Man kann in das Haus hineinsehen, wenn man will. Normalerweise tut man das nicht bei fremden Häusern, es ist ja auch sehr indiskret und gehört sich deshalb nicht. Aber hier kann man, wenn man will. Denn dieses Haus ist ein Musterhaus. Ein Musterhaus für die junge Familie. Bewohnt von mustergültigen Menschen. Gebaut nach modernsten Standards, alles schön hell, Wohnzimmer mit Schiebetüren aus Glas zur Terrasse, Küche, Elternschlafzimmer nach hinten, Bad, Gästetoilette, Kinderzimmer, Vollkeller mit Partyraum. Wenn man will, kann man sogar eine Sauna einbauen, soviel Platz ist im Keller. Der pflegeleicht angelegte Garten ist nicht einsehbar. Viele Familien träumen von einem solchen Haus. Es ist wirklich besonders, auch wenn man es nicht auf den ersten Blick sieht. Manche Familienväter glauben protzen zu müssen seit dem Wirtschaftswunder. Mit einem dieser neumodischen Bungalows, einem Mercedes Strich Acht vor der Tür und riesigen Klingelschildern aus Messing. Doch dieses Musterhaus ist was für die normale Familie, die unauffällig ihr kleines, privates Glück leben will. Ohne gestört zu werden durch die neidischen Blicke der Nachbarn.
Jetzt zum Beispiel ist in diesem Haus, wie in allen anderen Häusern in dieser Straße, in dieser Stadt, ein ganz normaler Abend im Dezember. Es ist still, der Schnee, der sich an den Straßenrändern fast einen Meter hoch türmt und auf der Fahrbahn zu einer zentimeterdicken Schicht verdichtet ist, schluckt die Fahrgeräusche der wenigen Autos, die um diese Uhrzeit noch unterwegs sind. Es ist fast halb zwölf. Im Wohnzimmer, das einen aufgeräumten und gepflegten Eindruck macht, sitzt die Mutter auf der Wohnlandschaft aus braunem Cord. Das Strickzeug liegt unberührt in ihrem Schoß, sie starrt ins Leere. Man könnte denken, sie sei mit offenen Augen eingenickt oder warte abwesend auf irgend etwas. Die Fensterläden sind fest verschlossen, nur eine Stehlampe wirft ihren Lichtkegel auf den Couchtisch. Die Doppelflügeltür zum Flur steht offen.
Es ist alles ganz still. Bis die Tür geöffnet wird, die nach unten zum Partykeller führt. Der Vater tritt auf den Flur, in den Armen hält er seinen neunjährigen Sohn. Der Junge trägt eine bunte Unterhose mit kleinen Elefanten drauf. Er scheint ein wenig zu frieren. Ohne ins Wohnzimmer zu blicken, geht der Vater mit seinem Sohn stumm nach oben ins Kinderzimmer. Die eine Wand des Kinderzimmers ist blau gestrichen. Irgend jemand hat mit wenig Geschick Delphine auf die blaue Wand gemalt. Vor der Wand steht das Kinderbett. Der Vater läßt den Jungen aus seinen Armen ins Bett gleiten und deckt ihn liebevoll zu. Der Junge hat bislang kein Wort gesprochen. Keiner hat bislang auch nur irgendein Wort gesprochen.
»Möchtest du Willi haben?« fragt der Vater ihn sanft. »Willi ist fort«, antwortet der Junge tonlos. Der Vater sieht sich um und entdeckt den Teddy auf einem Kinderstuhl sitzend vor der blauen Wand, direkt neben dem Bett. »Hier ist er doch«, sagt der Vater. Er nimmt den zotteligen Bären und legt ihn dem Jungen aufs Kopfkissen, direkt neben sein Gesicht.
»Schön hast du das gemacht. Braver Junge. Nimm Willi und schlaf jetzt«, sagt der Vater mit ruhiger Stimme. Er drückt dem Jungen einen Kuß auf die Stirn und geht hinaus. Der Junge schubst den Teddy aus dem Bett und vergräbt sein Gesicht im Kissen. Er schämt sich, aber er weiß nicht warum. Sein Kopf ist so schwer. Alles tut weh. Dann kommt die Mutter herein. Sie zieht das Bettlaken wieder zurück, zieht dem Jungen den Schlüpfer mit den Elefanten herunter und reibt stumm seinen geröteten kleinen Pimmel und den blutenden Anus mit Wundsalbe ein.