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Kathi und Irmi stiegen hinauf zu dem Hotel, das ziemlich vereinsamt wirkte. Sie gingen über eine Terrasse und durch eine Tür, die unverschlossen war. Ein paarmal riefen sie: »Hallo, hallo, ist da wer?« Weil niemand reagierte, traten sie in eine Stube zur Linken und sahen sich um.

Nach einer halben Ewigkeit klappte irgendwo im Hinteren des Hauses eine Tür, und ein Mann stiefelte heran. Er trug Lederhosen, Bergschuhe, ein kariertes Hemd mit Stehkragen und dazu einen Strickjanker.

»Was mechts ihr?« Seine Stimme war laut und unangenehm.

Irmi stellte sich und Kathi vor, zeigte ihren Dienstausweis und wartete. Nichts passierte. Da der Mann ihnen weder einen Sitzplatz anbot noch sonst irgendwelche Reaktionen zeigte, fragte Irmi in scharfem Ton: »Herr Rieger, wie stand es denn mit Ihrem Verhältnis zu Ernst Buchwieser?«

»Zu wem?«

»Zu Ernst Buchwieser!«

»Ja, der Vollgasdepp. Den kenn i. Na, wer frogt?«

»Ich frage. Ich habe mich Ihnen gerade schon vorgestellt. Und die Kollegin auch.«

»Und i soll zwei Weiberleit Antwort gebn?«

»Ja, das sollten Sie. Sie können aber auch gerne mit auf die Inspektion kommen. In der U-Haft finden wir bestimmt lauter freundliche Herren für Sie. Garantiert frauenfrei!« Kathi klang nun wieder bissig wie ein Kampfhund.

»A Weib! So jung und so gschnappig. Schreib du doch liaber deine Strofzettel.«

»Ich wüsste nicht, dass ich Ihnen das Du angeboten hätte. So einem Grattler wie Ihnen würde ich das auch nie anbieten!«, rief Kathi.

Rieger starrte die beiden Frauen an. Es pochte an seiner Schläfe.

Plötzlich trat Irmi einen gewaltigen Schritt auf Rieger zu. »Ernst Buchwieser, den mochten Sie nicht. Er war in Ihren Augen ein Vollgasdepp. Wenn Sie jetzt nicht gleich Ihr Maul aufmachen, sind Sie der Vollgasdepp.«

Rieger wich nicht etwa zur Seite, sondern blieb stehen und glotzte Irmi weiter an. Sie spürte den Geruch nach nasser Wolljacke, versagendem Deo, Rauch und Alkohol.

»Weiber!«, stieß er aus. »Über den Buchwieser woits wos wissn? Der mecht mer ’s Hotel zusperrn!«

»Ja, wegen der Krötenwanderung.«

»A so a Schmarrn, Krötenwanderung! Die Kröten wollten Selbstmord machen, zwecks dem laffen s’ über d’ Stroß zu mir nauf. I hob sie sogar zrucktroagn.«

»Ja, und die Tierschützer haben Ihnen klargemacht, dass das nichts nutzt, weil die Tiere immer wieder loslaufen. Die steuert nämlich ihr Instinkt.«

»Bledsinn, die wollten sich umbringen«, maulte Rieger.

»Ach so, und deshalb haben Sie die Viecher später dann zusammengekehrt?«, rief Irmi.

»Ja, weil sie eh Selbstmord machen wollten. Do hob i eana gholfn.«

Irmi atmete tief durch. »Aber Sie haben sich damit keinen Gefallen getan, wenn das Hotel dafür zwei Wochen gesperrt ist!«

»Am Freitag is des Trachtlertreffen und am Sonntag a große Hochzeit. Wer zahlt mir den Ausfall? Sie? Der Buchwieser, des Oarschloch, des?«

»Das hätten Sie sich vorher überlegen müssen. Es geht doch nichts über eine gute Nachbarschaft.« Kathi sah ihn in provozierender Weise an.

»Pass amoi auf, du Großgfotzede! Wenn’s sei muaß, schiaß i die alle übern Haufen!«

»Ach.« Kathi runzelte spöttisch die Stirn. »Uns auch?«

Irmi warf Kathi einen warnenden Blick zu, doch die war viel zu sehr in Rage geraten, um das überhaupt zu merken. »Ja, was nun, Herr Rieger!«, rief sie. »Schießen Sie alle über den Haufen, die Ihre Kreise stören? So wie Sie den Buchwieser von der Piste geschossen haben?«

Riegers Gesichtsfarbe hatte nun ein bläulich unterlegtes Dunkelrot erreicht, das Pochen an seiner Schläfe sah aus, als ob die feine Membran, die diesen Vulkan noch bedeckte, jeden Moment reißen würde. Auf einmal sprang der schwere Mann in bemerkenswerter Behändigkeit zur Seite und riss einen Bauernschrank auf. Plötzlich hatte er ein Gewehr in der Hand, und bevor Irmi und Kathi reagieren konnten, richtete er die Waffe auf die beiden.

»Wissts wos! Der Rieger Egon, des is koa Grattler und koa Sprichmacher. Wenn i sag, i wehr mi, dann wehr i mi.« Er wirkte erregt und zufrieden zugleich.

Irmi hatte in ihrer Laufbahn dreimal in die Mündung einer Waffe schauen müssen. Einmal war ein Kollege dabei schwer verletzt worden. Sie war ein halbes Jahr lang zu einer Psychologin gegangen, weil die Bilder nicht hatten weichen wollen. Weil sie sie angesprungen hatten wie Raubtiere. Von hinten, ohne Vorwarnung, zu den unglaublichsten Gelegenheiten.

In der gegenwärtigen Situation glaubte sie den Bruchteil einer Sekunde lang, ersticken zu müssen, doch dann war die Attacke vorbei. Sie registrierte es mit Verwunderung, dann mit einem inneren Jubelschrei. Sie hatte es geschafft.

Irmi sah Rieger unverwandt an. Ihm war durchaus zuzutrauen, dass er schoss, er war überheblich und dumm genug. Nun hatte er diese renitenten Weiber im Griff, nun hatte er das Leben wieder unter Kontrolle. Er war gefährlich. Irmi versuchte, aus dem Augenwinkel Kathis Reaktion zu sehen. Sie befürchtete, dass diese eine Waffe ziehen oder sonst etwas Unüberlegtes tun könnte. Kathi war so unbeherrscht, Kathi war jung. Was Irmi aber sah, war eine Kathi, die völlig paralysiert wirkte, die Angst hatte, Todesangst.

Irmi fixierte Rieger mit den Augen. »Herr Rieger, legen Sie bitte diesen Prügel weg.«

»Jetzt hobts Angst, ihr Bixn!« Er genoss seine Macht, ein sonst machtloser Wicht, der nun ausnahmsweise einmal am längeren Hebel saß.

»Herr Rieger, legen Sie die Waffe weg! Dann kommen Sie vielleicht gerade noch aus der Sache raus. Als Doppelmörder aber sind Sie weg vom Fenster, da können dann die Kröten jahrzehntelang durch Ihr Hotel wandern.«

Rieger gab einen Laut von sich, der wie ein Bellen klang. Mit einer jähen Bewegung riss er das Gewehr hoch, ein Schuss löste sich, irgendwas klirrte. Irmi riss die Arme instinktiv vor den Kopf, eine Tür klappte.

Als sie die Augen öffnete, war Rieger weg. Kathi kauerte am Boden, mit einer Schnittwunde an der Wange. Von einer Glaslampe an der Decke waren Splitter heruntergefallen. Kathi schien unter Schock zu stehen. Irmi zog ihr Handy hervor, forderte Notarzt und Verstärkung an und warf dabei einen Blick auf Kathi, die sonst unversehrt wirkte, nur eben wie eingefroren, als hätte jemand den Film angehalten.

Dann sprintete Irmi nach draußen. Sie sah Rieger bergwärts hasten. Kurz verlor sie ihn aus dem Blickfeld. Wieder war ein Schuss zu hören. Verdammt, bei diesem Choleriker brannten anscheinend sämtliche Sicherungen durch. Kurz darauf hörte Irmi einen Hilferuf. Sie rannte weiter – dafür, dass sie fünfzig und übergewichtig war und sich nie um Sport geschert hatte, ging es gar nicht so schlecht.

Am Wegesrand auf einer Bank kauerte ein Ehepaar in Kniebundhosen, Karohemden und olivfarbenen Jacken im Partnerlook. Beide waren jenseits der sechzig. Aus der Kehle der Frau kam ein weiterer Hilferuf, doch sie schien unversehrt.

»Ist alles in Ordnung bei Ihnen?«, erkundigte sich Irmi.

Der Mann nickte und richtete sich ächzend auf.

»Er hat geschossen!« Die Frau war weiß wie eine Marmorplatte. »Polizei, so ruf doch jemand die Polizei!«

»Ich bin von der Polizei. Wo ist er hin?«

Die Frau wies nach links, und Irmi spurtete wieder los. Im Rennen rief sie noch: »Bleiben Sie bitte, wo Sie sind. Ich brauch Sie noch!«

Irmi erreichte etwas Höhe. In einer langgezogenen Kurve sah sie Rieger auf der anderen Seite eines kleinen talartigen Einschnitts. Sie zückte das Handy: »Ich hab ihn ver-loren. Rieger ist auf dem Vogelherdweg in Richtung Oberammergau unterwegs und ballert offensichtlich rum. Der Mann ist völlig von Sinnen. Ich schließe auch nicht aus, dass er den Weg verlässt und sich irgendwo unterm Ettaler Manndl versteckt.«

Irmi atmete tief durch. Sie hatte gelogen, aber sie würde in keinem Fall allein hinter einem Irren herrennen, der um sich schoss. Und sie ihrerseits würde keinen gezielten Schuss abgeben. Sie hatte noch nie auf einen Menschen geschossen, und das sollte auch so bleiben. Der schweratmige Rieger würde nicht weit kommen. Das hier war nicht die Weite Kanadas, das waren die Wälder unterm Ettaler Manndl, der Felsnase, die vorwitzig aus dem Wald herausspitzte. Und wenn es Tage dauern würde, sie würden ihn schon finden. Langsam ging Irmi in Richtung Kloster zurück, allmählich pendelte sich ihre Atmung wieder auf Normalfrequenz ein. Ja, das war einer der wenigen Vorteile des Alterns: Man lernte, Nein zu sagen.

Sie hielt kurz inne. Von hier oben, aus dieser Perspektive war der Klosterkomplex besonders imposant. Und plötzlich waren sie wieder da, die Schulausflüge, die Wandertage ihrer Kinderzeit. Wandertag hieß das heute wahrscheinlich auch nicht mehr, sondern teambildendes Outdoorevent. Und da waren sie wieder, die Zahlen und Namen: Klosterkirche, geweiht 1370, nach dem großen Brand von 1744 vom Wessobrunner Joseph Schmuzer wiederhergestellt, das Kuppelfresko stammte von Johann Jakob Zeiller.

Die beiden älteren Touristen mit dem Ruhrpottzungenschlag hockten auf der Bank wie Pennäler, die auf ihre Strafarbeit warten. Irmi hatte gar nicht gewusst, dass sie so Ehrfurcht gebietend wirkte! Sie bat die beiden, ihr bis zum Hotel zu folgen. Sie schlurften hinter ihr her wie zwei Hunde. Irmi musste grinsen. Zumindest würde der Aufenthalt in Ettal für die beiden unvergesslich sein.

Vor dem Hotel parkte ein Notarztwagen. Kathi hockte auf einer Art Regiestuhl, der wohl aus dem Sanka gezaubert worden war. Sie wirkte erschöpft. Über der Stirn und auf der Wange klebten Pflaster. Teilnahmslos nuckelte sie an einer Wasserflasche.

»Geht’s dir gut?«, fragte Irmi.

Kathi sah irgendwohin ins Leere. »Ich hätte nicht, also ich hätte…« Sie brach ab.

»Passt scho. Man gewöhnt sich eben nur schlecht an Waffen. Besonders an die, die auf einen gerichtet werden. Mach dir nichts draus.« Wie einfach es war, generös zu sein, wenn man schon mal durch die Hölle gegangen war und die Chance bekommen hatte, aus selbiger wiederaufzutauchen.

Kollege Hase schlurfte heran. »Was ist denn nun schon wieder los?«

»Hasibärchen, wir brauchen das Kaliber der Waffe, die Kernfrage ist, ob das diejenige ist, mit der Ernst Buchwieser erschossen wurde. Weiter oben im Wald hat er ebenfalls geschossen, wo genau, sagen dir diese beiden netten Herrschaften.« Irmi wies auf die Touristen. »Ach ja, und schön wäre es, wenn ihr irgendwo beim Rieger Zeitungsschnipsel finden würdet. Du weißt schon: Buchstabensuppe für Drohbriefe.«

Hase zog eine Grimasse. »Ich liebe dich, ich bete dich an, Irmgard. Die schönsten Aufgaben stellst doch immer du.«

»Wenn du noch einmal Irmgard zu mir sagst, stirbst du!« Irmi lachte. In ihr stieg ein Hochgefühl auf. Das Gefühl, eine hohe Stufe erklommen zu haben und sicheren Stand erreicht zu haben. Seit langer Zeit wieder einmal.

Nachdem Irmi den Suchtrupp, dem auch zwei Polizeihunde angehörten, eingewiesen und die Aussagen des Ehepaars aufgenommen hatte, ging sie zu Kathi zurück. Die hatte wieder etwas mehr Farbe im Gesicht.

»Es tut mir leid. Das war unprofessionell«, sagte Kathi, und Irmi wusste, dass ihr diese Aussage schwergefallen war.

Auf dem Rückweg grübelte Irmi über ihr Verhältnis zu Kathi nach. Ganz sicher war sie nicht gerade ihre Lieblingskollegin. Wieso musste sie sich auch immer mit diesen Girlies rumschlagen? Diesen Mädels, die alles besser wussten.

Wenn sie, Irmi Mangold, sich gegen Vorgesetzte aufgelehnt hatte, war das trotzig gewesen und hatte den Rückzieher bereits beinhaltet. Sie war sich nie hundertprozentig sicher gewesen. Sicher vielleicht, dass sie recht hatte, aber unsicher, ob sie in der Position war, recht zu bekommen. Die Girlie-Generation hingegen war sich sicher, recht zu haben, und zutiefst überzeugt, auch recht bekommen zu müssen. Weil es für sie rote Rosen regnen musste. Weil die Welt sich um sie drehen musste. Woher nahmen die nur diese Selbstsicherheit?

Jetzt hatte Kathi einen Dämpfer bekommen. Irmi notierte das nicht etwa mit Genugtuung. Nein, das war einfach so.

Sie setzte ihre Kollegin in Garmisch ab.

»Kannst du fahren?«, erkundigte sie sich ein bisschen besorgt.

»Sicher.«

»Okay, pass auf dich auf. Wir telefonieren morgen. Schlaf dich aus. Du bleibst morgen früh bitte zu Hause, ja?« Irmi sah sie prüfend an.

Kathi sagte nichts. Sie nickte nur. Es würde noch ziemlich viel arbeiten in ihrem hübschen Kopf.