Hamburg trocknete unter permanenter Sonnenbestrahlung langsam aus. Das Barometer stand stabil auf Hoch, die Temperaturen kletterten über dreißig Grad Celsius. Nur im Schatten ließ es sich noch frei atmen. Selbst in den Nächten blieb die für Hamburg typische kühle Brise aus, und das aufgeheizte Mauerwerk der Häuser konnte nirgendwohin abstrahlen, denn die Luft stand schwer in den Straßen und drückte mit ihrem Gewicht die Freude über den endlich angekommenen Sommer nieder. In den Supermärkten und Bäckereien klagten die Kunden über die Hitze mit der gleichen Intensität, mit der sie vor kurzem noch über den scheinbar unaufhörlichen Regen gejammert hatten. Anna weigerte sich, in dieses Lamento miteinzustimmen, auch wenn die Hitze ihr nicht mehr gestattete, sich in den Pausen zwischen den Patienten mit einer Zigarette auf den kleinen Balkon in die pralle Sonne zu setzen. Im Grunde mochte Anna die Hitze, nur wurde sie träge davon. Wenn es nach ihr ginge, würde sie den ganzen Tag im Schatten liegen, ein Buch lesen, sich hin und wieder kalt abduschen, zwischendurch ein bißchen dösen, immer wieder, bis zum Abend. Statt dessen empfing sie einen Patienten nach dem anderen und wartete seit dem Morgen darauf, daß wenigstens einer seinen Besuch nicht mit Bemerkungen über die Hitze einleitete. Ihre fachliche Qualifikation überprüfte sie mit Vorhersagen über die Auswirkungen der hohen Temperaturen auf die labile Psyche ihrer Patienten: Die Depressive würde die Hitze ganz sicher als Ausrede für ihre komplette Handlungsunfähigkeit benutzen, der teamunfähige Abteilungsleiter mit Potenzproblemen würde sehr, sehr gereizt sein und behaupten, daß ihm die Hitze besonders auf die Gonaden schlage. Die dreifache Mutter würde glauben, daß sie allein schuld am Wetter sei, wie sie auch schuld war an den schlechten Noten ihrer Kinder, den ungebügelten Hemden ihres Mannes und dessen mangelndem sexuellen Appetit.

Dante war natürlich nicht mit in die Wertung eingeflossen, da das Treffen am Morgen seine erste Sitzung gewesen war und sie noch keine Aussagen über ihn treffen konnte. Ansonsten hatte Anna den ganzen Tag richtiggelegen. Aber was machte die Hitze mit ihr? War sie neben ihrer Trägheit nicht auch unkonzentriert und überheblich? Anna ertappte sich mehrfach dabei, ihren Patienten nicht richtig zuzuhören. Ein Blick auf die Krawatte des Abteilungsleiters genügte, und sie ärgerte sich minutenlang über ihren Vater. Obwohl der niemals Krawatte trug. Gott sei Dank hatte sie die heutigen Sitzungen nun hinter sich.

Das Klingeln des Telefons riß Anna aus ihren Gedanken. Es war Pete, der freudig berichtete, daß Yvonne ihm zwei Wohnungsbesichtigungen vermittelt hatte.

»Hast du Lust mitzukommen? Ich weiß, für dich ist das vermutlich wenig amüsant, aber du wärst mir eine große Hilfe. Hamburg ist mir total fremd, und du könntest dafür sorgen, daß ich nicht in die Diaspora ziehe oder sonst einen Fehler begehe«, bat Pete.

Anna spürte, wie sie sofort auf Distanz ging. »Wo sind die Wohnungen denn?« fragte sie ausweichend zurück, um etwas Zeit zu gewinnen.

Pete raschelte mit einem Zettel: »Winterhude, Krochmannstraße die eine, und die andere Eimsbüttel, Bismarckstraße.«

»Vergiß beide. Die Lage ist nicht gut. Obwohl …« Anna überlegte.

»Was ist denn damit? Yvonne sagte, die erste sei direkt am Stadtpark, dort könnte ich morgens vor der Arbeit joggen, und die andere, also Eimsbüttel, das sei sehr lebendig und nett.«

»Wenn dir Joggen wichtig ist«, erwiderte Anna, »zieh an den Stadtpark. Grundsätzlich gibt es in Hamburg aber so eine Art Glaubenskrieg, wo man zu wohnen hat. Rechts oder links der Alster. Ich gehöre zur Links-Fraktion.«

»Und was spricht dann gegen die Bismarckstraße? Liegt die nicht super?«

»Zu dicht bei mir«, meinte Anna kühl.

Kurzes Schweigen in der Leitung.

»Verstehe«, kam schließlich von Pete, »was hältst du davon: Ich sehe mir den Kram alleine an und lade dich hinterher zum Essen ein. Schätze, wir haben da was klarzustellen.«

Anna stimmte zu.

Sie betrat um Punkt neun das Luxor. Die Tische draußen waren alle besetzt, Anna entdeckte Pete im hinteren Teil des Lokals.

»Du hättest draußen reservieren sollen«, sagte sie statt einer Begrüßung.

Pete erhob sich und rückte ihr den Stuhl zurecht. »Guten Abend, schön siehst du aus«, gab er zur Antwort. Anna hatte sich auffallend wenig zurechtgemacht, trug alte, an den Knien aufgerissene Jeans, kein Make-up, und die Haare hatte sie nachlässig hochgesteckt. Als sie sich wortlos hingesetzt hatte, schob er nach, er habe sehr wohl versucht, draußen zu reservieren, aber zu spät. Prüfend sah er sie an, während sie sich, immer noch schweigend, in die Karte vertiefte. Sie bestellte Bier und Cesar’s Salad, er nahm das gleiche. Als die Kellnerin weg war, lächelte Pete undurchdringlich.

»Ich habe die in der Bismarckstraße genommen. Ist bezugsfertig, ’ne nette kleine Wohnung im Hinterhaus. In Zukunft werden wir uns wohl zufällig im Supermarkt um die Ecke begegnen, wenn wir gleichzeitig nach einem Pfund Butter greifen.«

Anna schwieg.

»Morgen habe ich frei, da werden die ersten Möbel angeschafft. Ich kaufe ein Metallbett, mit Stangen am Kopfende. Und Handschellen habe ich von Berufs wegen sowieso. Na, was fällt dir dazu ein?« Pete grinste provozierend.

»Du willst in meine Gegend ziehen, du ißt das gleiche wie ich. Hast du dich verliebt?« fragte sie spöttisch.

»Mitnichten«, gab er zurück, wobei das Grinsen aus seinem Gesicht verschwand, »aber gut, daß du das Thema anschneidest. Ich habe dir schon erzählt, daß unsere Assistentin Yvonne die Wohnungen für mich rausgesucht hat, es lag und liegt also keinerlei Absicht von mir vor, möglichst nah bei dir zu wohnen. Purer Zufall.«

»Dann ist ja gut«, nuschelte Anna. Sie kam sich schon jetzt blöd vor, weil sie Pete zurückwies, bevor er überhaupt Anstalten machte, auf sie zuzugehen.

»Das Gefühl habe ich nicht«, insistierte Pete mit inzwischen deutlich schlechterer Laune. »Wenn es dir auf den Wecker geht, daß ich dich anrufe, kannst du es mir ruhig sagen. Dann lasse ich es.«

»Jetzt sei nicht gleich beleidigt«, erwiderte Anna, »oder bist du gewohnt, daß dir die Frauen nach einer Nummer zu Füßen liegen?«

Pete versuchte gelassen zu bleiben: »Ich habe dich rein freundschaftlich gefragt, ob du mit mir eine Wohnung ansiehst. Ich wollte nicht, daß du meine Unterhosen bügelst. Wo liegt das Problem?«

»Wir sind nicht befreundet. Wir haben zwei Mal gevögelt, sonst nichts.« Anna beschlich das Gefühl, daß es ohne ihr eigenes Zutun aus ihr heraus sprach. Sie verstand nicht, warum sie so mies mit Pete umsprang. Sie mochte ihn, hatte sich schon nach der ersten Nacht gewünscht, ihn wiederzusehen. Aber ihr blödes altes Muster schien sich wieder durchzusetzen: bloß keinen Mann zu nahe an sich herankommen lassen.

Pete, von Annas Worten in seiner männlichen Eitelkeit getroffen, ging in die Offensive: »Hast du Angst vor Nähe? Wenn ja, keine Sorge, Püppi, ich habe bestimmt keinen Bock auf ’ne Beziehung. Und ich habe dir auch kein Angebot gemacht, also halt die Luft an. Du läßt dich einfach gut vögeln, und da ich kaum ’ne Woche in der Stadt bin, ist meine Auswahl noch nicht so groß.«

Anna erhob sich: »Damit wäre dann ja alles geklärt, du selbstgefälliger Sack.« Sie schnappte ihre Tasche und ging. Die Kellnerin, die gerade Brot und Aioli brachte, sah ihr irritiert nach. Pete nahm das Brot dankend entgegen und begann reflexhaft, mit der Kellnerin zu flirten. Von Anna hatte er die Nase voll. Hamburg hatte sicher bessere zu bieten.

Anna schaffte es gerade noch nach Hause, bevor die Tränen flossen. Sie haßte sich selbst für den peinlichen Auftritt, war aber nicht in der Lage, Pete sofort anzurufen und sich zu entschuldigen. In ihrem Wohnzimmer pfefferte sie Tasche, Schlüssel und Schuhe in die Ecke und nahm sich vor, morgen mit ihm zu reden. Oder übermorgen. Oder er könnte ja anrufen. So schlimm war sie nun auch wieder nicht gewesen. Männer können es nur nicht vertragen, wenn eine Frau auf ihrer Unabhängigkeit besteht, sagte sie sich. Und wenn Pete so ein Weichei war, daß er eine klare Ansage nicht wegstecken konnte, dann war er eh nichts für sie.

Natürlich war ihr klar, daß sie auf unterstem Niveau rationalisierte, und natürlich war ihr klar, woran es lag. Anna warf sich wütend aufs Sofa und trocknete sich die Tränen, während sie sich einzureden versuchte, sie sei nur ein ganz klein wenig zickig gewesen. Kein Wunder, bei der Hitze!

Sie zündete sich eine Zigarette an und trat auf den Balkon. Es war kurz vor zehn, die Stadt schlief noch lange nicht. Die Gartentische des griechischen Restaurants gegenüber waren voll besetzt, Gesprächsfetzen und Lachen drangen ungehindert zu ihr hoch. Anna ließ ihren Blick über die erleuchteten Fenster in den Häusern gegenüber streifen. Fast überall lief der Fernseher und strahlte sein bläuliches Flackern aus. In einem Zimmer saß ein junger Mann vor seinem Computer. Er trug ein zu enges Unterhemd. In einer anderen Wohnung schlurfte gerade eine ältere, ziemlich dicke Frau von einem Zimmer ins andere. Sie setzte sich auf einen Sessel, legte die Beine hoch und zündete sich ebenfalls eine Zigarette an. Die Frau hatte schwere, große Brüste, die von einem knallroten BH gehalten wurden. Ansonsten schien sie nackt zu sein. Anna war überzeugt, daß jede Sekunde ein Mann aus dem Nebenzimmer kommen würde, der der entspannt dasitzenden Frau ins Dekolleté griff. Unwillkürlich trat Anna einen Schritt zur Seite, aus dem Lichtkegel ihres Zimmers heraus, um beim Beobachten nicht beobachtet zu werden. Doch sofort fragte sie sich kopfschüttelnd, was sie da eigentlich tat. Sie wandte den Blick von der Frau im roten BH ab und sah noch einmal zu den fröhlichen Gästen des Restaurants. Anna fühlte sich plötzlich einsam. Sie schnippte die Zigarette ins Dunkel der Nacht, blickte kurz dem glühenden Punkt hinterher, dann ging sie zurück in ihre nur langsam abkühlende Wohnung und schloß die Vorhänge.