Donnerstag, 30. Juni
Am Donnerstag morgen in aller Frühe saß Karl Detering mit seiner Frau beim Frühstück. Wie meist nahmen sie es weitgehend schweigend ein. Nur der gelegentliche Austausch von Informationen unterbrach das Kauen.
»Du denkst dran, daß ich heute abend nicht zu Hause bin«, sagte Astrid. Er blickte fragend von seinem Honigbrötchen auf.
Astrid seufzte mit deutlichem Vorwurf. »Hörst du mir denn nie zu? Ich gehe zur Vernissage dieser Vulva-Malerin. Du weißt, daß ich ihr Modell gestanden oder besser gesagt, gelegen habe. Sie macht faszinierend radikale Kunst.«
Karl verzog angewidert das Gesicht: »Da wünscht man sich doch einen verschärften Radikalenerlaß zurück: Berufsverbot und Ausweisung.«
Astrid schob wütend ihren Teller zurück: »Ich jedenfalls bin froh, daß sich überhaupt mal jemand für meine Möse interessiert. Und heute abend auf der Vernissage werden alle sie sehen können!«
Wütend ging sie hinaus. Karl wollte ihr etwas Bissiges hinterherrufen, doch sein Handy klingelte. Er blickte aufs Display. Die Rufnummer war unterdrückt. Als Karl den Anrufer, der seinen Namen nicht nannte, an der Stimme erkannte, begann er sofort zu fluchen: »Verdammte Scheiße! Wie oft habe ich dir gesagt, daß du mich unter der Nummer nicht …«
Karl wurde unterbrochen und hörte ein, zwei Minuten schweigend zu. Dann sagte er ganz ruhig: »Ihr tut jetzt nichts. Ruft Ulli an. Und wartet, bis ich komme. Ich bin in ein paar Stunden da.«
Karl legte auf. Sein Blick war düster und versprach nichts Gutes.
Kaum hatte sich Christian am Donnerstag mittag möglichst gleichmütig seinen telefonischen Anpfiff vom Oberstaatsanwalt abgeholt, der seinen Unmut darüber äußerte, daß er der Öffentlichkeit noch immer keine Verhaftung verkünden konnte, kam Daniel mit seinem Laptop und Pete im Schlepptau in Christians Büro gestürmt.
»Das mußt du dir ansehen, Chef«, meinte er angespannt, »schön ist das nicht, eher voll zum Kotzen, aber es bestätigt deine Vermutung vom Kinderhändlerring.«
Daniel baute seinen Laptop auf und fuhr ihn hoch.
»Wo sind die anderen?« wollte Christian wissen. Wenn Daniel auf etwas gestoßen war, sollten es alle erfahren.
»Herd und Volker haben es schon gesehen. Während du mit dem Generalissimus geflirtet hast. War’s nett?« fügte Daniel hämisch hinzu.
»Das übliche. Wenn wir unserem Oberboß nicht bald einen Kopf liefern, will er sich von uns scheiden lassen.«
Daniel zuckte mit den Schultern und beschäftigte sich mit dem Laptop. Pete zog sich einen Stuhl dicht neben Christian heran, so daß auch er gut auf den Bildschirm sehen konnte.
»Ich habe den Film bei Tante Marie gefunden«, erklärte Daniel.
Seit sie mit dem Fall beschäftigt waren, nahm Daniel eine Art Nachhilfeunterricht bei einer Frau namens Maria Großhans. Die knapp sechzigjährige, dickliche Dame arbeitete für eine Hamburger Hilfsorganisation, die mißbrauchte Kinder betreute und sich mit der Enttarnung sogenannter »guter Onkels« beschäftigte. Dazu ging Tante Marie, wie Daniel sie wegen ihrer mütterlichen Erscheinung nannte, täglich ins Netz, gab sich als kleines Mädchen oder auch Junge aus und reagierte auf die Lockangebote Pädophiler, die in Chat-Rooms mit ausgeklügelten Taktiken Kinder ansprachen. Daniel lernte von Tante Marie, wie die Pädophilen ihre Newsgroups tarnten, wie sie sich ausländischer Usenet-Anbieter bedienten, mit welchen Codes sie ihre Anzeigen verschlüsselten, wie sie die Wechsel der Newsgroups über »Pinnwände« austauschten und ihre Identitäten verschleierten. Gelegenheitstäter gingen Tante Marie relativ häufig ins Netz, doch die Profis kannten die Vorgehensweise ihrer Jäger. Sie paßten sich an und konfrontierten sie ständig mit einem erheblichen Vorsprung in Sachen Tarnung. Daniel sah bei Tante Marie Bilder und Filme, die er nie wieder aus seinem Gedächtnis würde bannen können. Seit er an diesem Fall arbeitete, versuchte er die Dämonen, die sich in seinen Hirnwindungen einnisten wollten, mit Alkohol zu bannen. Er wußte, er trank mehr, als ihm zuträglich war. Aber manchmal ertrug er die Stille und Einsamkeit der Nacht nicht, wenn sich die Bilder, die er tagsüber bei Tante Marie gesehen hatte, hinter seine geschlossenen Augenlider schoben und ihm den Schlaf raubten. Heute würden die anderen diese Bilder mit ihm teilen müssen. Er startete einen Film auf seinem Laptop.
Das Zimmer war karg eingerichtet. Zwei große Matratzen lagen auf dem Boden, bedeckt mit schmutziger, zerwühlter Wäsche. Neben dem Lager stand ein runder Beistelltisch mit einem vollen Aschenbecher und drei Gläsern, von denen eines eine braune Flüssigkeit enthielt. Durch das kleine Dachfenster im rechten oberen Bildrand drang trübes Licht in den Raum. Man hörte das leise Trommeln des Regens auf dem Dach. Ein kleiner Junge im Unterhemd wurde von einem Mann an der Hand zum Matratzenlager geführt. Beide waren nur von hinten zu sehen. Unten herum war der Junge nackt. Seine Knie zitterten leicht. Der Mann ließ die Hand des Jungen los und befahl ihm, sich hinzuknien. Der Junge tat wie geheißen. Von hinten sah man, wie der Mann sich auszog. Er ging ebenfalls in die Knie und befummelte den Jungen. Dann befahl er ihm, sich umzudrehen. Der Junge drehte sich um. Die Kamera zoomte an sein Gesicht heran. Der Junge hatte die Augen weit aufgerissen und blickte starr ins Nichts. Die Pupillen waren riesig. Aus seiner Nase lief ein kleiner Rotzfaden. Die Unterlippe bewegte sich, als ob er etwas sagte. Es war jedoch nichts zu hören. Außer einem leisen, unaufhörlichen Wimmern. Die Kamera klebte genüßlich an der Schockstarre im Gesicht des Kindes.
Es war der Junge, den die SOKO als bislang nicht identifizierte Leiche Nummer zwei in den Akten hatte.
»Wollt ihr den Rest auch noch sehen?« fragte Daniel leise.
»Gibt es eine Chance, den Ort oder den Mann zu identifizieren?« Christian sprach ebenso leise, als wolle er das wimmernde Kind in dem Film nicht erschrecken.
Daniel schüttelte den Kopf: »Drei Männer. Es kommen noch zwei dazu. Ich habe Eberhard und Volker eine Kopie des Films gemacht. Sie haben ihn schon zig Mal angesehen in der Hoffnung, daß ihnen was auffällt. Jetzt ist ihnen schlecht. Ich glaube, sie machen gerade Mittag an der Alster. Schätze, bei einem Whisky. Ich jedenfalls könnte einen brauchen. Einen doppelten.«
Christian bat Daniel, den Film abzubrechen. Er ging zu dem Waschbecken, das sich hinter einer Trennwand in seinem Büro befand, und klatschte sich mehrere Ladungen kaltes Wasser ins Gesicht. Als er wieder hervorkam, sah er genauso grau aus wie vorher.
»Okay, gehen wir an die Alster. Was trinken.«
Daniel und Pete nickten ihm zu.
»Wir haben noch was. Was Neues über Karl«, informierte Pete seinen Boß.
Anna war genervt. Schon zum zweiten Mal hatte die histrionische Patientin kurzfristig eine Sitzung abgesagt. Nun stand Anna eine sehr lange Mittagspause bevor. Sie versuchte, ihre Mutter zu erreichen. Vergeblich. Seit gestern morgen ging sie nicht ans Telefon. Anna war sicher, daß sie zu Hause war, sie ging selten aus. Dem Impuls, ihren Vater anzurufen und nachzuhaken, widerstand sie. Sie trank einen langen Zug aus der Wasserflasche und entschied sich, joggen zu gehen, um die freie Zeit sinnvoll zu nutzen. Und sich ihre hilflose Frustration aus den Zellen zu schwitzen. Sie ging nach oben in ihr Schlafzimmer, schlüpfte aus ihrem leichten Leinenkleid und zog ein Shirt und eine kurze Hose an. Als sie dabei war, die Laufschuhe zu schnüren, vermeldete ein kaum hörbares Pling aus ihrem Büro die Ankunft einer Mail auf ihrem Computer. Neugierig trabte sie wieder nach unten und warf einen Blick auf die Nachricht:
»Sehr geehrte Frau Maybach, Sie fragen sich vermutlich inzwischen, worum es mir eigentlich geht, da ich bislang noch nicht dazu gekommen bin, Ihnen viel zu erzählen. Ich weiß es selbst nicht. Nur, in meinem Kopf gehen Dinge vor sich, Dinge, die von irgendwoher kommen, die nicht zu mir gehören, oder doch? Dinge, die ich weder sehen noch hören noch riechen noch schmecken will. Können wir am Montag über die Sünde reden? Ich bin in einem, wie man sagt, sehr gottesfürchtigen Haushalt aufgewachsen. Nein, das ist Ihnen gewiß zu theologisch, und Sie werden mich wegschicken. Können wir also über Schuld reden? – Auf meinem Haupt ist übergroß geworden die Schuld / gleich einer schweren Bürde drückt sie mich nieder. – Gibt es das Böse? Ist das Böse eine Interpretation? Eine Projektion? Was ist krank? – Denn meine Lenden sind voller Brand / an meinem Leib ist nichts Gesundes. – Was ist heilbar? Wo hilft nur der Tod? – Wo wäre ein Lebender, der nicht schaute den Tod / der den Fängen der Unterwelt entzieht seine Seele? – Ihr Carlos Dante.«
Mit unwohlem Gefühl druckte Anna die Mail aus. Sie markierte die Sätze mit den Schrägstrichen und glaubte sich zu erinnern, daß diese Schreibweise typisch für die Bibel war.
Christian, Daniel und Pete leisteten sich ein Taxi und fuhren zur Alster, um der trüben Stimmung in ihrer Einsatzzentrale wenigstens über Mittag zu entkommen. Daniel entdeckte Eberhard und Volker am hintersten Tisch auf dem Holzsteg, während er sich mit Christian und Pete durch die Menschenmassen zwängte, die ihre Mittagspause unter freiem Himmel verbringen wollten. Hier und heute zeigte sich Hamburg von seiner schönsten Seite. Ein strahlend blauer Himmel, von dem die Sonne brannte, Segelboote, die auf der Außenalster kreuzten und mit ihren leicht geblähten weißen Segeln zumindest eine kleine Brise anzeigten, Ruderer von den umliegenden Clubs, die unter rhythmischen Kommandos aus Begleitbooten mit perfekt koordinierten Schlägen für die nächsten Wettkämpfe trainierten, schick gewandete Flaneure mit Designersonnenbrillen und Rassehunden und attraktive Hanseatinnen, die sich leicht bekleidet oder sogar oben ohne auf der Wiese rekelten und in den Hochglanzmagazinen der umliegenden Verlage blätterten. Stille Tage im Klischee.
Eberhard und Volker grüßten ihre ankommenden Kollegen stumm und verhalten. Eberhard räusperte sich kurz, ganz so, als habe er seit ewigen Zeiten geschwiegen und müsse nun auf unwillige Suche nach seiner Stimme gehen. Die beiden saßen vor halbgeleerten Biergläsern. Christian, Daniel und Pete setzen sich dazu. Christian gestattete sich einen flüchtigen Blick über das Postkarten-Idyll und fand es verlogen. Ernst sah er in die Runde: »Schluß mit den Schweigeminuten. Wir haben Arbeit. Also, was gibt’s?«
Eberhard begann mit der Zusammenfassung der bisherigen Rechercheergebnisse: »Ich habe Deterings Flüge des letzten halben Jahres gecheckt. Er ist recht viel unterwegs, natürlich auch in Städten, in denen keine Morde passieren, oft morgens hin, abends zurück.«
Volker fuhr fort: »Er nimmt sich einen Mietwagen, um seine Termine abzuklappern. Anscheinend geht er immer zu Sixt, das macht es für uns einfacher. Ich habe heute morgen mit Kommissar Philipp telefoniert, damit sie sich das Auto, das er in Saarbrücken geliehen hat, vornehmen. Mit viel Glück finden wir Spuren von dem Jungen. Oder sonstwas Brauchbares. Berlin und München hat wenig Sinn, das ist zu lange her.«
Christian nickte: »Irgendwie hat er die Leiche ja transportiert. Wo sonst, als in dem Auto. Die müssen einfach was finden, die müssen!«
Daniel schob Christian ein Papier zu: »Vorzeitige Entlassung aus der Bundeswehr. Wegen Dachschaden.«
Pete mischte sich ein: »Der Militärpsychologe hat Karl Detering psychogene Amnesie bescheinigt. Das Diagnostikhandbuch DSM-III-R. beschreibt dieses Krankheitsbild als Gedächtnisprobleme, die dadurch gekennzeichnet sind, daß jemand sich an wichtige Lebensdaten nicht erinnern kann, ohne daß dies mit normaler Vergeßlichkeit oder einer Hirnschädigung oder einer Alkoholvergiftung erklärbar wäre.«
»Geht das auch etwas klarer?« fragte Christian.
»Der Militärpsychologe vermutet, daß die psychogene Amnesie bei Detering durch ein Trauma ausgelöst wurde, und zwar durch den Brand seines Elternhauses im Jahr 1989. Sowohl sein Vater als auch seine Mutter sind damals zu Tode gekommen. Er war nicht zu Hause, traf aber ein, als die Feuerwehr die verkohlten Leichen aus dem Haus trug.«
»Das hat ihm wohl eine Breitseite versetzt. Er war damals gerade neunzehn«, kommentierte Volker.
Christian wandte sich an Pete: »Paßt es in dein Profil, daß einer, dessen Eltern verbrennen und der dann teilweise das Gedächtnis verliert, kleine Kinder umbringt? Mir kommt das alles reichlich krude vor.«
Pete zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls läuft der Typ nicht ganz rund. Traumatische Erlebnisse können alles mögliche auslösen. Wir wissen einfach noch zu wenig über ihn.«
Christian nickte bedächtig: »Er ist bislang nur ein Verdächtiger. Wir haben ein einziges, noch dazu extrem läppisches Indiz: vier Mal am richtigen Ort. Zufall. Sonst nichts. Drei von vier Morden sind an kirchlichen Feiertagen passiert. Und Detering war unterwegs. Aber es ist doch seltsam, daß ein Immobilienmakler Geschäfte macht, wenn seine Kunden normalerweise das verlängerte Wochenende genießen. Habt ihr schon rausgekriegt, ob er religiös ist?«
Eberhard schüttelte den Kopf.
»Mich wundert, daß, falls da ein System dahintersteckt, der vierte Mord eben nicht an einem Feiertag erfolgt ist. Wieso ist der Bestatter da von seinem Muster abgewichen?« überlegte Pete laut.
»Vielleicht haben ihn die Umstände gezwungen«, meinte Volker.
»Wäre gut, wenn wir diese Umstände kennen würden«, gab Christian zurück.
Endlich wurde ihr Bier gebracht. Sie stießen schweigend an. Plötzlich bemerkte Eberhard, daß ein nur wenige Tische entfernter Gast sie fotografierte. Er sprang auf und lief eilig auf den Mann zu. Geschickt versuchte er, dem ärgsten Gedränge aus herumstehenden Gästen auszuweichen. Er federte über einen Dackel und gab sein Bestes, doch der Mann verschwand mit seiner Kamera in der Menschenmenge, bevor Eberhard ihn erreichen konnte.
»Was war das denn für ein Idiot?« fluchte er, als er sich wieder zu seinen Kollegen setzte.
Christian forderte Daniel auf, weiterzureden. Die kurze Störung war ihm keinen Kommentar wert. Da konnten sie jetzt sowieso nichts machen.
Daniel blätterte in seinen Unterlagen: »Detering fliegt relativ regelmäßig nach Düsseldorf. So alle zehn bis zwölf Wochen.«
»Und?« fragte Christian.
»Auch dort mietet er sich einen Wagen. Er war gerade vor ein paar Tagen wieder dort, von Sonntag bis Montag, deshalb war die Recherche einfach.«
»Am vierundzwanzigsten ist er in Saarbrücken, am sechsundzwanzigsten und siebenundzwanzigsten in Düsseldorf. Der kommt ganz schön rum. Meinst du, wir finden bald eine Leiche bei Düsseldorf?« Pete trank einen Schluck von Volkers Bier.
»Ich hoffe nicht. Aber der Kilometerstand des Mietwagens war interessant. Ich habe mit dem Zirkel und dem halben Kilometerstand einen Kreis um den Düsseldorfer Flughafen gezogen, und wo lande ich da?« Daniel schaute Christian auffordernd an. Der mahlte genervt mit den Backenzähnen: »Red schon. Wir sind hier nicht in einer dämlichen Quizshow.«
»Mein Zirkel geht mitten durch Eindhoven. Erinnert ihr euch? Da war doch Herbert Perlmann mit dem kleinen Klaus Backes.«
In ihren Joggingklamotten saß Anna am Schreibtisch und wälzte die Bibel-Konkordanz. Es dauerte eine Weile, bis sie die von Dante zitierten Stellen fand. Sie waren aus dem Buch der Psalmen – gestern hatte er Auszüge aus Psalm 88 geschickt, der betitelt war mit »Gebet in der Not« und heute war Psalm 38, »Gebet in tiefster Not«, bei ihr angekommen. Anna tippte die Stellen mit Versangaben aus der Bibel ab und hängte sie an ihre Zettelwand, wo sie Termine, Cartoons, Literaturtips und Aphorismen sammelte. Sie verspürte den fast leidenschaftlichen Willen, Dantes düsterem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Was verursachte seine Not? Welcher Lebensumstände Opfer war er? Anna hoffte, am Montag in der Therapiesitzung endlich gemeinsam mit Dante einen Schritt machen zu können. Die Mails gaben die Richtung vor, das Ziel jedoch lag im dunkeln.
Anna klappte die Bibel zu, holte ihr Fahrrad aus dem Keller und fuhr zur Alster. Sie hoffte, daß eine kleine Brise über den See strich, die ihr das Joggen angenehmer machen würde. Mindestens dreißig Grad Celsius, und die Sonne brachte den Asphalt zum Kochen. Es war viel Verkehr auf den Straßen, die Menschen waren gestreßt, es wurde gehupt, gedrängelt und geschimpft. An der Alster war es zwar wie erwartet überfüllt, die Stimmung jedoch entspannter. Anna kettete ihr Fahrrad an und setzte sich trabend in Bewegung. Vorsichtig lief sie in Richtung Hundewiese, immer einen Blick aus dem Augenwinkel auf eventuell herumfliegende Frisbees, in die sofort ein spielender Hund seine Schneidezähne schlagen würde. Einmal war ihr eines dieser Plastikteile zwischen die Unterschenkel geflogen. Der hinterhersprintende Hund hatte im Eifer des Gefechts nicht genügend Distinktionsfähigkeit bewiesen und ihre Wade, die sich immerhin auch recht flott bewegte, mit dem Beute-Frisbee verwechselt. Eine schmerzhafte Erfahrung. Anna mochte Hunde zwar, aber sie bemühte sich seitdem, für sie mitzudenken.
Sie trabte rechts von den Hunden über die Wiese, vorbei an den sonnenhungrigen Mittagspäuslern, die in den von der Stadt bereitgestellten weißen Holzstühlen ausdünsteten, zurück auf den Weg, der in einer Länge von circa sieben Kilometern einmal rund um den See führte. Als sie nach links abbog, sah sie Pete mit seinen Kollegen aus dem Cliff kommen. Sie würde direkt in sie hineinlaufen, wenn sie ihr Tempo hielt, also verzögerte sie verunsichert, nicht wissend, ob sie diese Begegnung wollte. Doch Pete hatte sie schon entdeckt. Auch er zögerte kurz, das sah sie genau, dann entschloß er sich, ihr fröhlich zuzuwinken, zumal sie nun kaum noch fünf Meter entfernt war. Nur leicht außer Atem hielt sie an und warnte Pete lächelnd, sie zu küssen: »Sorry, aber ich rieche wie ein Pumakäfig!« Pete küßte sie trotzdem vorsichtig rechts und links auf die Wangen und stellte sie seinen Kollegen vor: »Das ist Anna Maybach, meine …« Er suchte eine Millisekunde zu lange nach der richtigen Bezeichnung.
»… seine Therapeutin«, sagte Anna leicht amüsiert, »Pete legt sich bei mir auf die Couch, und ich kassiere dafür. So ähnlich jedenfalls.«
Christian, der sie interessiert fixierte, reichte ihr die Hand: »Das klingt ausgesprochen verlockend.«
Anna erwiderte Christians kräftigen Händedruck, nickte den anderen grüßend zu und sah in Christians Augen. Ihre Blicke verhakten sich, griffen ineinander wie zwei Zahnräder, liefen gemeinsam los, ganz weit weg, die Randzonen ihres Wahrnehmungsfeldes versanken in Unschärfe … Anna unterbrach den Blickkontakt, stoppte die Räder. Sie verspürte einen unbändigen Fluchtimpuls.
»Dann kommen Sie doch mal vorbei. Meine Sprechzeiten stehen im Telefonbuch!« erwiderte sie mit aufgesetzter Lockerheit, knuffte Pete kumpelhaft und lief weiter. Langsam. Betont langsam. Am liebsten wäre sie gesprintet, bis die Lunge platzt, um ihrem absurden inneren Aufruhr aus Freude und Erschrecken Ausdruck zu verleihen. Um ihm zugleich jegliche Energie zu entziehen, bevor er als Gedanke formuliert werden konnte und sich dadurch ein Recht auf Existenz erstritt. Christian.
Die Männer sahen ihr hinterher.
»Guter Laufstil«, kommentierte Eberhard fachmännisch.
»Guter Hintern«, urteilte Daniel ebenfalls fachmännisch.
Alle sahen Pete erwartungsvoll an.
»Was ist denn los? Noch nie ’ne attraktive Frau in kurzen Hosen gesehen, oder was?«
Daniel legte jovial den Arm um Pete und zog ihn an sich heran: »Therapeutin, so so. Was therapiert sie denn bei dir, Pitt?«
Pete grinste: »Verspannungen aller Art.«
»Kennst du die schon länger?« Christian war es überraschend heftig zuwider, sich an dem Männergeplänkel zu beteiligen, doch er wollte es wissen.
»Seit wann bin ich in Hamburg …«, Pete gab sich nachdenklich und zählte an seinen Fingern ab, »… knapp ’ne Woche.«
Plötzlich war Christian wütend auf Pete. Weil der blitzschnell eine so wunderschöne Frau in Hamburg aufgetan hatte. Weil er sich damit brüstete. Und er war sauer auf Anna, als hätte er jedes Recht dazu. Weil sie sich von diesem Sonnyboy, der das genaue Gegenteil von ihm selbst war, einfach so aufreißen ließ. Denn daß zwischen den beiden etwas lief, das war sonnenklar.
Mißmutig trieb er seine Leute zur Eile an. Es gab andere Probleme zu lösen.
Karl Detering sah sich noch einmal um. Kein Mensch in der Nähe. Den Mietwagen hatte er etwas entfernt an der Landstraße geparkt. Langsam lief er die Auffahrt zum Hof hinauf. Eine kleine Wegbiegung, und das Haus lag in all seiner Häßlichkeit vor ihm. Vom Wind halb abgerissene Eternitplatten, Plastikfenster, fett verfugte Glasbausteine und Waschbeton bezeugten den völligen Mangel an Geschmack. Dabei war genug Geld da. Je näher er kam, desto aggressiver stieg ihm der Gestank des Schweinestalls in die Nase. Als er auf dem Geviert zwischen Wohnhaus und Ställen ankam, liefen ihm aufgeregte Hühner zwischen die Füße. Genervt trat er nach einem, was die ganze Schar in Aufruhr versetzte, so daß sie mit aufgeregtem Flattern ihrer nutzlosen Flügel das Weite suchten. Der Boden war verkotet und matschig, offensichtlich hatte es in der Nacht geregnet. Mit jedem Schritt, den Karl Detering angewidert auf das Wohnhaus zuging, spürte er die Fassade des erfolgreichen, souveränen Geschäftsmanns bröckeln. Er haßte diesen Ort hier aus tiefstem Herzen, und das wenige, was überhaupt an Menschlichem in ihm war, versteinerte mit jedem Meter, den er sich dem Haus näherte. Bis er vollkommen erkaltet war.
Er betrat das heruntergekommene Haus mit einem Schlüssel, den er aus seiner Hosentasche zog. Der ekelhafte Geruch von kalter Kohlsuppe waberte durch den Flur. Er rief nach Lilli. Sie gab keine Anwort. Karl ging ins obere Stockwerk. Eine ausgemergelte Mittsechzigerin lag auf einem schon lange nicht mehr frisch bezogenen Bett und schlief. Er weckte sie mit einem Tritt. Sie fuhr erschrocken hoch und wollte protestieren, als sie sah, wer ihr den Tritt verpaßt hatte. Sofort änderte sich ihr Gesichtsausdruck, sie lächelte und bemühte sich, etwas Devotes auszustrahlen, um ihre lauernde Angst zu verbergen.
»Gott, ist das gut, daß du da bist«, seufzte sie.
»Laß Gott aus dem Spiel. Wo ist Paul?« schnauzte er.
Lilli sah auf die Uhr: »Der holt Uli, damit der uns hilft. Wie du gesagt hast. Sie sind bestimmt gleich da. Soll ich Kaffee kochen? Oder willst du zuerst …« Sie brach mit fragendem Blick ab.
»Wir warten auf Paul und Uli!« Karl Detering verließ den müffelnden Schlafraum und setzte sich nach unten ins Wohnzimmer auf einen abgewetzten Sessel aus den frühen Achtzigern. Geistesabwesend trommelte er mit den Fingern auf die unechte Holzlehne. Kurz darauf wurde die Haustür aufgeschlossen, und zwei Männer betraten das Haus. Paul war Ende Sechzig, wirkte sehr grobschlächtig und ging gebückt, Uli war erheblich jünger und machte einen nervösen Eindruck. Seine Augen und seine Hände waren ständig in Bewegung, jedoch hielt er Karls Blick zeitweise besser stand als Paul. Die Männer begrüßten sich knapp, während Lilli in der Küche hantierte. Kaum hatten sich Paul und Uli hingesetzt, begann Karl sie mit eiskalter Miene und leiser Stimme aufs gröbste zu beleidigen, und als Paul einen halbherzigen Rechtfertigungsversuch startete, hieb Karl ihm mit der Faust mitten ins Gesicht, so daß die Oberlippe aufsprang und blutete.
Ulis Blick flirrte die ganze Zeit im Wohnzimmer umher, doch jetzt fixierte er Karl bemüht fest: »Mal ganz abgesehen von der Sauerei, die Pauls Kunde hier veranstaltet hat, kannst du mir mal sagen, was eigentlich abgeht? Das waren alles Jungs von uns, klar?«
»Halt’s Maul«, knurrte Karl zurück, »paß du lieber auf, daß der Laden läuft. Das Depot wird verlegt, und das Studio kommt hier aus dem Haus raus, ist das klar?«
Paul und Uli nickten.
»Was habt ihr mit der Leiche gemacht?« wollte Karl wissen.
»Ist in der Kühltruhe«, gab Paul mürrisch zur Antwort.
Karl schüttelte fassungslos den Kopf. »Was ist eigentlich genau passiert?«
Paul zuckte mit den Schultern und sah auffordernd zu Lilli.
»Ich kann doch nichts dafür«, begann Lilli weinerlich, »dieser Richter aus der Eifel war das. Kam her, weil wir ihm gesagt hatten, daß Grünkram geliefert wird. Konnte nicht warten. Drei von den Jungs waren schon in die Schweiz gebracht worden, aber der Blonde, der war noch da. Mit dem wollte er ’nen Film machen. Eine Kopie für ihn, die Verwertung für uns. Ich hab ihn nach oben gelassen, hab ihm die Ledermaske gegeben, die Kamera eingestellt und bin dann runter. Nach zwei Stunden hör ich ihn im Bad. Ganz lange. Dann ist er runtergekommen. Ganz blaß war er und hat sich ohne ein Wort abgesetzt. Gezahlt hat er auch nicht. Ich hoch, und da liegt der Grünkram tot rum. Hat ihm den Arsch aufgerissen. ’ne Colaflasche reingeschoben. Der ist einfach verblutet.«
»Gib mir die Adresse von dem Richter«, forderte Karl, »und schafft endlich die Leiche weg!«
»Habt ihr den Scheiß auf Band?« wandte Uli sich an Paul. Der nickte: »Die ganze Sauerei. Der war so in Panik, die blöde Sau, daß er das Tape vergessen hat.«
Uli pfiff durch die Zähne: »’n Snuff! Kacke, das bringt was.«
Karl sah Uli verächtlich an: »Deswegen bin ich hier. Damit du dir das Band nicht unter den Nagel reißt, du dummes Arschloch. Das brauche ich für den Richter.«
Es war schon später Nachmittag, als Christian einen Rückruf von Kommissar Maarten van Klerk aus Amsterdam bekam. Die beiden hatten sich vor Jahren bei gemeinsamen Ermittlungen in Hamburg kennen- und schätzengelernt. Einer Eingebung folgend hatte Christian sich an van Klerk gewandt und ihn gebeten, bei der holländischen Sitte zu recherchieren, ob in oder bei Eindhoven Ermittlungen in Sachen Kinderpornographie liefen. Leider hatte van Klerk nicht viel Konkretes zu berichten, außer daß man tatsächlich Mitglieder einer Kindersex-Mafia in Eindhoven vermutete. Bei einer Razzia in Leiden waren vor anderthalb Jahren jede Menge Filme mit einschlägigem Material gefunden worden, auf denen die Fingerabdrücke eines aktenkundigen Kleinkriminellen namens Klaas Verden aus Eindhoven festgestellt wurden. Verden arbeitete vermutlich als Kurier für die Organisation. Allerdings hatte man ihn nicht befragen können, denn kurz nach der Razzia fand man Verden auf einer Müllkippe. Die holländische Polizei vermutete, daß es in ihren Reihen einen Informanten gab, der der Kindersex-Mafia entscheidende Tips zuspielte, damit die Zeugen aus dem Weg räumen konnte, bevor sie gefährlich wurden.
Van Klerk hatte zudem erfahren, daß Verden neben seinem Leben auch drei säuberlich abgetrennte Finger und ein Ohr fehlten. Christian spürte sofort, wie sein Puls das Tempo anzog. Er berichtete Maarten von ihren vagen Kenntnissen über den russischen Killer Joe und Perlmanns Leichnam. Maarten versprach, gleich eine Mail zu schicken, damit Karen die Fotos von Verdens verstümmelter Leiche mit Perlmanns vergleichen konnte. Christian war sich allerdings auch ohne Fotos und rechtsmedizinische Befunde sicher: Es gab eine Verbindung zwischen Saarbrücken und Eindhoven, und zwar nicht nur durch die Reise Perlmanns. Alles deutete auf eine Organisation hin, die zumindest über die deutsch-holländische Grenze hinweg operierte. Christian würde Maarten im Gegenzug Fotos und sonstiges erkennungsdienstliches Material über die ersten drei Kinderleichen zukommen lassen. Vielleicht vermißte doch jemand in Holland die Jungs, auch wenn die schon längst erfolgten Recherchen bei Interpol das Gegenteil behaupteten.
Christian fiel es sehr schwer, den Abend zu überstehen. Mit sich und seinen Gedanken allein zu sein. Mit den Gedanken an die ermordeten Kinder. Ihr Leid. Ein unschuldiges, am Straßenrand aus der Mitte seiner Familie herausgerissenes Kind, über das plötzlich sinnlose Gewalt hereinbricht. Unbegreifliche Gewalt, ein entsetzlicher Schock des Untergangs der bisher bekannten Welt, der noch viel schlimmer ist als alle körperlichen Schmerzen, die man einem Kind zufügen kann. Unheilbare Wunden. Die vier Kinder, deren Mörder er jagte, waren schon vor ihrem gewaltsamen Tod ihrer Seele beraubt worden. Der Blick des mißbrauchten Jungen in dem Film quälte ihn unablässig. Wenn seinem Sohn im Kindesalter so etwas zugestoßen wäre, hätte er den Vergewaltiger vermutlich blindwütig getötet. Oder noch schlimmer: eiskalt, ohne mit der Wimper zu zucken. Christian war fest davon überzeugt, daß der Mensch nur einen winzigen Schritt von der Bestie in sich entfernt ist, eine hauchdünne Schicht, bestehend aus gesellschaftlichen Konventionen und konsensgetragener Moral, damit die Menschheit sich wenigstens in den Zeiten zwischen den Kriegen nicht haltlos selbst zerfleischt. Christian fragte sich, an welchem Punkt, durch welchen Auslöser der Bestatter diese Schicht durchbrochen hatte.
Er tigerte in seiner Wohnung auf und ab, ging die Fakten wieder und wieder durch, suchte nach neuen Anhaltspunkten, kochte Kaffee und ging alles noch einmal durch. Kinder, Pädophile, Auftragskiller, Hänsel und Gretel, Lilien, Leichentuch, Bibel, Beerdigung … Er mußte warten. Und unterdessen suchte da draußen der Killer sein nächstes Opfer.
Sobald Christian auf einen Fall angesetzt war und Fährte aufgenommen hatte, war er wie ein Spürhund, der die Nase nicht mehr vom Boden lassen wollte. Nur weiter, auf das eine Ziel fokussiert, in der Hoffnung, daß die Spur frischer wird, die Beute schließlich gestellt und erlegt werden kann. Wenn er auf der Jagd war, vergaß Christian sein Privatleben, er vergaß einzukaufen, Wäsche zu waschen und seine Hemden aus der Reinigung abzuholen.
Dann kamen seltene Tage, an denen er merkte, daß er einen Körper besaß. Den gestrigen Tag hatte er zur Hälfte fluchend im Büro verbracht, die andere Hälfte lesend in der Universitätsbibliothek. Nach dem Treffen mit Pete im R&B war er auch noch zu Hause in Bücher vertieft gewesen: Bibel, Bibelinterpretationen, Profiler-Berichte, Fachliteratur über Pädophile aus psychologischer, aus soziologischer, aus kriminalistischer Sicht. Bis spät in die Nacht hinein hatte er gelesen, bis er mal wieder erschöpft auf dem Sofa eingeschlafen war. Heute fühlte er sich elend und schwach. Er hatte, bis auf die paar Kekse, die ihm Yvonne in den Mund geschoben hatte, um ihn vom Fluchen abzuhalten, das Essen vergessen. Als ihn nun der Hunger plötzlich anfiel wie ein wildes Tier, stellte er fest, daß er nichts zu Hause hatte, nicht mal eine klägliche Scheibe Knäckebrot. Seine Lust, nach draußen unter Menschen zu gehen, hielt sich jedoch in Grenzen.
Hungrig und unschlüssig stand Christian an seinem Fenster und tauchte in die sich herabsenkende Abenddämmerung ein. Er überlegte, ob es heute abend für ihn noch etwas Sinnvolles zu tun gab. Van Klerk würde frühestens morgen wieder von sich hören lassen. Bis dahin steckten sie in einer Sackgasse. Das einzige, was sie hatten, war ein Immobilienmakler, der viel in der Gegend rumflog und sich früher mal angeblich mit einem Jungen vergnügt hatte. Ein Vorwurf, der zurückgenommen worden war. Deterings Anwalt, und man konnte davon ausgehen, daß er einen guten hatte, würde sie in der Luft zerreißen wie eine nasse Zeitung, wenn sie seinen Klienten zu einem Gespräch ins Präsidium bitten würden. Christian hatte mit den anderen diskutiert, ob sie Karl Detering ab sofort beschatten sollten. Doch sie würden bei Lage der Dinge keine richterliche Erlaubnis für diese kostenintensive Maßnahme bekommen, und die Ergebnisse einer inoffiziellen Beschattung konnten sie nicht in ihr Beweismaterial mit einfließen lassen. Schlimmer noch, wenn Detering tatsächlich der Bestatter war, und es kam heraus, daß Christian ihn ohne Kenntnis des Staatsanwalts hatte beschatten lassen, würde dies als Verfahrensfehler gelten und einen schuldigen Mörder wieder auf freien Fuß setzen.
Ein lautes Krachen riß Christian aus seinen Gedanken. Das von den Meteorologen angekündigte heftige Sommergewitter brach jählings über Hamburg herein. Dunkle Wolken jagten über den Himmel, der Wind pfiff lautstark ums Haus und peitschte dicke Regentropfen knallend gegen die Fensterscheiben. Blitze zuckten über das violette Firmament, es donnerte fast gleichzeitig. In Sekundenschnelle entwickelte sich ein apokalyptisches Unwetter über der Stadt. Das fast gewalttätige Wetter paßte gut zu Christians Stimmung. Plötzlich verspürte er doch Lust, nach draußen zu gehen, und beschloß, im R&B ein Steak zu essen. Die Vorstellung, daß der Regen seinen vor Ungeduld brennenden Körper kühlen und er klamme Nässe auf der Haut spüren würde, statt sich in düsteren, fiebrigen Kopfgeburten zu verlieren, gefiel ihm noch mehr als die Aussicht auf ein Steak.
Als er seine Stammkneipe betrat, war wie immer am Sonntagabend nicht viel los. Deshalb fiel ihm Anna sofort auf, die auf der Bank mit dem Rücken zum Fenster saß. Kaum war ihm ins Bewußtsein gedrungen, daß er mit freudigem Erschrecken auf sie reagierte, verspürte er auch schon Enttäuschung. Auf dem Tisch standen zwei Getränke, sie war nicht allein. Doch für einen Rückzug war es zu spät. Anna hatte ihn schon entdeckt und winkte ihn entschlossen heran: »Hallo, Sie sind ja klatschnaß. Wollen Sie sich nicht zu uns setzen? Pete kommt gleich wieder; wir feiern seine neue Wohnung.«
Christian blieb unbeholfen vor ihr stehen: »Ich will nicht stören.«
»Das tun Sie nicht.« Anna sah ihm ernst in die Augen: »Im Gegenteil, ich würde mich sehr freuen, wenn Sie uns Gesellschaft leisten.«
Christian zögerte noch, als Pete von der Toilette zurückkam und seinen Chef überrascht begrüßte. Auch Pete forderte Christian unmißverständlich zum Bleiben auf. Also gab Christian nach, hängte seine triefende Jacke über einen Stuhl am leeren Nebentisch und bestellte sich ein Bier. Der Höflichkeit halber fragte er Pete nach der Wohnung. Anna jedoch brach das wenig ergiebige Umzugsthema schnell ab, indem sie Christian provokant direkt nach den Ermittlungen fragte: »Pete will mir nichts über den Bestatter erzählen. Können Sie mir also sagen, was ich davon habe, einen Polizisten zu kennen? Mit Ihnen sind es jetzt sogar schon zwei!«
Christian lächelte: »Die meisten Frauen sind sich einig, daß sie absolut nichts davon haben, einen Polizisten zu kennen. Außer einsamen Wochenenden, schlechter Laune und üblen Geschichten.«
»Wie Sie sehen«, sagte Anna, »sitzen wir am Wochenende gemeinsam hier, und was schlechte Laune und üble Geschichten betrifft – hatten Sie mal was mit einer Psychologin?«
Pete schaltete sich lautstark protestierend ein: »Sag mal, baggerst du meinen Chef an? Wo ich neben dir sitze?«
Anna legte ihm die Hand auf den Unterarm und zwinkerte ihm zu: »Ich versuche doch nur, mich bei ihm einzuschmeicheln, damit er mir was über den Bestatter erzählt.«
»Wieso interessiert Sie das so?« wollte Christian wissen.
Pete lachte: »Erstens ist sie eine Frau, also neugierig. Zweitens ist sie Psychologin. Und drittens hält sie Vorträge über Frauen, die sich in Mörder verlieben.«
Christian hatte, während Pete sprach, seinen Blick keine Sekunde von Anna gelöst. Sie hielt ihm stand.
»Haben Sie denn Erklärungen für dieses Phänomen?« fragte er.
Anna nickte: »Es gibt einige.«
»Warum interessiert Sie ausgerechnet dieses Thema?« bohrte Christian weiter.
»Ich will wissen, wie weit Frauen ihre angestammte Opferrolle treiben können. Und ich will verstehen, warum.«
»Warum?«
Anna begriff im Gegensatz zu Pete sofort, was Christian wissen wollte. Aber Pete begriff immerhin, daß zwischen Anna und Christian etwas stattfand, was ihn ausgrenzte. Leicht beleidigt erhob er sich, um an der Bar noch zwei Bier für Anna und sich zu ordern.
Anna und Christian sahen sich schweigend an. Kurz bevor Pete zum Tisch zurückkam, sagte Anna leise: »Meine Mutter läßt sich von meinem Vater schlagen. Seit ich denken kann. Darum.«
Als Pete sich wieder hinsetzte und mit einem flotten Spruch Fröhlichkeit zu verbreiten suchte, stieg Anna darauf ein. Und Christian verstand, daß Pete nichts von Annas Mutter wußte. Anna teilte nun ein Geheimnis mit ihm.
Christian trank schweigend sein Bier aus und verabschiedete sich. Pete war es offensichtlich recht, Anna jedoch schien seinen Aufbruch ein wenig zu bedauern. Oder hoffte er das nur? Als er wieder im Regen unterwegs war, fiel ihm auf, daß er nichts gegessen hatte.