Samstag, 2. Juli

Am nächsten Morgen war Christian schon um sieben Uhr im Büro. Er hatte Anna am Vorabend unerlaubt Einblick in Deterings Akte gewährt, damit sie eventuell noch zusätzliche Anhaltspunkte fand, die eindeutig bestätigten, daß Detering ihr Patient war. Anna hatte daran jedoch keine Zweifel, und Christian mußte sich eingestehen, daß er sie aus rein persönlichen Gründen aufgehalten hatte: Er wollte sie in seiner Nähe behalten, am liebsten die ganze Nacht. Doch Anna war völlig erschöpft, und er brachte sie schließlich nach Hause. Sie wollte schlafen, nur schlafen. Offensichtlich war ihr das aber kaum gelungen, denn am Morgen fand er auf seinem Computer im Büro eine Mail von ihr, die sie um halb vier in der Nacht abgeschickt hatte:

Lieber Christian,

während wir im Präsidium waren, bekam ich eine neue Nachricht. Sie lautete:

Und als ich das fünfte Siegel öffnete, sah ich unter dem Altar die Seelen derer, die hingeschlachtet worden waren um des Wortes Gottes und des Zeugnisses willen, das sie festhielten. Und sie schrien mit lauter Stimme: ›Wie lange, Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, (soll es noch dauern), bis du Gericht hältst und unser Blut rächst an den Bewohnern der Erde?‹ Da wurde einem jeden von ihnen ein weißes Gewand gegeben, und es wurde ihnen gesagt, sie sollten sich noch eine kurze Zeit gedulden, bis auch ihre Mitknechte vollzählig seien und ihre Brüder, die noch getötet werden sollten wie sie.

Ich habe die Stelle in der Bibel gefunden (konnte eh nicht einschlafen). Es ist aus der Offenbarung, Kapitel 6, Vers 9. Was hältst Du davon? »Offenbart« er sich so deutlich, damit er gefaßt wird? Oder bedeutet das, daß er weitermachen will? Kannst du ihn stoppen?

Alles Liebe, Anna

Christian war nicht sicher, wie er das Verhalten dieses Menschen zu interpretieren hatte. Jedenfalls hoffte er, daß das »geöffnete fünfte Siegel« nicht bedeutete, daß irgendwo in Deutschland schon die fünfte Kinderleiche lag. Jetzt galt es, die weitere Vorgehensweise genau abzuwägen. Noch immer hatten sie keinen festen Beweis in der Hand. Die ungewöhnliche Schrift, in der die Psalmen abgefaßt waren, taugte als Indiz. Aber wenn sie Detering zu einem Gespräch baten, hatten sie im Grunde nur vage Chancen: Entweder er gestand gleich, oder er machte einen verhängnisvollen Fehler, etwa mit getürkten Alibis für die Tatzeiten. Konnten sie ihn aber nicht festnageln, wäre er gewarnt und würde ihnen eventuell durch die Lappen gehen. Wollten sie das verhindern, indem sie nicht mit ihm sprachen, konnte es sein, daß sie ihn wochenlang beobachteten, ohne einen Schritt weiterzukommen. Christian tendierte dazu, auf den Busch zu klopfen, ihn nervös zu machen. Er ertrug die Vorstellung nicht, tatenlos abzuwarten. Soviel wie der Typ durch die Gegend flog, war eine lückenlose Beobachtung ohnehin schwer zu gewährleisten. Wenn Detering es auch nur ein einziges Mal schaffen würde, ein Flugzeug zu besteigen und Scout und Nicki abzuhängen, konnte kurz darauf das nächste Kind irgendwo aufgebahrt sein. Christians Entschluß stand fest: Dieses Risiko durften sie nicht eingehen.

Er sah auf die Uhr. Er hatte nicht vor, seinen Kollegen zu sagen, woher er die neuen Informationen hatte. Anna sollte keine Schwierigkeiten bekommen. Pete jedoch war ein Problem, er würde sich nach der Begegnung gestern abend im Luxor an zwei Fingern abzählen können, wer der Therapeut war, der die Informationen über Detering weitergegeben hatte. Allerdings konnte Christian davon ausgehen, daß Pete dichthielt, um Annas willen.

Christian öffnete die Tür zum Toilettenraum und stellte sich ans Pissoir. Kaum hatte er zu pinkeln begonnen, kam Pete herein, zögerte kurz, stellte sich dann jedoch genau neben ihn. Christian nickte knapp zur Begrüßung.

»Und?« sagte Pete.

»Was und?«

Pete öffnete seine Hose und fragte beiläufig: »Wollte sie von dir auch geschlagen werden?«

Christian blickte Pete kurz entgeistert an, bis er verstand. Kalt kniff er die Augen zusammen, knöpfte seine Hose zu, trat ganz dicht an Pete heran, packte ihn am Kragen und zischte ihm ins Ohr: »Halt die Luft an, du Lutscher! Hast du mich verstanden?«

Pete steckte seinen Schwanz zurück in die Hose und drehte sich um. Die beiden standen Nasenspitze an Nasenspitze.

»Sorry«, entschuldigte sich Pete, »ich wollte nicht …«

»Was du willst, da scheißt der Hund drauf«, knurrte Christian und ging zu den Waschbecken. Pete folgte ihm: »Schon klar.« Auch er wusch sich die Hände.

Etwas beherrschter fuhr Christian fort: »Zwischen Anna und mir läuft nichts.« Und das würde vorerst auch so bleiben, denn ein Verhältnis mit einer Zeugin würde seine Ermittlungssituation nicht gerade verbessern.

»Selbst wenn, hätte ich dir nicht ins Revier gepinkelt. Das hast du selbst versaut«, fügte Christian hinzu. »Und jetzt noch was: Ich werde euch gleich ein paar Neuigkeiten über den Bestatter erzählen. Und du wirst Annas Namen mit keiner Silbe erwähnen. Wir werden beide fein säuberlich Berufliches und Privates trennen, klar?!«

Christian ging hinaus. Pete sah in den Spiegel und verzog das Gesicht, wütend auf sich selbst. Er trat gegen die Wand, von der ein Stück Putz abblätterte. Was hatte ihn bloß zu dieser erbärmlichen Vorstellung eines beleidigten Liebhabers getrieben? Und was hatten die Neuigkeiten über den Bestatter mit Anna zu tun?

Volker kam sofort darauf. Nachdem Christian die versammelte Mannschaft – selbst Karen war an ihrem freien Samstag zur Sitzung gekommen – über die an ihn weitergegebenen Erkenntnisse eines Hamburger Psychotherapeuten informiert hatte, wandte sich Volker lächelnd an Pete: »Schätze, da haben uns deine guten Beziehungen zu einer gewissen Dame dieses Berufsstandes geholfen. Wie hieß sie noch? Anna?«

Christian sah sofort ein, wie sinnlos sein Impuls war, Volker und die anderen zu belügen. Zumal er Anna gerne zu dem ersten Verhör Deterings hinter die verspiegelte Glasscheibe bitten wollte, damit sie ihn auch ganz sicher identifizierte.

»Okay«, nickte er Volker zu, »du hast recht. Wir wollen sie aber möglichst raushalten, damit sie keinen Ärger mit ihrer Kammer bekommt. Nichts geht an die oberen Etagen, und schon gar nichts an die Presse.«

Alle nickten. Nur Karen blickte etwas kritisch.

»Irgendwelche Einwände?« fragte Christian sie.

Karen sah von Pete zu Christian. »Wie wahrscheinlich ist es, daß der Bestatter rein zufällig bei der Psychologin in Therapie geht, die was mit einem Beamten hat, der hinter ihm her ist?«

»Zwischen mir und Anna ist es vorbei«, meinte Pete mit einem Seitenblick auf Christian zu Karen, »aber du hast recht.«

Christian fluchte leise. Daß er daran noch nicht gedacht hatte!

Zwei Stunden später betraten Volker und Christian das protzige Immobilienbüro in der Rothenbaumchaussee. Sie mußten nur kurz warten und konnten dabei Deterings attraktive Vorzimmerdame beim Studium eines Diätbuches und dem gleichzeitigen Verzehr von winzigen Ananasstücken beobachten. Als auf der Gegensprechanlange ein roter Knopf blinkte, wischte sie sich sorgsam die Finger, obwohl sie die Ananasscheibchen mittels eines Zahnstochers verzehrt hatte, und führte Christian und Volker mit ehrfurchtgebietend aufrechter Haltung zu ihrem Chef. Detering erhob sich, ging um den Schreibtisch herum auf die beiden zu und bot ihnen mit jovialer Geste die Hand. Christian nahm sie nach einem kurzen Zögern. Es war ihm zuwider, diese Hand anzufassen, die mit großer Wahrscheinlichkeit gewaltsam das Leben aus Kindern herauspreßte. Detering bemerkte dieses Zögern, doch er blieb freundlich und zuvorkommend.

»Wie schön, daß nicht nur Makler samstags arbeiten müssen. Was kann ich für Sie tun, meine Herren? Bin ich zu schnell gefahren?« Seine Stimme war einschmeichelnd. »Nehmen Sie doch Platz.«

Christian und Volker setzten sich auf zwei Corbusier-Stühle, die Deterings Schreibtisch gegenüberstanden. Auch Detering setzte sich wieder. Das joviale Grinsen wandelte sich in unverhohlene Neugier.

»Wir sind von der Mordkommission«, begann Christian und beobachtete Deterings Reaktion aufs genaueste. Es kam keine. Volker sah sich scheinbar desinteressiert im Raum um, doch Christian wußte, daß er die leisesten Stimmungsschwankungen seines Gegenübers so sensibel verzeichnete wie ein Seismograph verborgenes Zittern im Erdinnern.

Detering blieb vollkommen ungerührt, er tat sogar interessiert: »Sie kommen mir so bekannt … ja, natürlich, ich habe Sie doch kürzlich im Fernsehen gesehen. Sie sind hinter dem Bestatter her!«

Christian nickte. Detering lehnte sich zurück: »Stehe ich unter Verdacht? Oder habe ich einem Verdächtigen ein Haus verkauft, und Sie wollen jetzt den Zweitschlüssel, um im Keller zu graben?«

»Herr Detering, Humor ist in diesem Zusammenhang nicht angebracht«, sagte Volker kühl.

»Ja, natürlich, verzeihen Sie.« Detering machte einen Rückzieher.

Christian schob seine Karte über den Tisch: »Wir möchten Sie bitten, bei nächster Gelegenheit zu uns ins Präsidium zu kommen, um eine Zeugenaussage zu machen.«

Detering war jetzt deutlich auf der Hut. »In welcher Angelegenheit?«

»Reine Routine. Es geht um einige Ihrer beruflichen Reisen, die Sie unternommen haben. Möglicherweise haben Sie mit dem Mörder im selben Flugzeug gesessen.«

Detering ließ sich Zeit, bevor er fragte: »Wie kommen Sie darauf?«

Christian stand auf: »Das würden wir Ihnen alles gern erklären, wenn Sie zu uns kommen. Wie gesagt, reine Routine.«

Detering blieb demonstrativ sitzen. In seinem Büro beendete er die Gespräche: »Warum reden wir nicht hier und jetzt?«

Volker, der ebenfalls schon stand, gab ihm äußerst gepreßt Antwort: »Hören Sie mir mal gut zu: Wir jagen einen gefährlichen Killer. Wir haben Besseres zu tun, als uns in Ihrem schicken Büro die Eier zu schaukeln, während da draußen einer kleine Kinder umbringt! Sie können sich geschmeichelt fühlen, daß wir Sie persönlich aufgesucht und nicht unseren Praktikanten vorbeigeschickt haben. Aber jetzt ist Schluß mit den Höflichkeiten. Ein Kollege von uns wird im Präsidium Ihre Aussage aufnehmen, kommen Sie also pünktlich heute um siebzehn Uhr. Bitte. Sonst laden wir Sie vor und sind nicht mehr so nett. Adresse steht auf der Karte. Noch Fragen? Wenden Sie sich vertrauensvoll an unsere Kollegen. Wir haben keine Zeit für Menschen wie Sie. Guten Tag.«

Detering schwankte zwischen Wut und Mißtrauen. Er beherrschte sich mühsam, diesen Affront nicht entsprechend zu beantworten, denn Volkers Formulierungen deuteten darauf hin, daß sie nichts gegen ihn in der Hand hatten, nicht einmal sonderlich an ihm interessiert waren. Also besser kein Öl ins Feuer gießen. Er verabschiedete die beiden mit einer knappen Zusage und verzichtete darauf, sie zur Tür zu bringen.

Als Christian und Volker wieder zu ihrem Wagen gingen, meinte Christian anerkennend zu Volker: »Ich glaube, er ist drauf reingefallen.«

»Blöder Pisser, der Typ«, war Volkers einziger Kommentar.

Über Mittag traf Christian sich mit Anna an der Alster. Es war wieder heißer geworden, die hohe Luftfeuchtigkeit lag über der Stadt wie ein nasses Handtuch. Christian wartete an der Musikhochschule und sah Anna schon von weitem, als sie die Milchstraße herunterkam. Sie trug einen kurzen, weißen Leinenrock, ein enges Shirt, flache Sandalen und eine große Umhängetasche aus Bast. Fast sah sie aus, als wollte sie zum Strand. Christian spürte, wie sein Herz ein wenig schneller zu klopfen begann. Er begrüßte sie unbeholfen mit einem Handschlag. Die beiden schlenderten quer über die Wiese und setzten sich schließlich in die herumstehenden weißen Holzstühle. Anna wirkte sehr müde. Sie hatte sich ein Sandwich mitgebracht, das sie aus den Tiefen ihrer Schultertasche zog, biß jedoch nur einmal lustlos hinein und legte es beiseite.

»Du hast überhaupt nicht geschlafen, oder?« fragte Christian mitfühlend. Sein Blick glitt über ihre Beine und landete auf ihre schlanken, leicht gebräunten Fesseln. Am liebsten würde er alles vergessen, seinen Fall, ihre Liaison mit Pete, seine bemühte Zurückhaltung. Er verspürte den Drang, ihren nervös wippenden rechten Fuß auf seinen Schoß zu nehmen und ihn zärtlich zu massieren.

»Ein paar Stunden«, winkte sie ab, »ich habe mich heute morgen erkundigt, was mir wegen der Verletzung der Schweigepflicht droht.«

»Und?«

»Wenn es rauskommt und mich die Kommission am Wickel packt, kann ich mich auf ›Gefahr im Verzug‹ berufen. Mit etwas Glück und einem Kommissionsvorsitzenden, der Kinder hat, komme ich damit durch.«

»Und mit wenig Glück?«

»Schlimmstenfalls verliere ich meine Lizenz.« Anna wischte den Gedanken mit einer unwirschen Handbewegung weg. »Hast du meine Mail bekommen?«

Er nickte.

»Und wie geht es jetzt weiter?« wollte sie wissen.

Christian erzählte ihr, daß sie Detering zu einem sogenannten Informationsgespräch gebeten hatten. Er schien nicht allzu überrascht gewesen zu sein. Anna fand, das stütze doch die These von seinem unbewußten Wunsch, verhaftet zu werden. Christian jedoch vermutete eher, daß Detering einfach wissen wollte, was sie wußten. Er befragte Anna nach ihrem Eindruck von Deterings Intelligenz.

»Er macht auf mich einen gebildeten, klugen Eindruck, meist sehr kontrolliert. Manchmal hatte ich das Gefühl, daß er lügt. Daß er mir was vorspielt. Ich weiß nicht. Als wolle er lieber jemand anderes sein.«

»Ginge mir an seiner Stelle auch so«, knurrte Christian.

»Ich kann nicht viel über ihn sagen. Er war nur dreimal bei mir. Und davon zweimal nur ganz kurz.«

Christian starrte, ohne es zu merken, sehnsüchtig auf Annas Sandwich. Sie nahm es lächelnd und hielt es ihm hin.

»Willst du es wirklich nicht?« Ganz plötzlich spürte Christian, wie hungrig er war. Anna schüttelte den Kopf. Heißhungrig biß er hinein, es war belegt mit Schinken, gekochtem Ei und einem knackigen Salatblatt, es schmeckte wunderbar.

»Wann genau war er das erste Mal bei dir?« nuschelte er mit vollem Mund.

»Am Dienstag. Und dann kam er unangemeldet Mittwoch wieder.«

Christian ließ irritiert ab von dem Sandwich: »Ich dachte, er sei schon länger bei dir in Behandlung, weiß auch nicht, wieso.«

»Vermutlich, weil es nicht üblich ist, daß sich ein Patient in der ersten richtigen Sitzung schon so öffnet. Bei vielen dauert es Jahre, bis man zu ihren frühkindlichen Traumata vordringt.«

»Macht dich das nicht mißtrauisch?« wollte Christian wissen, während er den letzten Bissen Sandwich hinunterschlang.

Anna nahm nachdenklich eine kleine Flasche Wasser aus ihrer Tasche und bot sie Christian an: »Schon. Das lief alles sowieso nicht ab wie … Normalerweise steuert der Therapeut, unmerklich zwar, aber er steuert. Bei Dante … Er hat mich gesteuert. Ich habe ihm sogar vorgeworfen, daß er mich manipulieren will.«

Christian trank einen Schluck: »Dante?«

»Vergiß den Namen schnell wieder!«

Christian gab ihr die Flasche zurück: »Erstaunlich, was du alles in deiner Handtasche hast. Gibt’s da noch einen Schokopudding zur Nachspeise?«

Anna lachte.

»Was hat er gesagt, als du ihm das vorgeworfen hast?«

»Er hat überhaupt nicht reagiert.«

Christian nickte: »Wie heute auf Volkers Attacke. Der hat sich ganz gut im Griff, der Typ.«

»Welche Attacke?« wollte Anna wissen.

»Spielt keine Rolle. Paß auf, Anna, ich will zwei Dinge von dir. Erstens: Könntest du kurz vor siebzehn Uhr ins Präsidium kommen? Keiner außer den Leuten von meinem Team wird wissen, wer du bist und warum du da bist.«

»Warum bin ich denn da?«

»Detering kommt, um eine Aussage zu machen. Wir wollen überprüfen, ob er für alle Tatzeiten ein Alibi hat. Und ich möchte gern, daß du mit mir hinter der Glasscheibe stehst und ihn dir noch mal ganz genau anschaust. Die Fotokopie, die ich dir gestern gezeigt habe, war nicht sonderlich gut.«

»Gut genug, ich bin ganz sicher …«, widersprach Anna.

»Tu mir den Gefallen, ich muß auch ganz sicher sein.«

Anna nickte: »Und zweitens?«

Christian sah Anna in die Augen. »Tut mir leid, daß ich dich das fragen muß, aber wann warst du zum ersten Mal mit Pete im Bett?«

Entgeistert sah Anna ihn an: »Was soll das?«

»Vertrau mir. Ich muß es wissen.«

Anna überlegte: »Das war am 24. Juni, vergangenen Freitag. Da habe ich meinen Vortrag an der Uni gehalten.«

»Wart ihr danach bei dir?«

Anna wurde langsam sauer: »Nein, in seinem Hotel. Willst du auch noch was über Stellungen und Praktiken wissen?«

Christian verneinte beklommen: »Nein, darum geht’s nicht. Wann war Pete das erste Mal bei dir zu Hause? Das war er doch schon, oder?«

»Am Montag danach. Also diese Woche.«

»Sein erster Arbeitstag«, sinnierte Christian, »und an deiner Haustür hängt ein Schild: Psychotherapie.«

Anna nickte: »Würdest du mir jetzt mal auf die Sprünge helfen?«

Unwohl erklärte Christian ihr, daß Detering sie eventuell als Therapeutin ausgewählt hatte, weil sie mit einem der SOKO-Mitglieder liiert war. Zumindest konnte man den Eindruck haben. Oder glaubte sie an Zufall? Einen Tag, nachdem Pete bei ihr zu Hause war, hatte sie einen neuen Patienten, der ihr in einem rasanten Tempo sein Seelenleben zu Füßen legte.

»Damit ich euch informiere?« Anna war verunsichert.

»Keine Ahnung. Mir gefällt das jedenfalls nicht.« Christian konnte ihr keine schlüssige Erklärung geben.

»Es kann also sein, daß er Pete bis zu mir gefolgt ist.«

Christian nickte: »Es kommt gar nicht so selten vor, daß der Gejagte aus der Deckung heraus seine Jäger beobachtet. Um über ihre Schritte informiert zu sein. Und daß wir ihn jagen, ging ja deutlich genug durch die verdammte Presse. Mit unseren Namen und Hackfressen in der Kamera.«

Anna sah sich unwillkürlich um: »Das heißt, er könnte auch mich beobachten.«

»Genau das macht mir Sorgen«, sagte Christian.

Kurz vor siebzehn Uhr kam Anna im Polizeipräsidium in der City Nord an. Die Befragung Deterings war von Christian im Präsidium angesetzt worden, weil die repräsentativeren Räumlichkeiten sich dafür erheblich besser eigneten und weil Außenstehende in der kleinen, miesen Einsatzzentrale in der Schanzenstraße wahrlich nichts verloren hatten. Anna hatte sich umgezogen, den aufreizend kurzen Rock gegen eine weit geschnittene Hose eingetauscht, mit einem dünnen Hemd darüber. Christian holte sie unten im Foyer ab, wo sie den Sicherheits-Check durchlief, und brachte sie zum großen Konferenzraum, in dem Volker, Eberhard und Pete das bevorstehende Verhör besprachen. Daniel saß träge dabei und hörte nur zu. Anna gab allen die Hand, Pete begrüßte sie mit distanzierten Wangenküssen und einer nicht allzu vertrauten Umarmung. Er ließ sich nicht anmerken, ob ihm die Verstrickung seiner Affäre in den Fall unangenehm war. Auch Anna blieb reserviert. Viel Zeit, die privaten Konstellationen auszuloten, blieb nicht, denn Yvonne streckte den Kopf herein und meldete Deterings Ankunft: »Seinen Anwalt, einen Herrn Doktor Blei, hat er gleich mitgebracht. Arrogante Idioten. Haben mich behandelt wie Taubenschiß auf der Krawatte.«

Christian nickte Pete und Volker zu. Die beiden gingen hinaus. Anna gab Daniel ihren Laptop, damit dieser herauszufinden versuchte, von wo aus die Mails an sie abgeschickt worden waren. Dann nahmen Christian und Eberhard Anna eilig ins Schlepptau und führten sie über den Flur in einen engen, abgedunkelten Raum, in dem man durch eine kleine Scheibe in ein nebenan liegendes Zimmer blicken konnte.

»Auf der anderen Seite ist ein Spiegel?« fragte Anna.

Eberhard nickte: »Unten drunter hängt ein Waschbecken. Sie können uns nicht sehen.«

Anna hatte immer gedacht, daß solche Beobachterposten nur in amerikanischen Krimis existierten. Allerdings war das Verhörzimmer nicht so karg und abweisend möbliert, wie sie es aus Filmen kannte – mit einem langen Holztisch, einem Mikro und einem überquellenden Aschenbecher. Sie blickte mit gemischten Gefühlen hinüber in ein modernes, recht geräumiges Büro mit einer kleinen Sitzecke, die geradezu einladend wirkte.

»Warum redest du nicht selbst mit ihm?« wandte sich Anna flüsternd an Christian.

»Pete ist Psychologe, und Volker bringt selbst einen Stein zum Weinen. Außerdem soll er nicht das Gefühl haben, er sei wichtig genug für den Chef.« Christian knackte mit jedem einzelnen seiner Finger, eine deutliche Übersprungshandlung, die zeigte, wie wichtig dieses Verhör war. Es konnte sie einen entscheidenden Schritt nach vorne bringen oder alle bisherigen Theorien in Frage stellen und sie zu einem Neustart zwingen.

Auf der anderen Seite betraten Volker, Pete, Detering und ein gutgekleideter, selbstbewußt wirkender Mittfünfziger den Raum. Pete bat sie, Platz zu nehmen.

Über ein verstecktes Mikro konnte man im Raum nebenan mithören. Christian sah Anna fragend an. Sie nickte: »Kein Zweifel: Das ist er.«

»Schön, daß Sie uns helfen wollen. Wir sind Ihnen sehr dankbar«, eröffnete Pete das Gespräch, nachdem alle sich gesetzt hatten. Nur Volker blieb mit dem Rücken zum Fenster im Gegenlicht stehen. Pete stellte einen Rekorder auf den Tisch. »Ich nehme an, das stört Sie nicht. Die lästige Bürokratie, Sie verstehen.«

»Ich bin überrascht, daß Sie Zeit finden, mit mir zu reden«, wandte sich Detering spöttisch an Volker.

Sofort schaltete sich Deterings Anwalt ein: »Wir wären Ihnen sehr verbunden, wenn Sie das Gespräch kurz halten würden. Daß wir überhaupt hier sind, an einem Samstagnachmittag, geschah auf den Wunsch meines Mandanten, der seiner Bürgerpflicht nachkommen will, selbst wenn ihm nicht klar ist, auf welche Weise er Ihnen helfen könnte. Ich habe ihm abgeraten. Und der Rekorder dürfte nicht nötig sein. Ich dachte, dies hier ist ein inoffizielles Gespräch auf freiwilliger Basis.«

»Freiwillig ja, aber inoffiziell natürlich nicht. Wir müssen uns an unsere Vorschriften halten«, warf Volker so desinteressiert wie möglich ein.

»Ist schon gut, Werner«, meinte Detering zu seinem Anwalt, »ich habe nichts zu verbergen.« Der Anwalt warf seinem Mandanten einen warnenden Blick zu und schnaubte unwillig.

Pete schaltete den Rekorder ein, nahm Zeit, Ort und Personalien der Anwesenden auf und vermerkte, daß die Zeugenbelehrung stattgefunden hatte. »Wir werden Ihre kostbare Zeit nicht allzu lange in Anspruch nehmen, Herr Dr. Blei.« Er wandte sich an Detering: »Wie schon erwähnt, geht es bei dieser Befragung um Ihre Reisen, die Sie als Immobilienmakler durch ganz Deutschland führen. Sie sind häufig in Düsseldorf?«

Detering nickte: »Ich arbeite eng mit einem dort ansässigen Makler zusammen.«

»Makeln Sie auch in Holland?«

Eine Millisekunde schien Detering irritiert, doch er antwortete klar und knapp: »Nie. Nur in Deutschland.«

Ruhig, fast blasiert schaltete sich Blei ein: »Würden Sie uns freundlicherweise endlich sagen, worum es genau geht?«

Pete sah Blei nicht an und erklärte Detering, daß er sich zufällig zum Todeszeitpunkt der vier bislang aufgefundenen Kinder in der Nähe der Fundorte aufgehalten hatte. Blei runzelte die Stirn: »Wollen Sie damit sagen, daß mein Mandant verdächtig ist?«

Pete ignorierte die Frage und fixierte Detering: »Sie werden verstehen, daß wir jeder Spur nachgehen müssen. Und es macht Ihnen doch sicher nichts aus, uns Einblick in Ihre Termine zu geben, die Sie am Osterwochenende nach Berlin, vom 24. bis 27. Mai nach München und vom 22. bis 24. Juni nach Saarbrücken geführt haben.«

Detering bückte sich nach der Aktentasche, die er neben sich abgestellt hatte. Sachlich antwortete er Pete: »Ich habe, da Sie in meinem Büro ja schon Terminfragen andeuteten, meine Agenda mitgebracht.«

Während er beinahe gemütlich in seinem Kalender blätterte, redete er so entspannt weiter, als säße er mit seinen Kumpels beim sonntäglichen Stammtisch: »Was halten Sie von der Chaostheorie? Die besagt doch, daß nichts rein zufällig ist, oder? Ich verstehe ja diesen Käse nicht. Aber meiner Frau ist das auch schon aufgefallen. Sie sieht viel fern, unter anderem täglich mehrfach Nachrichten. Als hätte sie kein eigenes Leben. Jedenfalls sagte sie kürzlich, als ich aus Saarbrücken kam …«

Er blickte triumphierend von seinem Kalender hoch: »… gefunden! Das war am Freitag, dem 24. Juni am späten Abend, da sagte sie zu mir, daß schon wieder ein totes Kind gefunden wurde. Und zwar bei Saarbrücken. Und in Berlin die Leiche, das war vorher? Und wo? Das habe ich nicht mitbekommen.«

»In Mahlsdorf, um genau zu sein«, warf Volker ein.

Detering lachte auf: »Mahlsdorf? Da war ich nicht. Noch nie. Der Immobilienmarkt im Osten Berlins ist für mich uninteressant.«

»Wo genau waren Sie denn?« übernahm Volker das Fragen. Er nannte Detering die aufgrund der Sektionen vermuteten Todeszeitpunkte der Kinder und bat ihn um Aufklärung über seine jeweiligen Aufenthaltsorte. Detering konnte in allen drei Städten, die in Frage kamen, berufliche Termine angeben, die allerdings alle mehrere Stunden vor den Tatzeiten lagen. Er zeigte sich sehr offen, händigte Pete bereitwillig die Telefonnummern seiner Geschäftspartner aus, gab die Hotels an, in denen er abgestiegen war, und sogar die Mietwagenfirma.

»Schön, daß Sie so kooperativ sind. Aber was haben Sie beispielsweise nach Ihrem mittäglichen Termin mit dem Bauunternehmer Meierding in Berlin gemacht? Mich interessiert die Zeit zwischen 16 und 23 Uhr«, bohrte Volker weiter.

Blei schaltete sich unwillig ein: »Sie werden verstehen, daß man in einer Stadt wie Berlin oder auch München und Saarbrücken an einem beruflich orientierten Wochenende die Zeit noch für andere Dinge nutzt. Ein Bar-, Museums- oder Kinobesuch. Schlendern über den Flohmarkt, wer kann sich daran nach Monaten schon noch minutiös erinnern? Geben Sie meinem Mandanten Zeit, diese Fakten so lückenlos wie möglich zusammenzutragen. Aus dem Stegreif werden Sie keine befriedigenden Antworten bekommen, vermute ich. Das ist doch so, Karl, oder?«

»Mein Anwalt hat recht. Ich muß das erst checken«, sagte Detering.

»Tun Sie das«, meinte Pete leichthin. »Entschuldigen Sie mich, ich werde uns mal einen Kaffee besorgen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er hinaus.

Blei erhob sich: »Ich nehme an, wir können jetzt gehen?«

Volker hob abwehrend die Hände: »Sie werden uns doch einen Kaffee nicht abschlagen? Mein Kollege ist sofort wieder da.«

Blei warf einen fragenden Blick zu Detering. Der nickte. Kopfschüttelnd setzte sich Blei wieder hin.

Pete kam zu Christian und den anderen: »Läuft nicht gut. Der ist aalglatt und bestens vorbereitet.«

Christian nickte: »Aber er ist neugierig. Er will wissen, was wir gegen ihn in der Hand haben, sonst wäre er schon längst weg. Ich glaube, sein Anwalt kocht schon, weil Detering seine Versuche, das Gespräch zu beenden, torpediert.«

Eberhard, der mit Anna durch die Scheibe starrte, berichtete grinsend: »Jetzt fängt Volker mit seinem Psychoterror an.«

Auch Pete und Christian quetschten sich vor die kleine Scheibe. Volker hatte sich Detering gegenübergesetzt und starrte ihn stumm an. Detering erging es wie fast allen Menschen in dieser Situation. Er begann sich unbehaglich zu fühlen, was deutlich an seinen nervösen Positionswechseln sichtbar wurde.

»Haben Sie Kinder?« fragte Volker plötzlich.

»Nein. Aber ich nehme an, das haben Sie schon recherchiert.« Detering wirkte verärgert.

»Stimmt.« Volker schwieg eine Weile. »Aber Sie mögen Kinder.«

»Nein. Deswegen habe ich keine.«

»Den 15jährigen Jungen, der Sie 1992 des sexuellen Mißbrauchs bezichtigt hat, den mochten Sie aber, oder?«

Es war deutlich sichtbar, wie Detering sich bemühte, locker und souverän zu bleiben. Es gelang ihm nicht ganz.

»Die Anzeige wurde zurückgenommen«, ging Blei dazwischen.

»Wie schön für Sie«, spöttelte Volker, ohne den Blick von Deterings nun sehr verschlossener Miene zu nehmen.

»Ich finde, das reicht«, sagte Blei, »wenn Sie noch etwas von Substanz vorzutragen haben, melden Sie sich. Ansonsten, würde ich vorschlagen, lassen Sie meinen Mandanten in Ruhe.« Der Anwalt erhob sich, und diesmal folgte Detering seinem Beispiel.

Anna sah Christian hinter der Scheibe irritiert an: »Ihr könnt ihn doch jetzt nicht gehen lassen!«

»Wir müssen. Wir haben nichts in der Hand. Noch nicht.«

»Laß mich mit ihm reden«, bat Anna. »Ich komme an ihn ran.«

Vehement schüttelte Christian den Kopf. Er hörte durch den Lautsprecher, wie Volker Detering eine letzte Frage stellte.

»Sind Sie religiös? So wie Ihre Mutter es war?«

Blei wollte Detering zur Tür hinausschieben, doch der wandte sich schleppend wieder zu Volker um, wie ein angeschossenes Tier, und funkelte ihn bedrohlich an: »Meine Mutter war eine dumme Fotze, die in der Hölle brennt. Ich sag Ihnen was: Die Hölle ist die einzig gute Erfindung dieser Katholikenscheißer!«

Vehement griff Blei Deterings Arm, umschloß ihn mit eisernem Griff, zischelte ihm etwas zu und zerrte ihn hinaus.

Christian, Eberhard, Pete und Anna gingen, jeder in seine eigenen Gedanken versunken, zum Konferenzraum zurück. Volker kam eine Minute später herein. Während bei einer Sekretärin Kaffee und Wasser bestellt wurde und Pete das Band im Rekorder zurückspulte, schaute Anna abwesend aus der großen Fensterfront auf die Straße. Sie sah, wie Blei und Detering das Präsidium verließen. Blei führte Detering immer noch am Arm. Auf dem Bürgersteig schüttelte Detering den dominanten Griff seines Anwalts wütend ab und fuhr ihn an. Anna konnte sehen, daß die beiden sich kurz und heftig stritten. Dann gingen sie in verschiedene Richtungen davon. Anna fragte zaghaft in den Raum hinein, ob das Verhör denn nun irgendwas gebracht habe. Alle sahen sie mehr oder weniger ausdruckslos an. Pete ließ das Band laufen. Sie hörten sich das komplette Gespräch von Anfang bis Ende noch einmal an. Nur ein einziges Mal hatte Detering die Kontrolle verloren.

»Komisch, daß er ›in der Hölle brennt‹ sagt«, meinte Anna grübelnd, »meistens sagt man, ›in der Hölle schmoren‹.«

Pete sagte: »Interessant dabei ist, daß seine Mutter wie auch sein Vater verbrannt sind. In einem richtigen Höllenfeuer.«

»Besorgst du uns mal die Akten zu dem Brand von damals? Vor allem die Brandursache interessiert mich plötzlich brennend«, bat Christian Eberhard. Der machte sich eine Notiz.

»Hast du schon rausgefunden, von welchem Computer oder Server oder Browser, oder wie das heißt, die Mails an Anna gehen?« fragte Christian Daniel.

»Ich mach’s einfach für dich: Von diversen Internet-Cafés. Hilft uns null weiter.« Daniel schob Anna ihren Laptop über den Tisch wieder zu.

»Scout und Nicki stehen bereit?« Christian hatte etwas Generalstabsmäßiges an sich. Hinter dieser pragmatischen Sachlichkeit konnte er seinen Frust über das Ergebnis des Verhörs am besten verbergen.

»Sind vor drei Stunden in Hamburg eingelaufen. Ab sofort macht er keinen Schritt mehr ohne sie«, antwortete Volker.

»Wir geben ihm zwei Tage. Dann sitzen wir wieder auf seinem Schoß wegen der Alibis. In der Zwischenzeit will ich alles über seine Geschäfte, Geschäftspartner, seine Finanzbewegungen und sein Privatleben erfahren. Die komplette Biographie inklusive Details über diese Amnesie …«

Anna unterbrach erstaunt: »Welche Amnesie?«

»Psychogene«, sprang Pete ein, »haben sie ihm beim Militär bescheinigt. Unerklärliche Gedächtnislücken über zwölf Jahre: zwischen sieben und neunzehn. Eventuell ausgelöst durch den Brand, der seine Eltern das Leben gekostet hat.«

»Um so erstaunlicher, daß er sich an seine Mutter erinnert, die sogenannte dumme Fotze«, fand Volker. Das Wort wollte ihm kaum über die Lippen, er mußte es ausspucken, um es loszuwerden.

Anna überraschte das nicht: »Diese harte Aussage paßt zu dem frühkindlichen Mißbrauch, den er mir gegenüber angedeutet hat. Die Mütter sind zwar seltener unter den Tätern, aber viele dulden es, bewußt oder unbewußt, weil sie abhängig von dem Mann sind oder Angst vor Sanktionen haben.«

»Oder die Kohle brauchen können, mit der der Mann ihnen den Mund stopft. Wie Mama Backes. Die konnte nicht reden, weil sie permanent eine Flasche am Hals hat«, fügte Pete bitter hinzu.

Anna bekam Kopfschmerzen. Sie hatte ganz selten Kopfschmerzen, aber nun überkam es sie wie eine überraschende Welle, die mit Macht gegen ihre Schädeldecke prallte. Sie steckte den Laptop in die Tasche und verabschiedete sich. Pete und Christian erhoben sich gleichzeitig, um sie zur Tür zu bringen. Eine Sekunde lang wußte Anna nicht, wie sie sich verhalten sollte. Dann ging sie einfach vor, den Rüdenkampf den Rüden überlassend. Ihr war das alles zu anstrengend.

Pete und Christian wechselten einen Blick, durch den in Sekundenschnelle der Platzhirsch ausgefochten wurde. Pete setzte sich wieder hin. Christian ging mit Anna hinaus. Das Ganze hatte vielleicht drei Sekunden gedauert und wäre unaufmerksamen Zuschauern vollkommen entgangen. Doch hier saßen nur professionell aufmerksame Zuschauer. Eberhard und Volker sahen sich überrascht an.

»Haben wir was verpaßt?« fragte Eberhard neugierig.

Pete antwortete bemüht locker: »Nicht nur ihr. Ich in vorderster Front.« Volker lachte in sich hinein. Pete war garantiert nicht aufgefallen, daß er im Zusammenhang mit seiner offensichtlichen Niederlage eine militärische Umschreibung benutzt hatte. Liebe war Krieg.

Als Anna nach Hause kam, ging sie zuerst ins Badezimmer und nahm zwei Schmerztabletten. Mit einem feucht-kühlen Waschlappen auf der Stirn legte sie sich auf ihr Sofa und schloß die Augen. Sie wollte nicht denken, wollte sich nur entspannen und ruhig ihren Atemzügen lauschen. Doch ihr Hirn war geschwätzig, laberte sie unaufhörlich und widersprüchlich voll, machte Lärm im Schädel wie ein Trupp von unkoordinierten Handwerkern, der an allen Ecken hämmerte, bohrte und schliff. Anna bekam die Truppe nicht unter Kontrolle, und es dauerte fast eine Stunde, bis die Tabletten ihre betäubende Wirkung entfalteten und den Krach im Kopf dämmten. Anna fiel in einen unruhigen Schlaf.

Sie erwachte gegen halb zehn und brauchte eine Weile, bis sie ganz bei sich war und sich zurechtfand. Inzwischen war es stockdunkel. Benommen erhob sie sich vom Sofa und schaltete das Licht ein, wobei sie instinktiv die Augen zusammenkniff. Die Kopfschmerzen waren weg, sie fühlte sich sogar einigermaßen erfrischt. Dankbar trank sie einen langen Zug Wasser aus der Flasche auf ihrem Wohnzimmertisch, dann ging sie hinüber in ihr Büro. Auf dem Schreibtisch lag eine Mappe, in die sie heute morgen ihre Korrespondenz mit Dante chronologisch eingeordnet hatte. Ohne Christians Wissen hatte sie sich gestern nacht im Besprechungszimmer in der Schanzenstraße die Psalmen notiert, die bei den Kinderleichen gefunden worden waren, sie aus der Bibel herausgesucht und ebenfalls in die Mappe getan.

Sie las die Bibelzitate und das Gedicht durch, zum zehnten oder zwanzigsten Mal inzwischen. Und wieder stellte sich das gleiche Gefühl ein, gegen das sie sich zu wehren versuchte, seit sie in Dante den Bestatter vermutete: Sie hatte Mitleid. Erstaunlich fand sie allerdings, daß sein Auftritt heute mittag im Präsidium sie eher abgestoßen hatte. Da war ihr klargeworden, wie sehr Dante – nein, sie würde sich angewöhnen müssen, ihn Detering zu nennen –, wie sehr Detering sich von seinen eigenen Gefühlen abkoppeln konnte. Nur bei der Erwähnung der Mutter schien Volker ihn tatsächlich erreicht zu haben.

Obwohl Christian sie eindringlich gebeten hatte, es nicht, zumindest nicht ohne seine Kontrolle, zu tun, konnte Anna der Versuchung nicht widerstehen. Sie fuhr ihren Laptop hoch, ging zu Dantes letzter Mail und klickte auf »antworten«:

Lieber Herr Dante,

ich danke Ihnen sehr für das Gedicht von Carola Moosbach. Ich habe nie etwas gelesen, was den unendlichen Schmerz und die Hilflosigkeit eines mißbrauchten Kindes so in sich trug. Aber ich habe Bilder gesehen, Zeichnungen von einer Fünfjährigen, unbeholfen gemalt, aber so eindringlich in ihrem Leid, daß es einem das Herz zu sprengen droht. Ich gebe Ihnen und Frau Moosbach recht:

Laß ihn nicht davonkommen diesen ehrbaren

Schrebergärtner

Erfinde die Hölle neu für ihn.

Sie sind ein religiöser Mensch und werden darauf vertrauen, daß Gott Ihnen zur Seite steht. Aber die Hölle, die in Ihnen lodert … lassen Sie auch mich Ihnen zur Seite stehen, lassen Sie uns diese Hölle gemeinsam durchschreiten. Ich will Ihre Hand halten und Ihnen helfen, Ihren Dämonen zu begegnen, damit Sie sie besiegen können. Das wollen Sie doch auch, deswegen sind Sie zu mir gekommen. Kommen Sie wieder. Reden Sie mit mir.

Anna Maybach

Anna las ihren Text noch einmal durch und schickte ihn ab. Sie hoffte, daß Dante die Empathie, die sie tatsächlich empfand, herauslesen konnte. Sie hoffte, daß er sich meldete. Sie wollte mit ihm über seine Mutter reden. Und über die Kinder. Sie wollte ihn verstehen, einen Kindermörder tatsächlich verstehen. Das hörte sich krank an. Aber Christian würde es begreifen.

Anna schreckte aus ihren Gedanken hoch, denn es klingelte. Vor der Tür stand allerdings nicht Christian, wie sie insgeheim gehofft hatte, sondern ihre Mutter. Mit verweinten Augen und einem Koffer. Anna war so verblüfft, daß sie sie wortlos anstarrte.

»Kann ich reinkommen?« fragte ihre Mutter schüchtern. »Ich habe ihn verlassen.« Anna konnte es kaum fassen. Sie nahm den Koffer und trug ihn ins Gästezimmer. Ihre Mutter setzte sich ins Wohnzimmer und weinte ein wenig. Anna kochte Tee und setzte sich zu ihr. Heimlich suchte sie die Haut ihrer Mutter nach blauen Flecken ab.

»Wieso, Mama? Wieso jetzt?« fragte Anna leise und schenkte ihrer Mutter Tee ein. Sehr vorsichtig trank Evelyn Maybach einen kleinen Schluck.

»Danke«, sagte sie. »Er betrügt mich.«

»Was?« Anna konnte nicht fassen, daß der Grund nicht die Gewalttätigkeit ihres Vaters war. Dieser Gedanke war ihr nie gekommen.

»Seit wann weißt du es?«

»Ich ahne es schon seit ein paar Wochen. Heute abend hat er es mir gesagt.«

»Ist es was Ernstes?«

Evelyn sah ihre Tochter entgeistert an: »Was ist das für eine dumme Frage? Er betrügt mich!«

Anna spürte Ärger in sich aufsteigen: »Mutter, er schlägt dich seit Jahren! Das ist was Ernstes! Das scheint dich aber nie sehr gestört zu haben.« Ihr Tonfall war bitter und vorwurfsvoll.

Ihre Mutter reagierte beleidigt: »Ich weiß, daß du mich deswegen verachtest.«

Anna stand auf. Auch das noch, dachte sie.

»Mit der Nummer kommst du bei mir nicht durch. Mach mir nicht das Opfer! Das Opfer eines gewalttätigen Ehemannes, einer gefühllosen Tochter, und jetzt wirst du auch noch betrogen, du Ärmste!« Ihre Stimme wurde immer lauter. »Mama, komm zu dir! Jetzt, wo er mal fremdvögelt, willst du ihn verlassen? Wenn du diesen Grund brauchst, bitte. Aber erwarte doch deswegen kein Mitleid von mir! Du wolltest es nie!«

Ihre Mutter fing wieder an zu weinen. »Ich liebe ihn doch.« Das war ihr Argument für und gegen alles und jeden. Annas Wut sackte in sich zusammen. Nach kurzem Zögern legte sie den Arm um ihre Mutter. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das das letzte Mal getan hatte.

»Ich weiß«, sagte sie.

Ihre Mutter hob den Blick und sah ihr in die Augen: »Kannst du dir vorstellen, was das Schlimmste ist?«

Anna schüttelte müde den Kopf.

»Das Mädchen, mit dem er was hat. Eine Studentin. Jung, hübsch. Und ich wünsche mir, daß er sie schlägt«, sagte Evelyn mit tonloser Stimme. »Dann wird sie ihn verlassen, und er kommt zu mir zurück.«

Sofort spürte Anna ihren Groll wieder aufsteigen wie Lava in einem Vulkan: »Du willst, daß er bei dir bleibt, weil du als einzige so blöd bist, dich von ihm schlagen zu lassen?« Ihr tat sofort leid, was sie gesagt hatte. Meine Güte, konnte sie nicht wenigstens ein Quentchen ihres professionellen Feingefühls auch für die eigene Mutter aufbringen?

»Ich schäme mich so«, weinte Evelyn leise.

»Tut mir leid«, sagte sie.

Evelyn putzte sich die Nase und sah Anna in die Augen: »Ich war wohl kein gutes Vorbild für dein Heranwachsen als Frau. Und dein Vater? Auch kein Ideal, das ein junges, kluges Mädchen wie du in der Welt da draußen suchen und wiederfinden will. Hast du deswegen keinen Freund?«

Anna sah ihre Mutter verblüfft an, dann mußte sie unwillkürlich lachen. Sie lachte und lachte und wußte gar nicht, warum. Daß dies der erste offene und ehrliche Satz war, den ihre Mutter seit Jahren zu ihr gesagt hatte, wurde ihr erst später bewußt. Im Moment empfand sie nur eine überraschende Leichtigkeit.

»Mama, du klingst ja wie eine Psychologin«, amüsierte sie sich.

Leicht pikiert beobachtete Evelyn den Heiterkeitsausbruch ihrer Tochter.

»Ich habe dein Buch gelesen. Über die Frauen, die Killern Liebesbriefe schreiben. Die in ihrer Kindheit oft geschlagen worden sind. Die kein Selbstwertgefühl haben und nichts anderes kennen als die Opferrolle.«

Anna hörte auf zu lachen. Ihre Mutter begann sie immer mehr zu verwundern.

»Ich weiß, daß du über mich geschrieben hast. Ich weiß auch, daß du nicht verstehst, warum ich mich schlagen lasse.«

»Sag’s mir«, bat Anna ernst.

»Selbst wenn ich es wüßte: Du bist nicht meine Therapeutin, du bist meine Tochter.«

»Ich könnte dir einen guten Kollegen empfehlen.«

Evelyn schüttelte schweigend den Kopf.

Plötzlich klingelte es wieder an der Haustür. Evelyn fragte: »Erwartest du jemanden?«

Anna schüttelte den Kopf und erhob sich.

»Wenn es dein Vater ist, laß ihn nicht herein«, rief Evelyn ihr hinterher.

Vor der Tür stand Pete, leicht schwankend, das Hemd auf einer Seite aus der Hose gezogen, mit einem krude zusammengestellten Blumenstrauß in der Hand.

»Hab ich im Park geklaut«, artikulierte er mit Mühe. Er machte einen Schritt auf die Tür zu, doch Anna trat nicht beiseite: »Es paßt gerade nicht so gut, meine Mutter ist da.«

»Die Frau Mama, das ist ja wunderbar«, rief Pete begeistert aus und drängte sich an Anna vorbei durch den Flur ins Wohnzimmer, die Blumen weit vorangestreckt, als würde er von ihnen auf magische Weise gezogen.

Er verbeugte sich tief vor Evelyn, die sich irritiert erhob.

»Schön, Sie kennenzulernen, Mutter der schönen Anna. Verzeihen Sie, daß mein florales Gebinde so jämmerlich daherkommt, die Parks sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.«

Evelyn nahm die Blumen dankend in Empfang, bat Pete, sich zu setzen, und ging Richtung Küche, um eine Vase zu holen.

»Hast du doch einen Freund?« lächelte sie Anna zu, die, an die Wohnzimmertür gelehnt, die Szene beobachtete.

»Das ist nur ein Kollege.«

»Hoffentlich nicht der, den du mir empfehlen wolltest.«

Ohne die Bemerkung zu kommentieren, ging Anna zu Pete, der es sich auf dem Sofa gemütlich machte.

»Was willst du?« zischte Anna.

Evelyn kam zurück, stellte die Vase mit dem Gestrüpp auf den Tisch und meinte, sie werde jetzt besser schlafen, es sei ein sehr anstrengender Tag gewesen. Anna und Pete wünschten ihr eine gute Nacht. Kaum war sie weg, fragte Pete nach einem Drink, den Anna mit Hinweis auf seinen Zustand verweigerte. Sie goß ihm eine Tasse Tee ein und gab ihm zehn Minuten, sie auszutrinken und zu gehen.

Brav nippte Pete an dem Tee.

»Ich wollte mich entschuldigen. Ich bin ein Idiot«, erklärte er zerknirscht wie ein kleiner Junge.

»Es gibt keinen Grund, dich zu entschuldigen«, sagte Anna knapp. »Wir hatten eine kleine, unverbindliche Affäre, war nett, fertig, Thema durch.«

»Ja, aber … Ich benehme mich immer so bescheuert. Bei dir. Dabei mag ich dich wirklich, du bist eine tolle Frau! Bei Christian … der mag dich übrigens auch …«

»Hat er das gesagt?«

Pete griff sich unwillkürlich an den Kragen, an dem Christian ihn heute morgen geschüttelt hatte.

»Nicht direkt. Aber …«, Pete fuhr sich nervös durch die Haare, »hoffentlich hab ich’s mir jetzt nicht endgültig mit ihm versaut.«

»Was ist denn passiert?«

Pete gab keine Antwort, er starrte nur in seine Teetasse. Langsam hob er den Blick, der immer noch ziemlich glasig war.

»Ich habe dir doch erzählt, daß mein Vater sich nicht um mich gekümmert hat.«

Anna nickte.

»Ganz so war das nicht. Mein Erzeuger ist Militärpsychologe in den Staaten, einer von den ganz Wichtigen. Hat sich früher um traumatisierte Kriegsveteranen gekümmert, dem einen oder anderen Drückeberger auch gerne mal Simulantentum attestiert und ihn wieder an die Front geschickt. Er ist echt ein harter Hund, nicht so ein weichgespülter ›Laß-es-raus‹-Therapeut, der mit jedem Patienten geistig Händchenhält. Als Kind habe ich ihn im Grunde überhaupt nicht gekannt, weil er sich nach der Affäre mit meiner Mutter wieder schnell abgesetzt hatte. Aber als ich dann nach dem Abi zu ihm rüberging, hat er sich auf mich gestürzt wie ein Geier aufs Aas.«

Anna hatte sich müde ein Glas Rotwein eingegossen, und Pete linste begehrlich danach. Als sie es bemerkte, goß sie ihm seufzend auch eins ein. Schließlich war sie nicht seine Drogenbeauftragte.

»Er hatte gerade seine zweite Ehe in den Sand gesetzt und brauchte wohl was, um sein Selbstbewußtsein aufzupolieren. Da kam ich gerade recht. Sportlicher, gutaussehender Sohn mit glänzenden Aussichten.«

Langsam befürchtete Anna, daß Petes Redebedürfnis sich noch lange nicht erschöpfen würde. Dennoch brachte sie es nicht übers Herz, ihn rauszuwerfen. Er schien Ballast abwerfen zu müssen, um seine Höhe zu halten. Dabei trank er in großen Schlucken.

»Am Anfang fand ich es super, wie er mich in seinen Kreisen einführte, mich rumzeigte, permanent die väterliche Pranke auf meiner Schulter, wie stolz er auf mich war. Aber das hielt nicht lange. Irgendwann merkte ich, daß er mich modellieren wollte, damit ich perfekt in seine Schablone vom Traumsohn paßte. Sobald ich anderer Meinung war als er, qualifizierte er mich ab. Er machte das ganz subtil, sehr professionell. Ich wehrte mich, das machte es noch schlimmer. Das Ganze entwickelte sich zu einem komplett absurden Machtkampf: Wer würde sich durchsetzen? Er natürlich! Ich konnte machen, was ich wollte, nie war etwas gut genug. Weder meine sportlichen Leistungen noch die wissenschaftlichen. Es gab nur ein Gebiet, auf dem ich ihn demütigen konnte: Frauen. Für ihn war es unmöglich, sich mit dem Altern abzufinden. Die Weiber standen einfach nicht mehr auf ihn. Aber auf mich! Und ich führte sie ihm vor, eine Phalanx attraktiver Frauen, andauernd ’ne andere, eine jünger und schärfer als die andere … Daß ihm die Augen nur so trieften.«

Petes Sprache hatte ihre Form inzwischen so komplett eingebüßt wie er seine aufrechte Haltung. Ungelenk nahm er einen weiteren kräftigen Schluck und hielt Anna das Glas hin, damit sie nachschenkte. Anna tat es, jetzt war eh alles egal.

»Aber er hat sich sehr klug gerächt. Er hat nämlich ganz großzügig meine Karriere gefördert.«

Mit unterschwelliger Aggressivität sah Pete Anna an: »Glaubst du, ich wäre sonst beim FBI gelandet? Ich, ein blöder Deutscher? Nee, nee, die hätten mir einen Tritt in den Arsch verpaßt. Aber so hat Daddy seine super Kontakte spielen lassen, und aus Sohnemann ist echt was geworden. Das BKA hat sich alle zehn Finger nach mir geleckt! Aber ich bin nur was, weil Daddy geholfen hat, verstehst du?«

Anna verstand. Und sie fürchtete um die Unversehrtheit ihres Sofapolsters, denn Pete begann mit bedrohlicher Intensität sein noch halbvolles Rotweinglas zu schwenken.

»Ohne ihn wäre ich nichts! Gar nichts!«

Sanft nahm Anna ihm das Glas aus der Hand und stellte es auf den Tisch. Pete war inzwischen so betrunken, daß er es nicht mal merkte. Langsam wurde er theatralisch: »Bestenfalls hätte ich eine Wohnwagenpraxis in Wyoming und würde dem white trash da das Saufen wegtherapieren.«

»Dazu wärst du wahrscheinlich der Richtige«, bemerkte Anna lächelnd.

Pete versuchte vergeblich, sich zu straffen, aber es war ihm zu anstrengend, und so ließ er es.

»Siehst du, siehst du! Nicht mal das trausdu mir su. Ich kann nichts, sagt ja schon mein Superdaddy! Und Superdaddy hat immer recht. Und wenn er einmal nicht recht hat, dann hat er automatisch doch recht.«

Petes Stimme war bei den letzten Sätzen immer leiser geworden, bis er schließlich verstummte und leise zu schnarchen begann. Sein Kopf war auf das Kissen gesunken, der Körper lag leicht verdreht zur Seite geneigt. Anna hob seine Füße aufs Sofa, zog ihm die Schuhe aus und legte ihm die Kaschmirdecke über. Seit langem verspürte sie einmal wieder das schlichte, aber überwältigende Gefühl, die Menschen zu mögen. Egal, wie glatt poliert eine Oberfläche auch schien, irgend etwas war dahinter immer in Bewegung.

Sie setzte sich in den Sessel, die Beine eng an den Körper gezogen, betrachtete Pete und ließ sich in eines langen Tages Nacht sinken, in den überraschenden Besuch ihrer Mutter, in die sich freundschaftlich entwickelnde Beziehung zu Pete, in ihre diffusen Gefühle für Christian, ihren mörderischen Patienten, in das ganze seltsame Leben, das sich heute ohne Einladung zwischen diese wenigen Stunden von der Morgendämmerung bis zu genau dieser Minute um Mitternacht gedrängt hatte.