Detering lenkte seinen Benz die gewundene, sandige Auffahrt hinauf. Von weitem konnte er einen schwachen Lichtschein im Haus sehen. Durch das geöffnete Autofenster roch er die salzige Luft der Nordsee. Detering hielt kurz an, nahm die Waffe aus dem Handschuhfach und überprüfte noch einmal, ob sie geladen war. Er ließ sie in die Innentasche seines Sakkos gleiten und fuhr langsam wieder an. Nur noch wenige Minuten. Dann würde er vor ihm stehen. Nach all den Jahren. Ob er wirklich immer noch genauso aussah wie er? Ganz genauso? Detering war nervös.

Als er ins Haus trat, die Tür hatte einen Spaltbreit aufgestanden, roch er das Kaminfeuer und hörte das Knacken des Holzes. Er ging zur Bibliothek. Sein Bruder saß im Ledersessel und las in der Bibel. Als Detering eintrat, erhob er sich und wandte sich zu ihm. Sie standen sich gegenüber, sahen sich in die Augen. Die gleichen Augen.

»Ich verstehe nur Bahnhof«, meinte Eberhard.

Seufzend holte Anna weiter aus: »Die Deterings hatten zwei Kinder, Zwillinge. Karl und Wilhelm. Wilhelm stirbt angeblich mit sechs Jahren, vermutlich aber haben sie ihn weggegeben, möglicherweise verkauft. Carlos sagte mir, sie hätten Willi nach Holland gebracht. Offiziell war er gestorben. Das Kind, das bei den Eltern blieb, war Karl. Die Familie zieht nach Norddeutschland, nach Moordorf, wo sie keiner kennt, wo sie keiner wegen des angeblichen Todes von Wilhelm bemitleidet. In Moordorf kennen alle nur den kleinen Karl und wissen nichts von einem Wilhelm. Dort hatte Karl dann einen Teddy, der hieß Willi, vermutlich in Erinnerung an seinen Zwillingsbruder. Bis 1988 läuft alles, zumindest von außen betrachtet, ganz normal, besser als normal. Eine mustergültige Familie. Doch Karl wird von seinem Vater mißbraucht. Permanent. Vermutlich läuft der Mißbrauch schon viele Jahre, ich nehme an, daß auch der kleine Wilhelm früher mißbraucht wurde. Zuerst von seinen Eltern, später dann auch von den Leuten, die ihn mit nach Holland nahmen. Denn im Alter von achtzehn, der stille Karl in Moordorf hat gerade das Abitur gemacht und will aufgrund der Manipulationen seiner in missionarischen religiösen Wahn abgedrifteten Mutter Priester werden, da taucht Wilhelm auf und rächt sich an seinen Eltern, die ihn mißbraucht und weggegeben haben …«

»In eine andere Mißbrauchssituation hinein«, ergänzte Pete, der langsam begriff, worauf Anna hinauswollte.

»Jedenfalls kommt er zurück und steckt sein Elternhaus in Brand. Karl sieht seinen Zwillingsbruder dabei. Und nutzt die Situation, um aus seinem eigenen Leben zu verschwinden. Ein Leben, das ihn kaputtgemacht hat. Wilhelm hingegen, der Karl nicht gesehen hat, denkt wahrscheinlich, die dritte Leiche, die sie aus dem brennenden Haus rausholen, ist sein Bruder Karl. Er hält ihn für tot. Jedenfalls nimmt Wilhelm nun Karls Position ein.«

»Aber warum?« fragte Christian.

»Karl hatte nach außen hin ein akzeptables Leben. Wir haben keine Ahnung, was Wilhelm in Holland hinter sich gelassen hat. Karl hatte gerade Abi gemacht. Ein guter Startschuß in eine selbstbestimmte Zukunft. Er würde das Vermögen seiner Eltern erben, falls keiner die Brandstiftung nachweisen könnte. Und so ist es ja auch gekommen. Wilhelm wurde Karl, studierte ein wenig rum und zog dann das Immobiliengeschäft seines Vaters groß auf.«

»Und den Kinderhandel hat er gleich mit übernommen«, mutmaßte Christian.

»Falls der Vater schon professionell in dem Gewerbe tätig war«, nickte Anna. »Aber meiner Meinung nach deutet alles darauf hin.«

»Hübsche These, aber gibt es Beweise?« fragte Pete.

»Nach dem Brand taucht ein völlig veränderter Karl auf«, begann Anna. »Er hat sich die Haare abrasiert. Die haben das damals auf den Schock zurückgeführt, aber meiner Meinung nach ist Wilhelm seinem Bruder gar nicht begegnet. Nicht vor dem Brand, nicht nach dem Brand. Da hielt er ihn für tot. Wilhelm wußte nicht, wie der echte Karl die Haare trug. Länger als er womöglich, und dann wäre Wilhelm sofort aufgeflogen. Also hat er sich für eine radikale, aber kluge Lösung entschieden. Alles ab! Dann die Amnesie! Karl hatte nach dem Brand angeblich alle möglichen Sachen vergessen, vor allem aus den letzten zehn Jahren. Viele Fakten über das Leben der Familie Detering in den letzten Jahren konnte Wilhelm geschickt in Erfahrung bringen. Seine Lücken deklarierte er einfach als Amnesie. Zum Beispiel konnte er sich nicht erinnern, daß er einmal vom Baum gefallen war. Oder wie sein geliebter Teddy hieß. Klar, Wilhelm kannte den Teddy überhaupt nicht! Aber Carlos. Als er gestern abend bei mir war, erzählte er von Willi. Es ging ein wenig durcheinander, deswegen dachte ich, er sei komplett neben der Spur. Aber ich hab’s nur nicht gleich begriffen. Er redete nicht von sich in der dritten Person, sondern von seinem Bruder Wilhelm. Und seinem Teddy, der Willi hieß.«

»Als du sie verbrannt hast, war ich glücklich. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich glücklich.«

Karl legte einen Scheit Holz in den Kamin und starrte lächelnd in die auflodernden Flammen.

»Ich auch. Du hast mich gesehen, oder?«

»Ja. Es war ein Riesenschock. Das Feuer, der Rauch, die ganzen Leute, das Geschrei, die Lichter … Und dann sah ich dich. Du standst an der Kirchenmauer, drüben bei den Petzolds. Ich konnte es zuerst gar nicht fassen. Du warst da, einfach so. Wieder da. In meinem Leben. Was für eine Freude! Und die Alten brannten lichterloh! Was für ein Fest! Ich wollte zu dir hin, dich umarmen und festhalten, aber ich wollte auch in Ruhe das Feuer sehen, wollte sehen, wie das Haus abbrennt bis auf die Grundmauern. Ich wollte sie verbrennen sehen, ich wollte ihre Schreie hören, ihr versengtes Fleisch riechen, und als ich dann wieder zu dir sah, begriff ich. Du warst genauso zufrieden wie ich, genauso glücklich. Und dann warst du ich, so wie früher, und es war, als hätte ich das Feuer gelegt und nicht du, und du würdest mir zulächeln und auf ihre Schreie warten.«

»Warum hast du mich hängenlassen und bist verschwunden? Ich Idiot dachte, ich hätte dich mit verbrannt!«

»Ich habe dich ins Beet von der Petzold kotzen sehen, als sie den Typen rausgeholt haben. Der war siebzehn, ein heroinsüchtiger Stricher, mit dem der Alte sich an dem Abend vergnügt hatte. Ich hatte mich verzogen, war die halbe Nacht rumgelaufen. Als sie dann den Jungen rausbrachten und du gekotzt hast, war mir klar, daß du denkst, ich wäre auch tot. Und plötzlich war das ein großartiger Gedanke. Tot sein. Eine Riesenchance! Das war, als ginge eine Tür vor mir auf. Und dahinter war nur Licht, weißes Licht. Da bin ich durch die Tür gegangen. Eine Zukunft, verstehst du?«

Er lächelte: »Sehr gut. Moordorf war plötzlich meine Zukunft. Wo bist du dann hin?«

»Nach Spanien.«

»Wie war’s in Spanien?«

»Ganz gut. Bis auf … Wie war’s in Holland?«

»Wie zu Hause. Ganz genauso.«

»Und wer von beiden hat deiner Meinung nach die Kinder auf dem Gewissen?« fragte Christian.

»Ich fürchte Carlos. Er will ihre Seelen retten, weil sie durch den Mißbrauch beschmutzt sind.«

Pete nickte: »Das paßt zum Profil. Die Waschungen. Die rituellen Bestattungen.«

»Und er will Willi bestrafen«, fuhr Anna fort, »denn er weiß, daß Wilhelm die Kinder mißbraucht. Oder mißbrauchen lässt. Und mich hat er dazu benutzt, euch auf Deterings Spur zu setzen.«

»Wieso dich?« fragte Eberhard.

Volker trat ein und wollte etwas sagen, doch Christian gebot ihm mit einer Geste zu schweigen. Volker lehnte sich gegen die Wand und hörte zu. Er war kalkweiß im Gesicht, denn Yvonne hatte ihm draußen im Flur unter Tränen von Nicki und Scout erzählt.

»Er muß mich mit Pete gesehen haben. Und er kannte euch alle aus der Presse. Ich war dicht dran an der SOKO, dachte er, aber nicht so dicht, daß seine Manipulation auffallen würde.«

»Wahrscheinlich – vorausgesetzt, das stimmt alles – hat Carlos sein Haar absichtlich an der letzten Leiche zurückgelassen. Es ist von ihm, aber wir haben es als Beweis gegen seinen Bruder gewertet. Identischer genetischer Fingerabdruck«, sinnierte Pete.

Christian fuhr fort: »Und dem sauberen Makler ist in dem Moment, als Anna ihn fälschlicherweise als ihren Patienten identifiziert hat, klargeworden, daß sein Zwillingsbruder 1988 nicht mit verbrannt ist, sondern noch lebt. Das hat ihn so geschockt.«

Pete wandte sich an Anna: »Was hat Carlos jetzt vor?«

»Er will Wilhelm umbringen. Sein ursprünglicher Plan war wohl, seinen Bruder lebenslänglich hinter Gitter zu bringen und somit für alle Zukunft die Kinder vor ihm zu schützen. Er hat ihn nicht töten wollen, ich schätze, er hat geglaubt, daß er es nicht fertigbringt. Immerhin sind sie Zwillingsbrüder. Aber jetzt, wo er gesehen hat, daß dieser Plan nicht aufgeht – ihr habt Wilhelm, also den Makler, wieder freigelassen – hat er das Gefühl, er muß das Jüngste Gericht selbst in die Hand nehmen.«

»Während der Makler mit dem gleichen Plan unterwegs ist«, ergänzte Christian. »Er hat Joe zu dir geschickt, um Carlos zu finden. Wenn er ihn gefunden hat, wird er ihn umbringen und ihm alles in die Schuhe schieben: die Morde an den Kindern zu Recht, den Kinderhandel vermutlich auch, und die Morde an Scout und Nicki sowieso. Und er ist aus dem Schneider und wäscht seine schmutzigen Hände in Unschuld.«

»Wir müssen sie finden, zumindest einen von beiden«, sagte Eberhard.

»Detering besitzt ein Wochenendhaus auf Amrum. Es ist auf seinen Schwager eingetragen. Vielleicht sollten wir da mal nachsehen. Seine Frau meinte jedenfalls, daß er sich oft dahin zurückzieht, wenn sie Streit haben«, bemerkte Volker.

Christian erhob sich: »Ich brauche einen Hubschrauber. Sofort.«

»Ich will mitkommen«, sagte Anna sofort. »Wenn Carlos da ist … Ich kann mit ihm reden.«

Christian sah sie prüfend an: »Sei mir nicht böse, aber du siehst furchtbar aus. Nach allem, was … Schaffst du das?«

Anna holte ein Mal tief Luft und nickte entschlossen. Christian schaute zu Pete. »Es schadet nicht, wenn du einen Psychologen dabeihast«, meinte Pete. »Und Anna ist in jedem Fall die bessere Wahl.« Er hatte ganz offensichtlich während seines kleinen Aufenthalts im Gefängnis die Wegstrecke von Arroganz zu Demut zurückgelegt.

Karl und Wilhelm saßen am Kamin in schweren Clubsesseln und tranken alten Bordeaux, ganz so, als wäre ihr Familienzusammentreffen eine leise, innige Freude. Die Vorhänge waren zugezogen, das gedämpfte Licht einer Kerze und das Knistern des Kaminfeuers schufen eine behagliche Atmosphäre.

»Wieso bist du wieder in Deutschland aufgetaucht? Nach so vielen Jahren.«

Carlos schwenkte sein Glas und betrachtete die rubinrote Farbe des Weins und die trägen Schlieren an der Wand des Glases.

»Es ist was passiert in Spanien. Etwas, das nie hätte passieren dürfen.«

Carlos trank schweigend. Sein Bruder merkte, wie schwer es ihm fiel, darüber zu sprechen. Er drängte ihn nicht, gab ihm die Zeit, die er brauchte, um aufzuräumen. Denn deswegen waren sie hier. Beide. Sie wollten aufräumen.

»Ich habe als Gärtner in einem Kloster gearbeitet. Bei Nonnen. Ich wollte keine Männer mehr sehen. Aber dann … Da war ein Junge … er war knapp vierzehn … Er wurde mir als Hilfe zugewiesen. Ich wollte das nicht. Wollte keine Hilfe. Keinen Jungen in meiner Nähe. Wollte … Ich wollte nicht, aber …«

Er blickte von seinem Glas auf und sah seinem Bruder verzweifelt in die Augen: »Hast du dir jemals vorstellen können, daß du so wirst wie unser Alter?«

Wilhelm schwieg.

Carlos hatte den Blick gesenkt: »Ich konnte nichts dagegen tun … Ich habe mich selbst gehaßt … aber er war so schön … und so rein. Er hieß Jesús, kannst du dir das vorstellen? Ich habe ihn beschmutzt. Und dann hat er sich umgebracht.« Carlos machte eine kleine Pause, bevor er weitersprach. »Selbstmörder kommen in die Hölle. Und ich bin schuldig, ich habe mich an ihm versündigt.«

»Hör mir bloß auf mit diesem religiösen Mist. Hast du das von unserer Mutter? Die soll ja in ihren letzten Jahren mehr Zeit in der Kirche verbracht haben als in der Küche! Bigotte Schlampe!«

»Sag nichts gegen sie!« fuhr Carlos auf. »Sie hat mit mir gebetet. Für meine Seele.«

»Ach, du Scheiße! Der Alte hat uns gefickt, sie hat gefilmt!«

»Nicht mehr, nachdem du weg warst. Sie ist nie wieder mit in den Keller gegangen.«

»Die arme Frau«, höhnte sein Bruder, »hat sie das schlechte Gewissen gepackt, nachdem sie ihren Sohn für ein paar Silberlinge nach Eindhoven verscherbelte? Fünftausend Mark haben unsere Alten für mich gekriegt, fünftausend! Jedesmal, wenn ich mich in Holland dann gegen einen Kunden gewehrt habe, wenn ich ihn angespuckt und getreten habe, wurde ich mit einem Ledergürtel verprügelt, bis mir die Schwarte krachte: Die fünftausend bist du nicht wert, du Scheißling, haben sie gesagt! Paul und Lilli hießen sie übrigens, meine Pflegeeltern. Klingt irgendwie nett, oder? Und gepflegt haben die mich, das ahnst du nicht.«

»Glaubst du, mein Leben war besser?«

»Gut genug, um das Abi zu machen. Ich bin von jeder Schule geflogen. Holländisch habe ich schnell gelernt, kein Problem, ich bin ja nicht blöd. Nein, ich war den liberalen Holländern zu gewalttätig.« Er lachte spöttisch auf. »Einmal habe ich bei einer Klassenfahrt so ’ner blöden Ziege die Hand ins Lagerfeuer gehalten, bis sie roch wie ein Steak. Damals war ich neun.«

»Warum hast du das getan?« fragte Carlos angewidert.

»Warum nicht? Ich wollte wissen, wie laut sie schreien kann. Und was ich dabei fühle.« Er machte eine Pause. »Sie schrie laut. Und ich fühlte nichts.«

Die Rotorblätter des Hubschraubers durchschnitten die kalte Nordseeluft.

»Wie lange dauert das denn noch?« fragte Christian ungeduldig den Piloten.

»’ne Viertelstunde ungefähr.«

Christians Handy klingelte. Es war Pete, der sehr aufgeregt schien: »Daniel und ich haben gerade die DVD aus Deterings Langenhorner Tresor gesichtet. Großes Kino, sag ich dir! Da mußt du echt kotzen! Auftritt: der nette Richter aus der Eifel, dieser Professor Doktor Gernhardt, dieses kranke Schwein! Er schlitzt dem Jungen, den sie in Holland gefunden haben, den Darm mit einer kaputten Colaflasche auf! Daniel schickt gerade eine Kopie zu den Kollegen nach Eindhoven rüber. Der Regisseur war etwas unvorsichtig. Man sieht in einem Regal im Hintergrund ein Kinderbuch mit einer Karteinummer. Vielleicht in einer öffentlichen Bücherei ausgeliehen. So finden die das Haus!«

Christian schrie ins Telefon, um den Lärm des Hubschraubers zu übertönen: »Und ihr schnappt euch den Richter!«

Carlos öffnete die zweite Flasche Wein, ganz so, als sei er der Gastgeber. Mit eleganter Geste goß er die Gläser voll.

»Die Nonnen in Spanien haben an Feiertagen reichlich Rioja genossen«, lächelte er, »von erster Qualität, wie deine Vorräte hier.«

»Wie bist du ausgerechnet nach Spanien geraten? In ein Kloster! Das ist doch, als würde man sich selbst bei lebendigem Leibe begraben …«

»Ich hatte Fotos gesehen von der Extremadura. Ein karges Land, Steine, Staub. Erschien mir passend. Das mit dem Kloster war perfekt. Die Welt, das Leben der Menschen blieb draußen, hinter den Mauern. Das Leben … Mein Gott«, lachte Carlos bitter auf, »vom Leben will ich nichts. Das Leben ist nur Scheißefressen und Blutspucken. Als du das Haus angezündet hast, da war ein kurzer Moment, der in mir aufflackerte, gleichzeitig mit den hohen Flammen im Dachstuhl, da dachte ich, ich könnte ein Leben haben. Weit weg, alles vergessen, neu anfangen. Was für ein Schwachsinn! Es gibt kein Vergessen, und schon gar kein Leben. Das war in dem Moment vorbei, als unser Alter uns zum ersten Mal nachts aus dem Bett geholt hat.«

Wilhelm sah seinen Bruder verächtlich an: »Du hast schon als Kind immer geheult. Bring dich doch um, dann hast du’s hinter dir.«

»Selbstmord kommt nicht in Frage. Das ist Sünde.«

Wilhelm hob das Glas und prostete seinem Bruder zu: »Und was ist mit Mord? Steht nicht geschrieben: Du sollst nicht töten?«

Carlos erhob sein Glas nicht: »Ich habe nicht gemordet.«

»Und die Kinder? Das warst doch du!«

Über Carlos’ Augen senkte sich ein dunkler Schleier, er blickte gedankenverloren auf die Tischplatte, als würde er die Maserung des Walnußholzes betrachten: »Die waren schon tot. Tote Seelen, die Körper nur noch leere Hüllen. Mißbrauchtes, geschundenes Fleisch. Ich habe sie befreit. Gemordet hast du sie. Du und deine Kunden.«

Wilhelm stellte gleichgültig sein Glas ab: »Wie hast du es rausbekommen?«

Ganz langsam hob Carlos den Kopf und sagte kalt: »Als das in Spanien passiert ist, das mit Jesús, da war ich so verzweifelt, daß ich mich wirklich fast umgebracht hätte. Aber dann dachte ich an dich. Was wohl aus dir geworden war? Vielleicht hattest du es ja geschafft, ein Leben zu leben. Vielleicht konntest du mich retten. Ich wollte mit dir reden, wollte deine Hilfe. Ich kam nach Deutschland, habe dich gesucht, gefunden. Ich habe dich beobachtet, war vor deinem Haus, sah, daß du eine Frau hast. Ich war froh. Wollte mich sofort in deine Arme stürzen, wie früher, weißt du noch? Aber du bist in dein Auto gestiegen und weggefahren. Ich folgte dir. Bis hierher. Du hast ein paar Typen getroffen. Und zwei kleine Jungs. Ich habe gesehen, was du gemacht hast … Du hast sie gefilmt!«

»Das war vor einem knappen Jahr!« Wilhelm war überrascht. »Seitdem war ich nicht mehr hier. Nicht mit Kunden!«

Carlos schien plötzlich sehr müde: »Ich konnte es zuerst nicht glauben. Aber dann habe ich dich beobachtet. Die ganze Zeit. All deine Reisen. Am Anfang hatte ich Schwierigkeiten, hinterherzukommen – immer wenn du das Flugzeug genommen hast, stand ich dumm in der Abfertigungshalle rum. Aber mit der Zeit lernte ich deine Routen kennen. Deine Kunden. Deine Opfer. All die Kinder. So klein noch.«

»Hör bloß auf mit deinem Moralgesabber«, stieß Wilhelm aggressiv hervor. »Was hätte denn sonst aus mir werden sollen? Meine verfickten Pflegeeltern in Holland sind dick im Geschäft. Ich kenne nichts anderes als ficken und gefickt werden! Auf dein Abi hab ich geschissen. Okay, ich hab’s versucht. Studium und Perspektive und der ganze Schwachsinn. Aber es ging nicht. Du sagst doch selbst, wir hatten keine Chance auf ein normales Leben. Also hab ich den Immobilienladen vom Alten weitergeführt. Ist ’ne Supertarnung für die wirklich guten Geschäfte mit dem Grünzeug.«

Carlos begann zu zittern: »Weißt du, was du bist? Du bist der Teufel.« Er flüsterte es mit brüchiger Stimme, mit dem ganzen Entsetzen, das im Laufe des letzten Jahres, im Laufe seines Lebens über ihn gekommen war.

Mißtrauisch verfolgte Wilhelm nun jede Bewegung Karls. »Und du? Ein komplett Irrer! Jammerst über das schlimme Schicksal der Kinder, aber erwürgst das Frischfleisch reihenweise.«

»Ich rette ihre Seelen. Solange sie noch nicht erwachsen sind. Und Monster werden, wie wir es geworden sind.«

Wilhelm lachte bitter auf: »Und mir schiebst du’s in die Schuhe!«

Beide Brüder saßen inzwischen aufrecht in ihren Sesseln, beide in höchster Anspannung. Ihre Körper schwitzten Adrenalin aus. Sie wußten, daß es gleich passieren würde, daß es Abschiednehmen hieß. Deswegen waren sie hier. Im Hintergrund war das Geräusch eines herannahenden Hubschraubers zu hören, doch sie achteten nicht darauf.

»Das wollte ich. Damit die Bullen dich kriegen, und das nicht nur für ein paar läppische Jahre. Du solltest im Gefängnis verrecken!«

Wilhelm goß sich und Karl erneut Wein nach: »Du bist ein armseliger Feigling, sonst nichts. Wieso hast du mich nicht einfach abgeknallt, wenn du so erpicht darauf bist, die Kinderlein vor mir zu schützen?«

»Ich dachte, ich kann es nicht. Du bist mein Bruder. Du bist mein Zwilling. Du bist ich.«

»Das ist fast dreißig Jahre her. Lange vorbei. Laß uns noch einmal auf die alten Zeiten trinken.«

Karl nahm das Glas, das Wilhelm ihm reichte. Die beiden erhoben sich aus ihren Sesseln, stießen an, stumm und schwer, als wöge der Wein Zentner, und tranken. Karl und Wilhelm standen sich gegenüber, sahen sich in die Augen und verabschiedeten sich voneinander, jetzt, lange Jahre nach der Nacht, in der Willi verschwand. Sie mußten es tun, mußten Abschied davon nehmen, daß sie Brüder waren, daß sie alles geteilt hatten, das ganze Leid, die Angst vor nächtlichen Schritten auf der Treppe, den Schrecken fremder Männer, fremder Hände, die sie befingerten, das Unfaßbare, daß ihre Eltern sie auslieferten statt zu schützen, das einzig Tröstliche, daß sie eins gewesen waren und nicht allein. Bis sie auseinandergerissen wurden. Geteilt wurden, um getrennt zu leiden, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr.

Als Karl den Kopf nach hinten legte, um sein Glas auszutrinken, zog Wilhelm die Waffe aus seinem Sakko hervor.

»Leider ist unser Gespräch jetzt beendet, Karli. Tut mir leid, daß alles so gekommen ist, aber du hättest dich nicht einmischen sollen.«

Draußen pirschten sich Christian, Eberhard und Volker an das Haus heran. Anna wartete, auf Christians Geheiß, am Rande des einige Hektar großen Weideland-Grundstücks. Sie stand neben dem Piloten am Hubschrauber und zitterte, obwohl es eine milde Nacht war. Nervös trat sie von einem Bein aufs andere. Es paßte ihr nicht, hier zurückzubleiben. Es paßte ihr ganz und gar nicht. Sie wollte nicht allein sein auf unbekanntem Territorium, allein mit einem fremden Mann. Anna wußte, daß die Übelkeit, die in ihr aufstieg, Symptom des Traumas war, das sie am Morgen durch Joes Besuch erlebt hatte, und sie kämpfte dagegen an. Sie zwang sich, ruhig und tief zu atmen.

Eberhard und Volker schlichen mit etwas Abstand hinter Christian her und orientierten sich dann nach vorne zum Hauseingang. Christian war inzwischen an der rückwärtigen Hausmauer angekommen und schob sich mit entsicherter Waffe im Schatten des Reetdachs an ein bodentiefes Fenster vor, durch dessen geschlossene Vorhänge er das Glimmen des Kaminfeuers mehr erahnte als sah.

Plötzlich zerriß ein Schuß die nächtliche Stille. Dann noch einer. Christian sah Mündungsfeuer durch den Vorhang aufblitzen. Er zögerte keine Sekunde und sprang, seinen Kopf mit beiden Armen schützend, durch die Scheibe. Volker und Eberhard verschafften sich im gleichen Moment gewaltsam durch die Haustür Zutritt.

Anna, die etwa achthundert Meter weit weg stand, zuckte bei den Schüssen und dem selbst über diese Entfernung deutlich hörbaren Bersten des Glases erschrocken zusammen und rannte los, mit langen Schritten über die in völliger Dunkelheit liegende Wiese voller Maulwurfshügel.

Christian stand im spärlich beleuchteten Wohnzimmer, die Waffe auf eine Person vor dem Kamin gerichtet. Zwei Sekunden später waren auch Volker und Eberhard da.

Auf dem Teppich lag einer der beiden Brüder, neben ihm eine Waffe. Ein dünner Streifen Blut lief seinen Mundwinkel herab, die Augen waren weit offen und blickten im Tod noch überrascht. Er war mitten ins Herz getroffen. Der andere stand etwa zwei Meter vor ihm, in der rechten Hand eine Pistole, am linken Oberarm eine sprudelnde Schußwunde.

Langsam wandte er sich zu Christian und wies auf die Leiche: »Darf ich vorstellen? Mein Zwillingsbruder, Wilhelm Detering.«

Anna kam, atemlos von ihrem Lauf über das Grundstück, zur Wohnzimmertür herein. Sie sah die Leiche und blickte fragend zu Christian. Der hob ratlos die Schultern. Er hatte keine Ahnung, wer da nun tot vor ihm lag. War es wirklich Wilhelm? Oder war es Karl? Während Volker dem lebenden der beiden Brüder Handschellen anlegte, beugte sich Anna über den toten. Sie zog ihm das linke Hosenbein hoch und fand, was sie suchte: eine Narbe, die von einem Sturz in eine Glasscherbe herrührte, wie Frau Petzold erzählt hatte.

»Das hier ist Carlos«, sagte sie leise zu Christian. Fast zärtlich legte sie ihre Hand auf Karls Gesicht und schloß ihm die Augen.