17

Als Irmi erwachte, hatte sie fiese Rückenschmerzen. Das lag wahrscheinlich daran, dass sie sich verkrampft hatte im Schlaf und weit prosaischer daran, dass sowohl Wally als auch Kater in ihrem Bett lagen und sie sich irgendwie um die Viecher herumgewunden hatte. Wally gähnte herzhaft, was ihren schlechten Mundgeruch unvorteilhaft zur Geltung brachte.

Es war kurz vor sechs, Bernhard rumorte in der Küche. Es war der Tag dieser unsäglichen Hochzeit, und sie hatte immer noch kein Dirndl. Irmi absolvierte die Stallarbeit in gewohnter Routine. Sie duschte, versuchte ihre Haare hochzustecken, und starrte voller Verzweiflung in ihren Schrank. Es half jetzt alles nichts, Irmi setzte sich ins Auto und fuhr zu Elisabeth, einer Nachbarin, die ebenfalls auf die Hochzeit eingeladen war.

»Lissi, ich hab kein Dirndl«, sagte sie. »Ich hab sowieso nichts außer Jeans und Latzhosen. Zu Hilfe!«

Lissi lachte. Dann häufte sie ein ganzes Sortiment an Dirndln und Röcken auf den Küchentisch. Gottlob war sie ziemlich mollig, wenn auch kleiner als Irmi, aber am Ende hatten sie eine tragbare Kombination gefunden. Gut, das schwarze Taftdirndl mit der leuchtend türkisfarbenen Schürze wirkte für Irmis Geschmack einen Tick zu edel, es hätte auch ein paar Zentimeter länger sein dürfen, aber als sie skeptisch in den Spiegel blickte, musste sie zugeben, dass Dirndl einfach perfekte Kleidungsstücke waren, wenn man ein paar Kilo zu viel hatte. Immerhin verfügte sie ja über eine Taille und eine gewisse Oberweite, ihm hätte das Outfit bestimmt gefallen.

Dann wurde es auch höchste Eisenbahn – für Kirche, Mittagessen, Kaffee und Abendessen. Eine bayerische Hochzeit war ein einziger Fressmarathon. Aber so sehr Irmi eigentlich davor gegraut hatte, so sehr entwickelte sich der Tag doch zum Besseren. Niemand fragte nach dem aktuellen Fall, der Milchpreis und der Holzpreis waren Thema, und Irmi redete wie immer vor allem mit den Männern. Bei Kindern und Kochen konnte sie einfach zu wenig beitragen. Beim Brautverziehen wurde die Braut dann ins Café in Grafenaschau entführt, und der Wein floss in Strömen. Es dauerte eine Weile, bis der Bräutigam die Gesellschaft gefunden hatte.

Es musste irgendwas mit den bayerischen Genen zu tun haben: Bier vertrug der gemeine Bayer gut, Wein hingegen machte aus verstockten Muhackln redselige Philosophen. Auch Irmi stand am Ende auf dem Tisch, sie tanzte sogar, und ganz am Ende befiel sie eine Art positives Wurstigkeitsgefühl: Sie lebte, sie lebte nicht schlecht, sie hatte ein Zuhause.

Das Erwachen am Montagmorgen war umso bitterer. Der letzte Wein musste schlecht gewesen sein, das Fluchtachterl, wie Kathi das nannte. Jenes Getränk, das man eben nicht mehr hätte trinken sollen. Zwei Paracetamol zeigten eine gewisse Wirkung, die immerhin ausreichte, um ins Büro zu fahren.

Irmi streckte den Kopf ins Zimmer ihres Kollegen. »Sailer, ich hätte da was für Sie.«

»Was denn?«

»Ja, und zwar Folgendes: Ihr Schwager arbeitet doch am Lift und hat ja ein gutes Auge. Können Sie bitte noch mal rausfahren und diese Bilder mitnehmen?« Irmi reichte ihm ein Foto von Deubel, das sie auf seiner Homepage gefunden hatte, eines von Grasegger, das aus einer Werbebroschüre der Bank stammte, und eines von Ostler, das sie in der Zeitung entdeckt hatte. Es zeigte ihn zusammen mit einigen amerikanischen Kollegen.

Sailer betrachtete die Bilder und deutete auf Grasegger. »Den kenn i, des is der geldige Grasegger.« Er tippte auf Ostler. »Den a, der hot meiner Mutter die Hüftg’lenke g’macht.«

»Ja, Sailer, alles wichtige Männer. Der dritte schreibt sich Hubert Deubel und ist Bauunternehmer. Und weil das so bunte Hunde sind, hat sie vielleicht einer gesehen.«

Sailer nickte.

»Ach, Sailer, und fragen Sie nach Männern, die im Laufdress waren, ja?«

»Laufdress?«

»Na ja, eben so Zeug, das man beim Joggen trägt. Männer in Strumpfhosen.« Irmi grinste, den Gag hatte Sailer allerdings nicht ganz verstanden. Er nickte aber artig.

»Und wenn Sie was erfahren, rufen Sie mich an, gell?«

»Jo.«

Sie selbst machte sich auf zum Sägewerk in Partenkirchen. Die Größe der Gebäude war beachtlich. Irmi parkte ihr Auto und ging auf eine Halle zu, wo ein Mann gerade mit einem Radlader Sägemehl auf einen Kipper schaufelte.

»Brauchts ihr a Sägmehl? Da miassts ihr ins Büro. Vui hom ma nimma.«

Irmi lachte. Sägemehl wurde zur Rarität, vor allem im Winter. Seit die Pelletheizungen boomten, gab es das ehemalige Abfallprodukt nur noch zu Preisen, bei denen man annehmen musste, jemand hätte Diamanten daruntergemengt.

»Nein, danke, wir streuen mit Stroh ein, aber ich bräuchte den Chef.«

»Im Büro!« Er wies zu einem Blockhaus hinüber. »Da huift ma Eana weiter.«

Irmi nickte, schlenderte über den Platz und öffnete die Tür. Das Büro sah aus wie die Unterkunft eines kanadischen Trappers. Ein Holztresen, auch die Schreibtische im Hintergrund aus Holz, ein Schwedenofen, ein paar Holzsessel aus Birke. Dieses Büro war definitiv eine gute Visitenkarte für jemanden, der mit Holz arbeitete.

Ein junges Mädchen sah sie fragend an. »Bitte?«

»Ich hätte gerne Florian Eitzenberger gesprochen.«

»Der is unterwegs. Die Roswitha is do.«

»Auch gut, wo finde ich sie?«

»Sie is drüben im Haus. Soll i anrufn?«

»Nein, ich geh schnell rüber.« Irmi lächelte das Mädchen an. »Wirklich ein hübsches Büro.«

»Ja, des macht da Chef ois selber. Die Stühl a.«

»Toll!«, sagte Irmi mit Inbrunst und zog die Tür schnell hinter sich zu. Sie war froh, dass sie ihre Identität nicht hatte lüften müssen. Daran würde sie bei Roswitha Eitzenberger allerdings nicht vorbeikommen.

Auch das Wohnhaus war ein Blockhausbau aus schweren Balken. Irmi läutete. Eine Frau mit grauem Haar und Kurzhaarschnitt öffnete. Wenn das Roswitha Eitzenberger war, sah sie älter aus als die fünfundfünfzig, die sie nun zählen musste.

»Frau Roswitha Eitzenberger?«

»Ja?«

»Irmi Mangold von der Polizei. Darf ich reinkommen?«

Frau Eitzenberger nickte und schien keineswegs überrascht zu sein. Sie führte Irmi in eine Wohnküche, die wieder den Werkstoff Holz in Perfektion umgesetzt hatte. Die helle Küchenzeile hatte dunkle Intarsien, die schlichte Eckbank ebenfalls. Der ganze Raum spielte mit klaren Formen und dem Kontrast von dunklem und hellem Holz.

»Ist das schön! Ein Werk Ihres Sohnes?«

»Ja, Flori hat nach seiner Ausbildung als Zimmerer in Rosenheim noch Holzbau studiert, aber eigentlich ist er am liebsten Möbeldesigner. Kaffee?«

»Gerne.« Diesmal wurde der Kaffee wie bei ihr zu Hause ganz traditionell mit heißem Wasser und im Porzellanfilter aufgebrüht. Roswitha Eitzenberger stand mit dem Rücken zu Irmi. Sie war mittelgroß, etwas mollig, trug Jeans und einen Wolljanker.

»Frau Eitzenberger, Sie wissen vom Tod des Ernst Buchwieser?«

»Sicher.«

Irmi wartete eine Weile, aber Frau Eitzenberger schwieg.

»Sie sind die Erste, die nicht sagt, wie betroffen sie ist.«

»Weil ich nicht betroffen bin.«

»Empfinden Sie so etwas wie Genugtuung? Ernst Buchwieser stirbt dreißig Jahre später an der Stelle, an der Ihr Mann verunglückt ist.« Es war allmählich an der Zeit, die höfliche Konversation einzustellen.

Roswitha Eitzenberger drehte sich um, stellte zwei dickbäuchige Keramiktassen auf den Tisch, Milch und Zucker, und schenkte den Kaffee ein.

»Genugtuung?«, wiederholte Irmi.

Frau Eitzenberger schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich war erschrocken. Die Erinnerungen waren auf einmal wieder da.«

»Erinnerungen an damals? An die Fünf Freunde?«

»Die Fünf Freunde? Das waren zwei Profilneurotiker und ihre Lakaien!«

»Sie meinen, Ernst und Quirin waren die Profilneurotiker und die anderen drei die Lakaien?«, fragte Irmi.

»Ganz genau, und Kasperletheater war das dazu. Die ergingen sich in endlosen Diskussionen und in Weltrettungsgesprächen. Aber mit der Realität hatte das alles nichts zu tun.«

»Mit Ihrer Realität, oder?«

»Jede Realität ist immer nur die eigene. Ich hatte ein Kind, ich hatte durchwachte Nächte und meine Arbeit als Floristin. Mein Leben bestand aus Stillen, Windeln, Kindergarten und Tagen, die immer zu wenig Stunden hatten. Ich hatte eine Schwiegermutter, der ich nichts recht machen konnte. Das war die Realität, da musste ich nicht Nicaragua retten. Flori hatte auch ein Kind, aber er hat es vorgezogen, diesem Rattenfänger Ernst hinterherzurennen.« Sie klang wütend. Bis heute war sie wütend.

Das war gut, Rattenfänger! Das charakterisierte Ernst Buchwieser bisher am besten, fand Irmi. »Das heißt, Sie hatten mit der Clique nie etwas zu tun?«

»Es gab schon mal Feste, auf die ich mitgegangen bin, ich mochte Hubert wirklich gern, der war irgendwie bodenständig. Aber mein Leben war eben wirklich ein ganz anderes als bei den Jungen. Es fing schon damit an, dass ich um elf todmüde war, da sind die ja erst losgezogen in ihre Kneipen.«

»Entschuldigen Sie, aber war das Kind geplant?«, fragte Irmi.

»Nein, natürlich nicht. Ich wollte später einen eigenen Blumenladen eröffnen oder eine Zusatzausbildung in Landschaftsgärtnerei machen. Ich wollte kein Kind mit zwanzig. Aber ich hatte niemanden außer Flori. Meinen Vater hab ich nie gekannt, und meine Mutter war Alkoholikerin und hatte nicht einen Funken von Interesse an mir. Da kriegt man das Kind, da will man es selber besser machen.«

Irmi verstand die Frau. Das konnte sie nachvollziehen. »Warum haben Sie denn dann überhaupt geheiratet?«

Sie lachte trocken. »Na, weil Theresia das angeordnet hatte.«

»Floris Mutter?«

»Ja, und einer Theresia Eitzenberger widersprach man nicht.«

»Sie war die Patriarchin?«

»Darauf können Sie wetten. Ich war Luft, ich war einfach nur lästig. Sie fand es völlig in Ordnung, dass Flori durch Abwesenheit glänzte. ›Kinder und Haus san Weiberarbeit‹, pflegte sie zu sagen. ›Mander ziehen in die Welt.‹ Tolle Welt, in die Flori da zog.« Sie lachte wieder kurz auf.

»Hat sie deshalb auch die Vermisstenanzeige aufgegeben? Weil sie der Chef war?«, fragte Irmi.

Ihr Blick verdüsterte sich. »Schauen Sie, ich war es ja gewohnt, dass der Flori immer erst in den frühen Morgenstunden nach Hause kam. Ich war es auch gewohnt, dass er zuviel soff zusammen mit seinen tollen Gymnasialfreunden. Intelligenz säuft, Dummheit frisst, das war so ein Spruch von Quirin Grasegger. Na, jedenfalls war er an dem Morgen gar nicht da, und Theresia fuhr mit dem Auto zu den anderen vier Jungs und zu Maria, glaub ich.«

»Und die konnten nichts sagen?«

»Nein, und dann wurde die Polizei eingeschaltet…«

»…die ihn zwei Tage später fand?«, ergänzte Irmi.

»Ja.« Frau Eitzenberger schluckte schwer.

Irmi trank etwas von dem Kaffee und sah sich noch mal in dem Zimmer um, das so viel Stil und heimelige Ruhe ausstrahlte. Hier hätte man lange einfach so dasitzen können – wenn man nicht einen Fall zu lösen hätte und immer in den Wunden anderer hätte stochern müssen.

»Was ist 1978 wirklich passiert?«, fragte sie dann.

»Das wüsste ich auch gerne.«

»Muss ich das so verstehen, dass Sie die ganze Geschichte anzweifeln?« Irmi runzelte die Stirn.

Roswitha Eitzenberger nickte. »Ja, und zwar bis heute. Flori wäre nie allein nachts ein Rennen gefahren. Was für ein Quatsch! Ich bin mir sicher, dass die anderen dabei gewesen sind.«

»Haben Sie sie gefragt?«

»Natürlich, alle. Ich habe gefragt, gedroht, gefleht. Vor allem Maria, weil ich dachte, dass sie als Frau mich am ehesten verstehen würde. Doch auch bei ihr war nur eine Mauer des Schweigens. Ich war mir sicher, dass die alle lügen. Aber gegen die war nicht anzukommen.« Da war sie wieder, diese Wut.

»Sie sind dann weggezogen?«, erkundigte sich Irmi.

»Ja, ich konnte das alles nicht mehr aushalten. Ich bin mit dem Bub nach Tirol, ich hatte eine neue Beziehung, die aber auch gescheitert ist. Ich war einfach nicht so weit. Ich war zu verletzt. Ich vertraute niemandem mehr. Ich hatte fast eine Art Verfolgungswahn.«

»Und dann sind Sie trotzdem zurückgekommen?«

»Ja, das grenzte fast an ein Wunder. Theresia Eitzenberger stand bei mir in Landeck vor der Tür. Sie bat mich zurückzukommen. Weil sie ihren Enkel vermisste und weil sie ihm den Betrieb überschreiben wollte.«

»Einfach so?«, fragte Irmi überrascht.

»Nein, nicht einfach so. Ich habe lange überlegt. Aber Florian hat nur von der Oma geredet, vom Sägewerk und von den Maschinen. Er hat immer wieder gesagt, dass Holz einfach am besten riecht. Ich wollte nicht so egoistisch sein und ihm das alles vorenthalten. Also habe ich meine Wohnung in Landeck aufgegeben.« Sie lächelte. »Na ja, nicht gleich, ich hab sie noch drei Monate behalten. Dann bin ich heim. Das Komische war, es fühlte sich wirklich an wie daheim. Ein Daheim mit all den alten Gesichtern, all den alten Problemen, aber eben doch daheim. Verstehen Sie?«

Irmi nickte. Das verstand sie – nur zu gut. »Wie kamen Sie denn mit Ihrer Schwiegermutter zurecht?«

»Überraschend gut, sie war nicht mehr dieselbe. Sie hatte ihre polternde Art verloren, sie war nicht mehr die Patriarchin. Es war, als sei mit dem Tod ihres Sohns auch ihre Kraft gestorben. Sie muss in diesen fünf Jahren durch viele Höllen gegangen sein. Das Schönste für sie war, dass Florian diese Begeisterung für Holz hatte, und zwar immer schon. Wenn es einen Jungen gab, bei dem klar war, was er später mal machen würde, dann war es Florian.«

»Das klingt nach einem versöhnlichen Ende. Hat der Florian es denn damals verstanden, dass sein Vater gestorben ist?«

»Wie ein Fünfjähriger das eben verstehen kann. Wir haben halt erzählt, dass der Papa im Himmel auf einer Wolke sitzt und so weiter. Als Florian die Zimmererlehre fertig hatte, war er neunzehn. Da hat er eines Tages wissen wollen, wer sein Vater ist. Also ich meine, was für ein Typ. Wir haben alte Fotos angesehen, und Sie werden lachen, es war das erste Mal seit fünfzehn Jahren, dass ich sie mir angesehen habe.«

Irmi war nicht zum Lachen. »Das kann ich nachvollziehen. Wie war dieses Eintauchen in die Vergangenheit?«

»Erst schmerzlich, aber hinterher war ich wie befreit. Ich hatte meinen Frieden mit Flori gemacht, und ich war dankbar, dass er mir letztlich ja doch ein Zuhause geschenkt hat.«

»Und Florian?«

Sie lächelte ein bisschen wehmütig. »Er ist wirklich talentiert. Er hat eine ganze Reihe von Preisen für seine Arbeiten bekommen. Er ist ein sensibler Bursche, halt ein Kreativer mit allem, was das bedeutet. Er kann wie manisch arbeiten, und auf einmal kommt er ins Zweifeln, er liebt und hasst, sein Leben war lange eine Achterbahnfahrt. Er ist jetzt Mitte dreißig, langsam wird er ruhiger.«

Irmi lachte kurz auf. »Ja, bei den Männern dauert das immer etwas länger mit dem Erwachsenwerden. Das heißt, so einfach war es für ihn nicht, diesen Unfall seines Vaters zu verarbeiten oder anzuerkennen, oder?«

»Nein, und ich habe auch ihm gegenüber keine Zweifel daran gelassen, dass ich das auch nicht als Unfall anerkenne. Theresia hat immer gesagt, man müsse die Toten in Frieden ruhen lassen. Aber Florian war mit zwanzig ein wütender junger Mann. Er hat die anderen vier zur Rede gestellt, auch Maria.«

»Die haben ihm aber auch nichts anderes gesagt, nehme ich an.«

»Natürlich nicht, aber darüber ist eine Freundschaft mit Hubert Deubel entstanden. Er hat einen sehr guten Draht zu Florian, und die beiden haben ja diese gemeinsame Begeisterung für Architektur und Holzdesign. Inzwischen arbeiten sie eng zusammen. Hubert hat ihm sehr schöne Aufträge vermittelt.«

»Und die anderen Herren?«, fragte Irmi.

»Ach, wissen Sie, Florian trifft sie von Zeit zu Zeit. Ich war mir da nie so sicher, wie ich das finden soll. Es kam mir immer so vor, als hätten die Fünf Freunde den einen Flori gegen den nächsten Flori ausgetauscht. Einfach in eine jüngere Ausgabe verwandelt.« Sie sah aus dem Fenster.

Irmi nickte, trank ihren Kaffee und wartete, bis Roswitha Eitzenberger sich ihr wieder zuwandte und fortfuhr: »Aber es schien und scheint ihm gutzutun. Die Aggression hat sich gelegt. Sie haben ihm auch immer erzählt, wie toll sein Vater gewesen ist. Das war nett, denn so toll war er gar nicht. Er war ein unbeherrschter Hitzkopf. Ich bin froh, dass das bei Florian nur sehr selten durchblitzt oder besser: dass er es heute eher in kreative Arbeit ummünzen kann.« Wieder machte sie eine Pause. »Und dann werden mit der Zeit die Farben um so Vieles blasser. Das sind nicht mehr die ungestümen Helden von damals, das sind erwachsene Männer, die alle im Berufsleben stehen. Sepp Ostler ist nur noch in der Klinik und auf Ärztekongressen, Quirin Grasegger furchtbar wichtig in der Provinzprominenz, auch Hubert Deubel arbeitet ungeheuer viel, nur Ernst…« Sie überlegte kurz. »Ernst ist sich am ehesten treu geblieben: als Rattenfänger und ewiger Visionär.«

»Mochten Sie ihn?«, fragte Irmi nach einer Weile.

»Schwer zu sagen. Er war ein ungewöhnlicher Mensch, über den immer geredet wurde, der im Zentrum stand, auch wenn er gar nicht da war.«

»Bis in den Tod«, sagte Irmi. »Wir reden auch heute über ihn. Ich muss das tun, denn irgendjemand hat ihn ermordet, und, Frau Eitzenberger, ich glaube, der Mord hat etwas mit dem Tod von Flori damals zu tun. Ich muss Sie noch mal fragen: Wissen Sie irgendetwas, was nicht in den Polizeiakten steht?«

Roswitha Eitzenberger war wie aufgeschreckt. »Nein, um Himmels willen! Wollen Sie jetzt nach dreißig Jahren sagen, das sei kein Unfall gewesen? Jetzt?«

Irmi tat es leid, diese Frau aus ihrer so mühsam erworbenen Ruhe und trügerischen Idylle herausholen zu müssen. »Ich kann noch gar nichts sagen, ich weiß nur: Ich muss Ihren Sohn sprechen. Wo könnte ich ihn finden?«

»Er ist bei Hubert Deubel im Büro.« Roswitha Eitzenberger sah gequält aus. Auf einmal wirkte sie wirklich wie eine alte, abgearbeitete Frau.

»Das finde ich schon. Sie können ihn ruhig anrufen, dass ich komme.« Irmi lächelte ihr aufmunternd zu und fühlte sich doch selbst so müde. »Ach, Frau Eitzenberger, was macht eigentlich Ihre Schwiegermutter? Sie ist hier noch gemeldet.«

Wieder schoben sich Schatten über Frau Eitzenbergers Augen. »Machen tut sie nichts mehr. Die Macherin von einst ist bettlägerig und hat schweren Alzheimer. Sie erkennt uns nur manchmal. Sie liegt oben, Flori und ich pflegen sie, zweimal täglich kommt ein Pflegedienst, am Sonntag auch den ganzen Vormittag, damit ich in die Kirche kann und dann noch auf den Friedhof.« Sie blickte aus dem Fenster. »Ich denke nur, bald müssen wir den Hospizverein bemühen.«

Das klang sarkastisch, aber Irmi wusste, dass jeder dem Sterben auf eigene Weise begegnete. »So schlimm?«

Sie nickte.

Irmi drückte ganz kurz ihren Arm. »Meine Mutter ist vor einiger Zeit schwer dement zu Hause gestorben.« Sie sparte sich die üblichen Phrasen wie: »Ach, ich weiß, wie es Ihnen geht«, dieses leere: »Viel Kraft wünsch ich Ihnen« oder: »Hoffentlich finden Sie Halt in der Familie«. Das würde die Frau, die ihr gegenübersaß, nicht trösten. Es war ihre Realität. Jeder hatte eben seine eigene Realität zu überleben.

Roswitha Eitzenberger sah Irmi in die Augen. »Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie etwas erfahren? Von Flori? Damit ich es nicht aus der Zeitung erfahren muss?«

»Das versprech ich.« Der Satz war Irmi ernst, sehr ernst.