15
Zu Hause angekommen, protokollierte sie das Gespräch mit Martina Jochum. Maria Buchwieser und Hubert Deubel waren also tatsächlich ein Paar! Morgen würde sie sich die beiden erneut vorknöpfen müssen.
Aber zuerst – und es kam ihr so furchtbar profan vor, dass ihr das gerade jetzt einfiel – musste sie sich ein Dirndl kaufen. Es führte kein Weg daran vorbei, denn sie war am Sonntag auf eine Hochzeit eingeladen. Die Tochter ihrer Cousine heiratete und hatte sich gewünscht, dass die Gäste in Tracht kamen.
Irmi hasste Einkaufen, das stand außer Frage. Wäre es um eine normale Jeans gegangen, na gut – aber sie hatte wirklich gar keine Lust, in einen dieser schicken und teuren Trachtenläden vorzudringen und von einer frenetischen Verkäuferin eins nach dem andern angereicht zu bekommen. Heute hatte ein entsprechender Prospekt der Tageszeitung beigelegen: schöne Edeldirndl aus schönen Stoffen, schöne Frauen in maximal Größe sechsunddreißig – da war der Frust doch vorprogrammiert.
Es gab nur ein Geschäft, in das sie sich zu diesem Zweck hineinwagte: den Second-Hand-Laden in der Burgstraße. Den würde sie als Erstes aufsuchen und dann Maria und Hubert, das Paar, von dem halb Garmisch gewusst hatte. Sie hätte nicht sagen können, was ihr unangenehmer war.
Sie war schon einige Zeit nicht mehr dortgewesen, verändert hatte sich wenig. Die Theke, die überquoll von Ware, der Raum rechts mit den Jankern, die beiden verwinkelten Hinterzimmer mit Blusen und Dirndln. Die Inhaberin erzählte gerade einer Kundin von ihrer wetterfühligen Katze, die besser war als jedes Barometer: Sie ging nämlich immer schon zwei Tage, bevor Sauwetter drohte, auf Tauchstation. Die Geschichte wurde nur kurz unterbrochen, als sich die Ladenbesitzerin an einen jungen Mann wandte und mit kernigem Werdenfelser Charme seine Hosenwahl kommentierte: »Host deine Wadln da-hoam vergessn?«
Irmi verschwand im hintersten Raum und zupfte lustlos an den Dirndln in Größe vierundvierzig. Würde das überhaupt genügen? Sie war eben keine Elfe wie Maria und dann auch noch fast einen Meter achtzig groß. Im Blusenzimmer waren zwei Frauen damit beschäftigt, sämtliche Teilnehmerinnen ihres Samstagvormittags-VHS-Kurses »Englisch für den Urlaub« durchzuhecheln. Offenbar waren sie gerade bei der Kursleiterin angelangt.
»Mei, die Maria schaugt aber schlecht aus. Jetzt is se eh scho so boanig und nimmt oiwei no mehr ab.«
»Kein Wunder, oder?«
»Na, kimm. Die hot ean doch scho lang nimmer megn. Und er sie a ned. Der hot doch an jedem Finger oane, und dann hockt er doch oiwei bei der Schriftstellerin, sogn d’ Leit.«
»Dabei ist das so eine Hübsche. Aber so einem wie dem Buchwieser hat noch nie eine gelangt.«
Das Dirndlgwand, das Irmi gerade vom Ständer gezogen hatte, entglitt ihr und fiel samt Bügel zu Boden. Rasch hob sie es wieder auf. Von drüben hörte man ein Lachen.
»Sicher ned. Alles kimmt wieder zruck. Jeder hat sei Packerl zu tragen. Des ko ma sich gar ned vorstellen, dass oaner den Buchwieser Ernstl übern Haufen schiaßt. Mir san doch ned in Amerika oder sonstwo bei die Kanaken.«
»Und dann noch auf der Abfahrt.«
Es war ein Weilchen still. Irmi nestelte weiter an den Dirndln und starrte zur Türöffnung.
»Auf der Kandahar, da liegt a Fluach, des sag i dir.«
»Ja, das könnt man durchaus glauben. Das war schon tragisch damals, 1978. Und jetzt schon wieder. Der Buchwieser ist fast an der gleichen Stelle gelegen wie einst der Flori. Das ist doch grausig, oder?«
»Ja, grausig. So, und jetzt müss mer schaugn, dass ma in die VHS kemma. Es is scho glei elfe.«
Die Türklingel ging, und Irmi atmete tief durch. Langsam hängte sie das Dirndl, das sie herausgezogen hatte, wieder auf. Das musste warten. Die Inhaberin war in ein Hosenberatungsgespräch (»Der hot koan Oarsch in der Hos’n«) vertieft und quittierte Irmis Gruß mit einem Nicken. Die Katze auf der Theke blickte unwirsch, und Irmi trollte sich nach draußen.
Die Ski-WM von 1978. Der Depp vom Gudiberg. Die abgerissenen Stöcke. Der unselige vierte Platz. Später dann der Suizid von Kurt Buchwieser. 1978 – ein tragisches Jahr, na gut. Irmi hatte zwei abgebrochene Stöcke bis gerade eben nicht so richtig tragisch gefunden. Und plötzlich fiel ihr auf, dass sie stets und immer über den Gudiberg gesprochen hatten, von der Kandahar war nie die Rede gewesen! Und wer um alles in der Welt war Flori?
Irmi sah auf die Uhr. Maria Buchwieser würde gleich ihren Kurs geben, vielleicht konnte sie sie noch abfangen.
Die Volkshochschule mit ihren vielen Klötzchenbauten und all den Eingängen. Was ist wohl Luna-Yoga?, fragte sich Irmi, während sie vor dem Hauptgebäude stand und den Raumbelegungsplan studierte. Auf einmal sah sie Maria Buchwieser kommen. In der schwarzen Hose und der taillierten Wolljacke sah sie zerbrechlich aus. Es schien, als hätte sie seit ihrem letzten Zusammentreffen am Sonntag einige Kilo abgenommen.
»Entschuldigung, könnte ich Sie kurz sprechen? Ginge das? Falls Sie Ihren Kurs einige Minuten warten lassen können.«
Maria Buchwieser nickte. »Ich sag nur schnell Bescheid.«
Wenige Minuten später war sie wieder da. »Haben Sie etwas wegen dem Film erfahren? Und was hat Quirin eigentlich damit zu tun?«, fragte sie.
»Zu dem Film möchte ich momentan nichts sagen. Quirin Grasegger hat insofern damit zu tun, als er von dem Projekt gewusst hat. Ich möchte Ihnen eigentlich eine ganz andere Frage stellen. Mittlerweile habe ich nämlich mit Martina Jochum gesprochen. Warum haben Sie mir verschwiegen, dass Frau Jochum mit Ihrem Ernst zusammen war und Sie ein Verhältnis mit Hubert Deubel haben?«
Maria Buchwieser sank auf die Treppenstufen am Eingang und schwieg.
»Frau Buchwieser, Ihr Mann hatte ein Verhältnis, Sie haben eins. Sie erzählen mir lange und eindrücklich von den Fünf Freunden, und das verschweigen Sie?«
»Was hätten Sie gedacht? Was, Frau Mangold? Sie hätten doch sofort Hubert verdächtigt und mich gleich dazu. Weil Sie geglaubt hätten, dass wir beide Ernst aus dem Weg hätten haben wollen oder dass ich Martina gehasst hätte. Aber beides stimmt nicht!« Maria Buchwieser hatte etwas Flehendes in den Augen.
Nein, diesmal würde sie sich vom Zauber dieser Fee nicht einwickeln lassen. Diesmal nicht, und wenn sie auf ewig der Trampel war, der es nie zur Elfe bringen würde. Sie straffte die Schultern. »Ja, Frau Buchwieser, was hätte ich wohl gedacht? Natürlich hätte ich Ihren Freund zu den Verdächtigen gezählt. Aber was, glauben Sie, denke ich jetzt? Mit Ihrem Schweigen machen Sie es doch viel schlimmer!«
»Ich weiß, aber ich konnte nicht anders. Mein Mann wird erschossen aufgefunden, und ich soll Ihnen sagen, dass ich eine Beziehung zu einem seiner Freunde habe?«
»Ja, und Sie hätten mir ja auch gleich sagen können, dass Ihr Mann mit Martina Jochum zusammen war. Jeder von Ihnen wusste vom anderen, oder?« Irmi beobachtete sie genau.
Maria Buchwieser atmete tief durch. »Ja.«
»Ein Ja genügt mir nicht. Was war das: Ringelpiez mit Anfassen, Bäumchen wechsel dich, modern times?« Irmi wurde lauter, als sie eigentlich wollte.
»So einfach war das alles nicht. Und es ging auch nicht ohne Verletzungen ab. Ernst hatte immer andere Frauen, in all den Jahren, und irgendwann wurde aus Hubert mehr als ein Freund. Insgeheim hatte ich immer gehofft, Ernst würde erwachsen werden. Ich hätte Hubert aufgegeben, alles aufgegeben, wenn Ernst mir einmal hundert Prozent von sich gegeben hätte, ach was: achtzig Prozent hätten mir genügt! Hundert Prozent Buchwieser gab es eh nur für ihn selbst.«
Maria Buchwieser kauerte immer noch auf den Stufen. Es hatte zu regnen begonnen.
»Stehen Sie bitte auf.« Irmi schob Maria behutsam bis vor die Vitrine mit der Raumaufteilung. Hier konnte man sich unterstellen. Es war kalt und windig.
»Weiß Hubert Deubel, dass Sie ihn gar nicht richtig lieben?«, fragte Irmi.
»So stimmt das nicht, ich liebe ihn. Anders eben. Leiser.«
»Und er?«
»Er liebt mich, aber er fühlt sich seiner Frau verpflichtet. So lange ich ihn kenne, also ich meine den erwachsenen Hubert, nicht den Cliquen-Hubsi von damals, ist er in Sorge um seine Frau.«
»Weiß sie denn Bescheid?«
»Sie ahnt wohl, dass Hubert eine Beziehung hat, sie gestattet ihm das auch, aber es ist gut, dass sie nicht weiß, dass es sich um mich handelt.«
»Alle wissen es, nur sie nicht? Ich meine, auch die anderen Fünf Freunde wissen doch Bescheid, oder?«, fragte Irmi.
»Ja, aber wir alle wollten Angelika schützen.«
»Wie ehrenhaft!« Irmi konnte ihren Sarkasmus schwer ablegen.
Maria Buchwieser sah zu Boden. »So einfach war und ist das alles nicht«, wiederholte sie.
»Gut, lassen wir das. Jetzt muss ich noch mal auf das Jahr 1978 zurückkommen. Wir haben lange über Kurt gesprochen, über sein Pech beziehungsweise über die Manipulation seiner Stöcke. 1978 ist aber noch etwas passiert, oder?«
Maria Buchwieser schwieg.
»Wer war Flori?«, hakte Irmi hartnäckig nach.
»Florian Eitzenberger.«
»Einer der Fünf Freunde, oder?«
»Genau.«
»Maria, ich glaube Ihnen gern, dass all diese alten Sachen schmerzlich für Sie sind, aber könnten Sie mir bitte jetzt mal die ganze Geschichte erzählen?« In Irmis Stimme lag eine leise Gereiztheit. Warum ließen sich die Leute immer jeden Fitzel einzeln aus der Nase ziehen?
»Einige Wochen nach der WM gab es einen tragischen Unfall. Florian ist nachts sturzbetrunken die Kandahar gefahren und dabei tödlich verunglückt. Er ist gegen einen Baum gedonnert. Er war wohl sofort tot«, sagte Maria Buchwieser leise.
Irmi ließ das Gehörte auf sich wirken. Einer der fünf Local Heroes, einer aus der Gang um Ernst Buchwieser, raste nachts gegen einen Baum? »Ich verstehe das richtig? Er ist im Dunkeln besoffen die Kandahar runter?«
»Ja, nur mit Stirnlampe ausgerüstet.«
»Und warum, bitteschön?« Irmi starrte Maria Buchwieser an.
»Es ging um irgendeine Wette. Er wollte nachts eine schnellere Zeit als Kurt fahren. Das stand alles noch im Zusammenhang mit diesem ganzen dummen Spott um den DvG. Seine Zeit in der Nacht unterbieten zu wollen, war wieder ein totaler Affront gegen ihn.«
Irmi versuchte sich in die Situation hineinzudenken. Das fiel ihr einigermaßen schwer. Warum hatten die sich alle so auf Kurt eingeschossen? Warum hatte man die Schmach nicht einfach ruhen lassen? Genau diese Frage stellte sie auch Maria Buchwieser.
Die überlegte nur kurz. »Weil Schwache mit ihrer Schwäche provozieren? Weil sie nicht ein Mal laut und vernehmlich rufen: ›Halt, es reicht!‹ Kurt hat das nie getan.«
»Ja, das verstehe ich, aber warum machte Ernst da eigentlich mit? Er litt doch auch unter der Verspottung seines Bruders, oder?«
»Schon, aber sehen Sie, das war Ernsts Art. Er hätte nicht einfach gegen die Idee gewettert, er hätte nie versucht, die Sache zu stoppen. Er war immer der Meinung, es sei besser, mittendrin zu sein oder gleich vorneweg zu stürmen. Er wollte letztlich sehen, wie der Flori sich selbst bloßstellt. Ernst war sich sicher, dass Flori niemals die Zeit eines Kurt Buchwieser hätte unterbieten können. Und damit hätte sich Flori ein für allemal lächerlich gemacht.«
Irmi schüttelte den Kopf. »Was für ein Irrsinn! Was für alberne Männlichkeitsrituale! Aber bitte, er war doch nicht allein auf der Piste? Er musste doch auch dokumentieren, wie lang er für die Abfahrt gebraucht hatte, oder?«
In Marias Augen lag so viel Schmerz, ihre Stimme brach wie splitterndes Glas. »Die Fünf Freunde waren komplett vor Ort. Die vier anderen Jungs waren oben am Start, Flori fuhr, und im Zielraum stand ich. Wir hatten Stoppuhren und Walkie-Talkies dabei. Ernst startete das Rennen, aber Flori kam nie unten an.«
Die Fünf Freunde, damals legendäre Gaudiburschen, heute honorige Bürger! Irmi hatte immer angenommen, dass es nach Ernst Buchwiesers Tod noch vier Freunde gab, aber da waren es ja längst nur mehr drei. Plötzlich musste sie an eine Tapete aus Kinderzeiten denken. Mit den zehn kleinen Negerlein, die alle endlos lange Giraffenhälse gehabt hatten wegen der ganzen Halsreifen. Und Riesenkreolen und krauses Haar. Heute gab es so was im politisch korrekten Kinderzimmer sicher nicht mehr, ebenso wenig wie Mohrenköpfe, die jetzt Schokoküsse hießen. In ihrer Schule hatte der Hausmeister Mohrenkopfsemmeln verkauft, und keine Mutter hatte da Bedenken gehabt. Weder wegen der politischen Aussage noch aus ernährungsphysiologischen Grundsätzen.
Irmi verscheuchte die Gedanken, die sie ablenkten, und versuchte, sich auf die Erzählung von Maria Buchwieser zu konzentrieren.
»Als die normale Fahrzeit längst überschritten war, habe ich nach oben gefunkt. Ernst konnte nur sagen, dass Flori losgefahren sei. Nach einer Weile kamen Quirin und Ernst unten an.«
»Ja und?«
»Sie sagten, dass Flori tot sei.«
»Aha, und dann sind die verbliebenen lustigen Freunde wieder zurück ins Evergreen, oder was?« Irmi wurde allmählich wütend. Auf Maria Buchwieser, mehr aber noch auf diese fünf vermaledeiten Freunde.
»Flori war tot, und Quirin war völlig durch den Wind. Wenig später sind Hubert und Sepp aufgetaucht. Dann hat Ernst die Sache in die Hand genommen. Er ist noch mal zur Unfallstelle aufgestiegen. Nach einer endlosen Zeit war er wieder da und hat gesagt, dass wir…«
»Halt, stopp! Frau Buchwieser, warum waren Sie dabei? Warum haben Sie das mitgemacht?«
»Ich war doch immer dabei. Das Maskottchen der Gang, die Offizielle an der Seite des Helden. Ich war dabei, wenn die Fünf Freunde zu ihren Abenteuern zogen. Ich war auserwählt. Beneidet. Gehasst von vielen Mädchen. Ich wollte das so. Damals.«
Es lag solch ein Schmerz in ihrer Stimme, dass Irmi unwillkürlich einen kleinen Schritt rückwärts machte. »Sie waren also am Ende alle im Zielraum, als Ernst wiederkam?«
»Ja, Quirin war völlig zusammengebrochen, der Hubert kotzte in einem fort, ich weinte, Sepp versuchte mich zu trösten. Und dann kam Ernst und sagte, wir sollten zusammenpacken und nach Hause gehen. Er schlug vor, dass wir uns am nächsten Tag wie immer im Drugstore zum Frühstücken treffen sollten.«
»Wie bitte? Sie haben Flori einfach liegen lassen?«
Maria Buchwieser nickte.
Irmi war sprachlos. Sie bemühte sich, ihre Gedanken zu sortieren. Hunderte von Fragen huschten vorbei. Bilder kamen und verflüchtigten sich wieder. »Und am nächsten Tag?«, war alles, was sie herausbekam.
»Passierte gar nichts. Das war es ja! Ich dachte, jede Sekunde würde uns die Polizei verhaften, aber es passierte eben gar nichts!«
»Aber Flori wurde doch vermisst?«, fragte Irmi.
»Ja, seine Mutter hatte ihn gesucht, natürlich auch bei uns. Wir haben alle gesagt, dass wir im Evergreen gewesen seien und sich dort unsere Wege getrennt hätten. Das hat ja auch gestimmt, bis zu einem gewissen Punkt.«
Bis zu einem gewissen Punkt! Was für eine Formulierung dafür, dass ein betrunkener junger Mensch in eisiger Nacht sein Leben auf einer Skipiste gelassen hatte! Das war einfach zu absurd, zu krank.
»Seine Mutter hatte ihn als vermisst gemeldet. Die Polizei hat ihn dann nach zwei Tagen gefunden. Es hatte in der Nacht, als wir, als Flori… Also, es hatte stark geschneit und am nächsten Tag noch einmal. Es war so ein typischer Frühjahrsschneefall, der mit aller Heftigkeit zeigen will, dass er noch die Macht hat. Dass er die Berge noch lange nicht aus seinen Krallen lässt. Nasser, schwerer Schnee war das.«
»Aber es muss dann doch eine polizeiliche Untersuchung gegeben haben?« Irmi war immer noch völlig konsterniert.
»Ja, gab es auch. Aber die verlief im Sand. Oder im Schnee, besser gesagt, im Schnee, der über alles Leid eine dicke weiche Decke legt. Wir haben alle ausgesagt, dass wir Flori nach dem Evergreen nicht mehr gesehen hätten. Ernst hat der Polizei sogar erzählt, dass Flori von einer Nachtfahrt auf Ski gesprochen hätte, aber dass ihn da keiner für voll genommen hätte. Wir hätten ihm alle nicht zugetraut, so was Hirnverbranntes zu tun. Am Ende haben wir das fast selber geglaubt.« Maria schluckte schwer.
Irmi erinnerte sich daran, wie Maria Buchwieser in ihrem ersten Gespräch Florian Eitzenberger erwähnt hatte, der inzwischen weggezogen sei. Sie hätte ihr damals auffallen müssen, diese leise Veränderung in ihrer Stimme. Weggezogen, ja auch das war ein Selbstbetrug. Und Hubert Deubel! Der Mann, der so klar und so artikuliert gesprochen hatte und der, als die Sprache auf Florian Eitzenberger gekommen war, plötzlich gestockt hatte. Wie blind war sie gewesen!
»Sie haben all die Jahre geschwiegen?«, fragte sie.
»Ja, wir hatten einen Pakt. Wir waren alle auf dem Wank und haben uns an den Händen gehalten und geschworen, dass wir für immer schweigen werden. Wir hatten einen Pakt…«, wiederholte Maria, »…mit dem Teufel.«
»Sie haben soeben Ihren Schwur gebrochen«, sagte Irmi leise.
»Ja, weil ich den Bann durchbrechen muss. Ich muss die Fesseln loswerden. Sehen Sie, Verlust bedeutet auch Freiheit. Ich habe keine Geschwister, meine Eltern sind tot. Ich habe keine Kinder. Ich hatte nur Ernst. Ernst und seine Ideale und Ideen. Ernst mit seiner Geschwindigkeit, die für mich viel zu hoch war. Jetzt kann ich mein eigenes Tempo wählen, aber ganz frei werde ich erst sein, wenn ich die Gespenster auch loswerde.«
»Und Hubert Deubel? Was ist mit ihm?«
»Ich weiß nicht, ob wir eine Zukunft haben. Ich weiß auch nicht, wann seine Frau sterben wird. Ob er dann ein Trauerjahr einhalten will. Ob er dann noch derselbe ist. Ich habe mir so oft gewünscht, dass Ernst einfach verpufft. Aber seit er wirklich weg ist, fühle ich eine furchtbare Leere. Er hat mein Leben so sehr regiert. Ich muss da für mich einiges klarkriegen, unter anderem auch, welchen Raum Hubert darin hat und haben wird.«
»Ihnen ist aber schon klar, dass das noch ein Nachspiel haben kann? Und dass Sie damit schwerwiegende Anschuldigungen gegen Grasegger, Deubel und Ostler erheben? Ich werde die Herren damit konfrontieren müssen. Vor allem Hubert Deubel.«
»Ja, ich weiß. Aber das Maskottchen will nicht länger in der Umkleidekabine warten. Oder am Rand des Spielfeldes. Ich werde in anderthalb Jahren fünfzig, das ist zu alt, um nur ein Spielzeug zu sein.« Maria Buchwieser klang entschlossen.
Irmi fühlte sich auf einmal völlig kraftlos. Verdammt! Wie hatten sie den Tod von Flori Eitzenberger einfach übersehen können? Kathi hatte doch in der Vergangenheit gegraben und explizit gesagt, dass nichts Relevantes passiert sei. Sie hatte das noch im Ohr: »Bloß ein paar Unfälle und Diebstähle.« Einer der Unfälle war der von Florian Eitzenberger gewesen – sie hätten gleich in diese Richtung ermitteln können. Wertvolle Zeit war verstrichen. Der Unfall hätte Kathi nicht entgehen dürfen. Auch nicht an einem Tag, an dem ihre Tochter verschwunden war.
Was hatte das alles mit dem aktuellen Fall zu tun? Im April 2008 starb Ernst Buchwieser auf der Kandahar. Im April 1978 war Florian Eitzenberger gestorben. Dreißig Jahre früher, im Spätwinter oder Vorfrühling. Was, um Himmels willen, war das hier?
Sie hatten einen Pakt geschlossen. Und Maria hatte den Pakt aufgekündigt. Was, wenn auch Ernst den Pakt aufgekündigt hatte? Der Gedanke kam blitzartig.
»War das alles, Frau Buchwieser?«, fragte Irmi.
Maria Buchwieser schüttelte den Kopf. Sie fingerte in ihrer Umhängetasche. Zögerlich förderte sie einen Computerausdruck zutage. »Ich habe noch etwas gefunden.« Sie reichte Irmi das Blatt.
Irmi überflog es. Es war wieder ein Drehbuch. Die Szenen des Films waren die gleichen. Aber der Text war anders. Der Film, den Lutz und Robin drehen sollten, war in diesem Skript mit einem komplett anderen Text unterlegt. Mit den Geisterstimmen aus der Vergangenheit. Mit den Stimmen von Kurt und Flori.
Irmi hatte das Gefühl, als würden jeden Moment ihre Beine den Dienst versagen. Sie bekam nichts heraus als: »Woher haben Sie das?«
»Aus Ernsts Computer. Ich habe drin gestöbert. Ich weiß eigentlich nicht, warum. Vielleicht, um das alles zu verstehen.«
Irmi schluckte schwer. »Vielleicht wollte er mit der Geschichte von damals an die Öffentlichkeit gehen? Er wollte seine damaligen Freunde denunzieren und hat außerdem zwei Schüler dazu missbraucht.« Wie hatte Jochum gesagt: Großes Kino. Breitwand mit Dolby Surround. Ernst Buchwieser hatte mit Getöse und Dramatik eine Bombe platzen lassen wollen.
»Sind Sie sicher, dass niemand von dem Plan wusste?«, fragte Irmi.
»Ich bin mir schon lange nicht mehr sicher. In mancherlei Hinsicht.«