. War ’ne bescheuerte Idee. Ist ja auch schon viel zu spät. Ich geh dann mal lieber …«
Anna nahm ihre Jacke von der Garderobe und hielt Christian etwas verkrampft am Ärmel fest: »Nicht so schnell, Herr Kommissar. Eine Sitzung will ich jetzt nicht mehr machen. Aber ich könnte Ihnen vielleicht einen freundschaftlichen Rat geben. Wenn Sie mich zum Essen einladen.«
Christian lächelte verlegen. Wie außerordentlich nett von ihr, so souverän zu übersehen, daß er quasi mit heruntergelassener Hose vor ihr stand, dachte er erleichtert: »Sehr gerne. Was halten Sie vom Luxor?«
Anna nickte: »Gutes Essen, extrem zuvorkommende Kellnerinnen.«
Als Anna bei der hübschen Bedienung, die mit Pete gevögelt hatte, ihr Menü bestellte, fragte diese frech, ob sie diesmal auch wirklich etwas essen wolle.
»Heute überlasse ich Ihnen garantiert nicht den Nachtisch«, gab Anna zurück.
Die Grinsen der Kellnerin erlosch, und sie nahm ohne weiteren Kommentar Christians Bestellung auf. Christian hatte dem Geplänkel überrascht gelauscht und vermutete wieder einmal, wie schon so oft in seinem Leben, sein völliges Unvermögen, der Unterhaltung irgendeinen Sinn beizumessen, könne nur daran liegen, daß er einfach nichts von Frauen verstand.
Anna erging es ähnlich, sie verstand sich selbst nicht mehr. Was tat sie hier eigentlich? Eine halbe Stunde nachdem ihr der begründete Verdacht gekommen war, ihr neuer Patient könnte ein Mörder sein, ging sie mit dem Chef ihrer momentanen Affäre aus, zufällig auch noch der ermittelnde Beamte, sie hockten beide recht angespannt in den Startlöchern zu einem Flirt und zu wer weiß was noch, und dann stritt sie sich auch noch mit einer Kellnerin um das Revier. Das war Chaos, das war unwürdig – das war männlich!
Doch vielleicht konnte sie jetzt die Gelegenheit nutzen, etwas mehr über den Bestatter zu erfahren. Um Dante als Mörder auszuschließen und in aller Ruhe mit der Therapie und ihrem Leben weitermachen zu können. Offen reden wollte sie mit Christian nicht darüber, die Anhaltspunkte, die sie hatte, waren viel zu vage, um ihre berufliche Schweigepflicht zu brechen und sich möglicherweise ein Verfahren einzuhandeln. Sicher hatte sie sich geirrt. Ganz sicher. Am besten hielt sie ganz den Mund. Sie würde morgen alles noch einmal durchgehen.
Als die Kellnerin weg war, eröffnete Anna in plauderndem Tonfall das Gespräch: »Sie wollen also eine Therapie. Weswegen denn?«
»Homophobie«, knurrte Christian.
Anna lachte laut auf. Sie war dankbar, daß Christians Auftauchen sie ein wenig ablenkte.
»Das soll ich Ihnen glauben?«
Christian begann betont gequält: »Mein Sohn, er ist gerade zwanzig und lebt in den Staaten, hat sich vorgestern endlich mal wieder gemeldet und seinen Besuch angekündigt, für Dezember. Familienzusammenführung an Weihnachten. Mit seinem Freund.«
»Sie kennen den Freund nicht?«
Christian schüttelte den Kopf: »Schätze, ich will ihn auch gar nicht kennenlernen.«
»Seit wann wissen Sie, daß ihr Sohn schwul ist?«
Die Kellnerin brachte den Wein und goß ein. Christian und Anna stießen an und sahen sich dabei etwas zu lange in die Augen.
»Wir haben nie darüber gesprochen. Weihnachten wird der Moment der Wahrheit. Er will mit mir darüber reden, das hat er angedeutet. Ich will aber nicht darüber reden.«
Christian bemühte sich überdeutlich, zerknirscht und betroffen zu blicken, doch er hielt es nicht durch, um seine Augen wurden die Lachfältchen sichtbar, und schließlich zog sein Mund nach und verbreiterte sich zu einem nur noch halb unterdrückten Grinsen.
Anna setzte eine ernste Psychologenmiene auf: »Sie sublimieren. Vermutlich sind Sie selbst latent schwul. Und fürchten unterbewußt, der Freund ihres Sohnes könnte ihnen gefallen. Und Sie könnten sich wünschen, daß er …«
»Hören Sie sofort auf!« unterbrach Christian sie lachend und hob abwehrend die Hände.
»Also mal im Ernst«, sagte Anna, »haben Sie wirklich ein Problem damit?«
Die Kellnerin brachte einige Hors d’œuvres. Christians Blick folgte ihrem Hüftschwung, als sie den Tisch wieder verließ. Anna verdrehte die Augen.
»Ein bißchen schon«, wandte Christian seine Aufmerksamkeit wieder Anna zu, »ich habe keine Lust auf die Aussprache, aber ich fürchte, ich komme nicht drum herum, wenn ich das Verhältnis zu meinem Sohn verbessern will.«
»Eine gute Einstellung. Anscheinend liegt Ihnen viel an ihm. Das reicht schon. Reden Sie offen und ehrlich mit ihm. Außerdem haben Sie ja bis Weihnachten Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen.« Anna lächelte wieder. »Gehen Sie mal in den ein oder anderen Darkroom, sehen Sie sich ein paar Magazine an und lesen Sie Platons Symposion. Die Knabenliebe ist immerhin seit Jahrtausenden …«
Christians Gesicht verdüsterte sich plötzlich, und Anna wurde klar, daß sie ihn mit dem letzten Satz an den Bestatter erinnert hatte. Ihr wurde sofort flau.
»Tut mir leid«, meinte sie kleinlaut, »ich wollte bestimmt keinen Zusammenhang herstellen.«
»Schon gut, ist ja nicht Ihre Schuld«, sagte Christian.
»Kommen Sie denn weiter in dem Fall?«
Anna war ebenso auf einen Schlag ernst geworden.
»Nur sehr langsam. Nicht richtig.«
Jetzt oder nie, dachte Anna. Sie hätte sich zwar gewünscht, einen unbeschwerten Abend mit einem unbeschwerten Mann verbringen zu können, doch weder der Abend noch der Mann waren danach. Und auf ihr lastete schließlich auch eine Sorge, die sie gerne so schnell wie möglich von ihrem Buckel haben wollte.
»Pete hat mir von dieser Signatur erzählt, das Detail, das nicht an die Presse gegeben wird.«
Bei Petes Erwähnung wurde Christians Miene noch verschlossener: »Was genau hat er Ihnen erzählt?«
Anna spürte, wie seine Redebereitschaft sank, doch sie konnte jetzt nicht zurück: »Nichts weiter. Nur, daß es so was häufig gibt … Was ist es? Würden Sie es mir sagen?«
Christian sah Anna forschend an. »Warum wollen Sie das wissen?«
»Ich habe da so eine Theorie«, gab Anna ausweichend zur Antwort.
»Und die wäre?«
Anna schüttelte den Kopf: »Viel zu verstiegen, fürchte ich.«
Christian schwieg.
»Ich habe Ihren Vortrag im Internet nachgelesen. Sind Sie so fasziniert von Gewalt, weil Sie Mitleid mit Ihrer Mutter haben?« fragte Christian leise.
»Nein. Ich verachte meine Mutter. Aber eigentlich ist es noch schlimmer. Ich bin fasziniert von meinem Vater«, gab Anna ebenso leise zur Antwort.
Christian schwieg und wartete ab, ob Anna Genaueres erzählen wollte. Sein Blick ruhte auf ihr. Verlegen wich sie ihm aus und drehte das Weinglas in ihren Händen. Sie schämte sich, begriff nicht, wieso sie ihm so schnell so viel von sich preisgab. Am liebsten hätte sie alles sofort wieder zurückgenommen. Dennoch war sie sicher, daß sie es ihm anvertrauen durfte. Ihm schon. Er würde sorgsam damit umgehen und es nie gegen sie verwenden.
Plötzlich merkte sie, daß Christians Aufmerksamkeit von ihr abgezogen wurde. Er starrte aus dem Hinterzimmer, in dem sie beide saßen, überrascht nach vorne, um sich dann sofort wieder ihr zuzuwenden: »Wir müssen darüber nicht reden. Darf ich Ihnen noch etwas Wein einschenken?«
Sein Versuch, sie abzulenken, geriet dermaßen hilflos, daß Anna sich neugierig umwandte. Pete war hereingekommen, stand bei der Kellnerin, flüsterte ihr ins Ohr und ließ seine Hand von ihrer Taille auf ihren Hintern rutschen.
»Tut mir leid«, sagte Christian.
»Mir nicht«, entgegnete Anna.
»Sicher?«
Anna trank einen Schluck: »Das war nur ein kleines Intermezzo. Ohne großes emotionales Gepäck.«
Christian zog überrascht die Augenbrauen hoch. »War?«
»Auch wenn ich nicht verliebt bin, als Zweitfrau eigne ich mich nie und nimmer.«
Sie blickte sich noch einmal nach Pete um und sah, wie die Kellnerin ihn auf sie aufmerksam machte. Pete sah in ihre Richtung und kam auf sie zu.
»Wunderschönen guten Abend, Chef«, begrüßte er Christian. »Hallo, Anna. Du bist wohl auf Bullen fixiert.«
»Jedenfalls bin ich nicht so flexibel wie du«, gab sie kühl zurück.
Pete stand etwas ratlos am Tisch, die Situation wurde langsam unangenehm, fast lächerlich. »Tja, dann will ich mal nicht stören. Ich ruf dich an.«
»Danke, ich komm schon klar«, sagte Anna.
Pete, dem keine Verunsicherung anzumerken war, ging zurück zur Theke.
»Möchten Sie woandershin?« fragte Christian.
Anna schüttelte den Kopf: »Pete wird gehen, wetten? Und ich möchte keinesfalls auf meine Chili-Spaghetti verzichten … Sagen Sie, jetzt, wo wir so einiges voneinander wissen, sollten wir uns da nicht duzen?«
Christian hob sein Weinglas: »Gern.« Anna trank ihr Glas in einem Zug leer und ließ sich nachschenken. Christian war klar, daß Anna die Situation nicht so locker nahm, wie sie tat. Zufrieden sah er, wie Pete das Restaurant verließ. Mit dem Aufgebot des ganzen Charmes, dessen er fähig war, versuchte Christian, Anna mit einigen Anekdoten über das fulminante Scheitern seiner Ehe abzulenken. Doch sie wirkte abwesend.
Beim Essen begann Anna wieder, sich nach dem Bestatter zu erkundigen. Es ließ ihr einfach keine Ruhe. Sie mußte mehr wissen, um beurteilen zu können, ob sie mit dem Einhalten ihrer Schweigepflicht möglicherweise das Leben von Kindern gefährdete. Aber Christian blieb hartnäckig und bat sie, den schönen Abend nicht mit diesem häßlichen Thema zu verderben.
»Und wenn ich dir Fragen stelle …?« schlug Anna vor. »Nur zwei oder drei.«
Wenn sie falschliege, dürfe er sie auslachen. Und wenn sie richtigliege, solle er entscheiden, wie er reagieren wolle. Christian legte sein Besteck beiseite und äußerte, sie gehöre wohl zu der besonders anstrengenden Sorte Frau. Anna gab ihm recht. Sie nahm einen kräftigen Schluck Wein und zog eine Packung Zigaretten aus ihrer Handtasche. Als sie sich eine anzünden wollte, nahm Christian ihr das Streichholz aus der Hand und gab ihr Feuer.
»Du joggst. Und du rauchst?« fragte er.
»Manchmal. Ich kämpfe dagegen an. Vergeblich wie Sisyphos.«
»Genau wie ich. Die programmierte Erfolglosigkeit«, seufzte Christian. »Darf ich eine schnorren?«
Nach dem zweiten, tief inhalierten Zug hakte sich Anna in Christians Augen ein und hielt seinen Blick fest, um jede Regung, jede Ablehnung oder Zustimmung, jede Irritation ablesen zu können.
»Der Bestatter behandelt die Kinder, die er umbringt, sehr behutsam.«
»Das kann man, glaube ich, aus den Informationen der Presse schließen«, sagte Christian.
»Er tut das, weil er Mitleid mit ihnen hat.«
»Das ist eine Interpretation.«
»Er hat Mitleid mit ihnen, weil er als Kind selbst mißbraucht worden ist«, fuhr Anna fort.
Christian wurde stutzig: »Das ist eine Behauptung.«
Anna schwieg.
»Wie kommst du darauf? Hast du das alles mit Pete zusammen ausgebrütet? Er hat eigentlich eine andere Theorie. Ich denke, die kennst du.«
»Pete hat mir nichts erzählt«, entgegnete Anna. »Aber ich fürchte, seine Theorie ist falsch, wenn sie meiner widerspricht. Der Bestatter bringt die Kinder um, weil er ihnen ihre Unschuld zurückgeben will. Deswegen diese Inszenierung mit dem weißen Leichentuch, die Farbe der Unschuld. Das Aufbahren in der Natur. Die Blumen. Ich nehme an, die Kinder haben alle die Augen geschlossen?« Christian nickte.
»Ich weiß nicht, ob ich richtigliege. Aber du wirst es wissen. Die Signatur, ist das etwas Bestimmtes, was er bei der Leiche zurückläßt?«
Anna nahm einen kräftigen Schluck Rotwein. Sie ließ Christian nicht aus den Augen.
»Gedichte?«
Christian antwortete nicht.
»Oder sind es vielmehr Bibelzitate? Vielleicht Rachepsalmen?«
Christians Pupillen zuckten wie eine Auster, auf die man Zitrone träufelt.
»Woher weißt du das?« stieß er hervor.
Lautes, aggressives Hundegebell ertönte, als Volker auf den Klingelknopf drückte. Eine Frauenstimme befahl dem Hund, still zu sein. Er gehorchte sofort, dann wurde die Tür geöffnet.
»Hi, Ina«, sagte Volker zu der vor ihm stehenden Brünetten im Jogginganzug.
»Hi, Volker. Komm rein«, erwiderte Ina.
Volker trat ein, begrüßte den mittelgroßen Mischlingshund namens Guevara mit einem kurzen, freundschaftlichen Gerangel und folgte Ina ins Wohnzimmer. Nicht nur der Flur, auch der Wohnraum war mit Büchern, Sportgeräten, Getränkekisten, halbleeren Rucksäcken und sonstigem Kram zugestellt. Mitten im Wohnzimmer stand ein halbzerlegtes Motorrad, eine alte Triumph.
»Wie habt ihr denn die hier reinbekommen?« fragte Volker verblüfft.
»Mit einem Flaschenzug, durch die Balkontür. Die steht schon seit Monaten«, antwortete Ina gleichmütig.
»Und das stört dich nicht?«
Ina räumte einige Zeitschriften und Kissen vom Sofa, so daß Volker etwa vierzig Quadratzentimeter Platz zum Sitzen fand.
»Nö. Nur wenn sie die Maschine anwerfen, um zu checken, ob der Rückwärtsgang jetzt geht oder so was, das nervt. Es macht Krach, und die ganze Wohnung stinkt nach Abgasen. Guevara flippt jedes Mal voll aus.«
Kaum hatte sich Volker hingesetzt, sprang ihm Guevara auf den Schoß, warf sich auf den Rücken und bettelte mit leisen Grunzlauten um Streicheleinheiten. Volker gab nach.
»Willst du einen Tee?« fragte Ina.
Volker lehnte dankend ab. »Danke, keine Zeit. Ich versuche seit Stunden, Scout und Nicki zu erreichen, aber sie gehen nicht an ihre Handys.«
Ina legte die Füße auf den Couchtisch. »Kein Wunder, die sind zum Segeln. Da haben ihrer Meinung nach Handys nichts verloren. Du weißt schon, drei Tage lang Wind und Wellen, die offene See, sie holen sich einen Sonnenbrand, lassen die Bärte stehen, waschen sich nicht und fühlen sich wild und verwegen wie Hemingway. Dabei geht es nur darum zu saufen, Dope zu rauchen und sich gegenseitig Witze zu erzählen, die sie seit Jahren kennen. Sie kommen morgen wieder, vielleicht auch erst übermorgen, bei denen weiß man ja nie.«
Scout und Nicki waren enge Freunde und teilten sich seit Jahren nicht nur die Wohnung, sondern auch die Frau. Ina hatte ihre beiden Männer gut im Griff, und seit sie höchstpersönlich entschieden hatte, daß Scout und Nicki bei ihren Einsätzen im Drogenmilieu selbst zu viel kifften und koksten, waren die Jungs halbwegs clean unterwegs. Sie hatten sich die Rastalocken abschneiden lassen, die T-Shirts mit den Totenköpfen im Schrank versenkt und sich in unauffällige Anzüge geworfen, mit denen sie auch bei Einsätzen jenseits der Reeperbahn oder des Schanzenviertels nicht unangenehm auffielen. In den Achtzigern waren Scout und Nicki Punks in der autonomen Szene der Hafenstraße gewesen, die Bullen waren ihre natürlichen Feinde. Als jedoch Nickis 17jährige Schwester Meike, in die Scout sehr verliebt gewesen war, durch verschnittenes Heroin umkam, wechselten sie die Seiten. Ihren autonomen Freunden erzählten sie, sie würden zu den Bullen gehen, um den Feind von innen zu bekämpfen, und dann wieder in ihr altes Leben zurückkehren. Nach drei Jahren faßten sie den Dealer, der für Meikes Tod verantwortlich war. Und sie blieben bei der Polizei.
Über dem Sessel, in dem Ina herumlümmelte, hingen zwei Fotos, die eine bemerkenswerte Metamorphose dokumentierten: Auf dem älteren Bild trugen sie beide einen Irokesenschnitt, Scout hatte die nach oben gegelten Haare grün, Nicki rot gefärbt, Scout im fleckigen Muscle-Shirt zeigte stolz seine Tribal-Tattoos auf den Oberarmen in die Kamera, während Nicki im zerrissenen Lederhemd an einem riesigen Joint zog. Auf dem neueren Foto standen sie brav nebeneinander, trugen weiße Hemden, schwarze Anzüge und schwarze Sonnenbrillen. Kriminalbeamte im Konfirmandenanzug. Kein Außenstehender würde begreifen, welches der beiden Fotos die Karikatur zeigte. Als sie vor etwa einem Jahr zum ersten Mal derart neu gestylt im Polizeipräsidium aufliefen, war das Gelächter groß. Seitdem wurden sie ›Blues Brothers‹ oder ›Men in Black‹ genannt. Im Grunde wußte niemand, wie die beiden richtig hießen, Volker vermutete, daß nicht mal Ina es wußte, aber eigentlich war es auch egal.
Er fluchte leise, schob den widerstrebenden Guevara von seinem Schoß und erhob sich.
»Viel Pech, da kann man nichts machen«, meinte er und wandte sich zum Gehen.
Ina begleitete ihn durch den vollgestopften Flur wieder zurück zur Tür.
»Können den Auftrag nicht andere erledigen?« fragte sie.
»Schwierig«, erwiderte Volker.
»Also illegal«, bemerkte Ina. »Ich sag ihnen Bescheid, daß sie sich bei dir melden sollen.«
Volker nickte: »Sobald sie hier zur Tür rein sind. Keine Sekunde später.«
Angespannt folgte Christian Anna ins Haus. Sie führte ihn direkt in ihr Behandlungszimmer, so daß er keine Gelegenheit hatte, sich in Ruhe umzusehen. Dennoch spürte er die angenehme Atmosphäre in der kleinen Gründerzeit-Villa. Das Behandlungszimmer war karg, aber stilvoll eingerichtet und strahlte Wärme und Behaglichkeit aus. Anna schaltete ihren Computer ein und zeigte Christian die Mails, die Dante ihr geschickt hatte. Er las auch das Gedicht und die Rachepsalmen, die sie an die Wand geheftet hatte. Anna setzte sich auf die Couch und wartete stumm.
»Das sind andere«, sagte Christian und tippte auf die Psalme, »andere als die bei den Leichen.«
Anna saß da, mit hängenden Schultern, und grübelte über ihre Rechte und Pflichten als Psychologin. Und als Mensch. Christian setzte sich zu ihr: »Wäre aber auch schön blöd von ihm, wenn er dir die gleichen schicken würde. Das hier ist eh schon verdammt unvorsichtig. Wie heißt dein Patient? Auch wenn du falschliegst, ich muß mit ihm reden.«
Anna war Christian dankbar, daß er die Möglichkeit einräumte, Dante könne doch nicht der Bestatter sein. Aber sie glaubte nicht daran.
»Ich will dir seinen Namen lieber nicht sagen, wegen der Schweigepflicht«, antwortete sie kraftlos. »Außerdem ist der erfunden. Er hat sich eine neue Identität zugelegt. Wie diese Carola Moosbach.«
Anna erhob sich, holte aus der nebenan liegenden Küche eine Flasche Mineralwasser und zwei Gläser und schenkte ein. Sie stürzte ihr Wasser hinunter wie eine Verdurstende und setzte sich wieder neben Christian, ein wenig näher als vorher. Hilflos fragte sie ihn, warum Dante wohl ausgerechnet ihr diese Informationen hatte zukommen lassen. Schließlich konnte er nichts von ihren Beziehungen zum Ermittlerteam wissen. Sie vermutete, daß er durch ihre Bücher und Vorträge auf sie gekommen war, also im Grunde durch puren Zufall. Dennoch: Falls er tatsächlich der Bestatter war, ging er ein unnötiges Risiko ein. Christian hingegen nahm an, daß er letztlich gefaßt werden wollte, wie die meisten. Doch dann stellte sich die Frage, warum er nicht die geringste Spur am Tatort hinterließ und seine Hinweise nicht gleich an die Polizei gab.
»Eben! Er geht zu einer Psychologin. Ich glaube, er will einfach nur Hilfe. Er will geheilt werden von den Schmerzen der Erinnerung, von seinen Dämonen«, flüsterte Anna so leise, als wollte sie selbst die Dämonen nicht aus dem Dunkel der Nacht herbeirufen.
»Ich mochte ihn«, fügte sie kaum noch hörbar hinzu, »aber wie kann ich jemanden mögen, der kleine Kinder tötet?«
Christian legte väterlich den Arm um sie. Anna ließ es geschehen.
»Das wußtest du nicht. Falls es überhaupt stimmt«, versuchte er sie noch einmal zu beruhigen. Er strich ihr mit der Hand übers Haar. Anna begann zu weinen.
»Ich bin krank«, stieß sie hervor, »ich muß krank sein!«
Ihre plötzliche Heftigkeit überraschte ihn: »Was meinst du?«
Anna entzog sich seiner Umarmung wie ein trotziges Kind: »Weil ich meine Mutter, mit der ich Mitleid haben sollte, verachte. Weil ich meinen Vater, der ein gewalttätiges Arschloch ist, liebe. Weil ich mich einem Patienten seelenverwandt fühle, der Kinder umbringt.«
»Erzähl mir von deinem Vater«, bat Christian. Er wußte in diesem Moment nicht, was ihm wichtiger war: Alles über den mysteriösen Patienten aus Anna herauszuholen, oder ihr einfach nur näherzukommen. Anna schien reichlich verstört, die Angelegenheit nahm sie zu sehr mit, als daß sie den antrainierten Panzer aufrechterhalten konnte.
»Er ging immer sehr liebevoll mit mir um. Ich hatte eine wirklich glückliche Kindheit, vor allem durch ihn. Er forderte und förderte mich, nahm sich alle Zeit der Welt für meine Problemchen, obwohl seine Professur und die damit verbundenen Reisen ihn sehr in Anspruch nahmen. Er war aufmerksam, zärtlich, lustig, einfach der beste Vater der Welt, verstehst du?«
Christian versuchte Annas Redefluß nicht zu unterbrechen. In Wahrheit konnte er sich unter einem Vater, wie Anna ihn beschrieb, wenig vorstellen. Er war seinem Sohn sicher kein guter Vater gewesen, und seinen eigenen Vater, den hatte er kaum gekannt. Genausowenig, wie sein Sohn ihn kannte.
»Meine Mutter habe ich nie so intensiv wahrgenommen wie meinen Vater. Sie war da, tat die Dinge, die eine Mutter tut, kümmerte sich um den Haushalt, motzte wegen schlechter Noten. Aber es gab kein richtiges emotionales Band zwischen uns, ich weiß nicht, woran das lag. Und eines Tages komme ich nach Hause, ich war dreizehn, da höre ich schon von weitem, wie er sie anschreit. Und ich habe zum ersten Mal gesehen, wie er sie schlug. Einfach so, mitten ins Gesicht. Sie hat keinen Mucks von sich gegeben und ist ins Schlafzimmer gegangen. Ich bin zu meinem Vater gerannt statt zu meiner Mutter. Ich war ganz sicher, daß meine Mutter irgendwas Schlimmes gemacht haben mußte, sonst hätte mein Vater sich nie so vergessen. Sie mußte schuld sein. Mein Vater wollte nicht darüber reden. Natürlich nicht. Also habe ich mir selbst etwas zurechtgezimmert. Irgendwelche Theorien, damit mein Vater ein strahlender Held blieb. Das ging natürlich auf Kosten meiner Mutter. Erst im Laufe der nächsten Jahre habe ich dann begriffen, daß ich damit verdammt falschlag. Mein Vater ist ein unbeherrschter Choleriker. Schlicht ein Arschloch. Ich hänge an ihm, und ich hasse ihn, weil er mich so enttäuscht hat. Und ich verachte meine Mutter, weil sie bei ihm bleibt.«
Christian streichelte ununterbrochen Annas Haar, während sie weinend erzählte. Sie dachte nicht darüber nach, warum das alles ausgerechnet jetzt aus ihr herausbrach, und warum sie es ausgerechnet Christian erzählte. Sie ließ den Tränen ihren Lauf, sie ließ den Dingen ihren Lauf. Es tat gut.
»Als ich siebzehn war, bin ich einmal ausgerastet. Ich kam vom Sport nach Hause und sah, daß meine Mutter eine riesige Prellung am Arm hatte. Sie weinte nicht mal. Da bin ich in sein Büro gegangen und habe mit meinem Hockeyschläger auf ihn eingedroschen. Ich habe ihm die Hand gebrochen. Mutter hat mich dafür angeschrien, er nicht. Aber es war keine Rache für meine Mutter, es war haltlose Enttäuschung. Das wußte er. Ich glaube, sie auch.«
Anna zog ein Papiertaschentuch aus einer neben der Couch stehenden Box und schneuzte sich: »Inzwischen ist es so, daß ich mich aus der Verantwortung gezogen habe. Wenn wir uns sehen – und ich sorge dafür, daß das nicht allzuoft geschieht – tun wir wie eine ganz normale Familie.«
»Ihr seid eine ganz normale Familie«, sagte Christian.
Anna wischte sich ein letztes Mal über die Augen.
»Eine mustergültige Familie«, meinte sie sarkastisch, »wie die meines Patienten. Er hat gesagt, er sei in einem Musterhaus aufgewachsen. Seltsam, nicht?«
Wie von einer Faust gepackt, sprang Christian auf. Detering. Daniel hatte herausgefunden, daß schon Deterings Vater Immobilienmakler gewesen war. Der hatte in den späten Sechzigern sein Geschäft mit einem Musterhaus begonnen und dieses Modell dann in ganz Deutschland an junge Familien verkauft, die in Folge des Wirtschaftswunders zu Geld kamen.
»Sag mir den Namen, Anna«, forderte Christian etwas zu schroff.
Anna schüttelte den Kopf: »Ich habe dir schon viel zuviel gesagt.«
Sie erhob sich abrupt, flüchtete aus seiner Nähe und ging angespannt auf und ab. Sie fluchte. Sie trat den Papierkorb. Christian gab ihr Zeit und überlegte, wie er sie heraushalten könnte. Er nahm sein Handy und rief Volker an, der sich lautstark über die späte Störung beschwerte, um dann sofort einen Gang runterzuschalten und zu hoffen, daß es keinen katastrophalen Grund für den Anruf gab. Christian nannte vor Anna keine Namen, er fragte nur, ob Scout und Nicki schon im Einsatz seien. Insgeheim hoffte er, daß sie Detering bis zu Annas Praxis verfolgt und ihn zur passenden Zeit auch wieder hatten herauskommen sehen. Damit wäre bewiesen, daß Detering Annas Patient war, ohne sie in Gewissensnöte wegen ihrer Schweigepflicht zu bringen. Doch Scout und Nicki waren laut Volkers bedauernder Aussage erst Samstag oder Sonntag wieder in Hamburg.
Enttäuscht legte Christian auf. Während des Telefonats hatte Anna ihn aufmerksam beobachtet. Sie nickte langsam und sagte: »Ich … okay …« Doch er unterbrach sie, bevor sie den Namen nennen konnte: »Hör zu, wir machen das anders: Wir haben einen Verdächtigen. Du siehst dir das Foto an, das wir von ihm haben. Es ist nicht gut, aber … Ist es nicht dein Patient, lachst du mich aus. Wenn er es ist, entscheidest du, wie du reagierst.«
Anna griff ihre Jacke: »Gehen wir?«
Die Einsatz-Wohnung der SOKO lag in nächtlicher Stille. Nur eine der Deckenlampen flackerte sirrend, als wolle sie jeden Moment ihren trüben Geist aufgeben. Das Licht hatte einige Insekten aufgeweckt, die nun, ihrem unruhigen Instinkt folgend, gegen das Milchglas anflogen, wobei jede Kollision wie der Aufprall eines geworfenen Steinchens klang. Annas und Christians Schritte hallten unnatürlich laut auf dem Dielenboden im Flur. Fröstelnd hatte sich Anna ihren breiten Seidenschal um den Oberkörper geschlungen. Der leichte Regen, den ein warmer Westwind über die Stadt versprühte, hatte das Haus etwas abgekühlt.
Christian öffnete die Tür zum Besprechungszimmer und bot Anna einen Stuhl an. Er bat sie, kurz auf ihn zu warten, denn er wollte Deterings Akte aus seinem Zimmer holen. Christian ging hinaus und ließ Anna allein. Sicher wäre es einfacher gewesen, Anna mit in sein Büro zu nehmen, um ihr das Foto von Detering dort zu zeigen. Doch er wollte, daß sie sich die Pinnwand ansah. Die Wand mit den toten Kindern. Eins neben dem anderen.
Als er mit der Vergrößerung von Deterings Paßfoto in der Hand zurückkam, die Daniel per Computer erstellt hatte, stand Anna mit dem Rücken zu ihm vor der Pinnwand. Sie wirkte verkrampft, drehte sich nur langsam zu ihm um, als er sie ansprach. Ihr tränenverschleierter Blick sprach Bände. Sie hatte verstanden, daß er rücksichtslos genug war, ihr dieses Grauen vor Augen zu führen, damit sie es sich nicht noch anders überlegte und sich auf ihre Schweigepflicht zurück und aus der Verantwortung zog.
»Es tut mir leid«, versuchte er sich zu entschuldigen.
Sie nahm ihm die Akte aus der Hand und sah auf das Foto.
»Das ist er«, sagte sie müde. Sie war selbst überrascht, wie wenig Kraft sie nach den paar Minuten vor der Pinnwand noch hatte, um empört, entsetzt oder enttäuscht zu sein.