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»Sie warten dann bitte hier«, sagte Irmi schließlich und verließ mit Kathi den Raum, nachdem sie Sailer als Aufpasser beauftragt und den Herren anheim gestellt hatte, ihre Anwälte zu informieren.

Es war ein Albtraum. Ein schlechter Film, ein sehr schlechter. In ihrem Büro sank Irmi auf einen Stuhl.

»Garmischer Roulette. Drei Freunde, drei Musketiere, einer für alle, alle für einen. Keiner sollte die Schuld allein auf sich laden. Keiner sollte wissen, wer geschossen hat. Geteilte Schuld ist halbe Schuld. Ins Grab wollten sie diese geteilte Schuld nehmen. Genauso wie das Wissen, dass Ernst Buchwieser Florian Eitzenberger auf dem Gewissen hatte. Gott, in was sind wir da nur hineingeraten?« Sie stöhnte auf.

»Florian Eitzenberger junior hat ihnen die Waffen präpariert. Er hat sie am vorher festgelegten Ort abgelegt. Die drei holen sich die Waffen…« Kathi stockte.

»Da kam Buchwieser, sie haben gezielt, abgedrückt. Es war vollbracht.« Irmi war es auf einmal sehr kalt.

»Sie sind schnell verschwunden«, ergänzte Kathi.

»Mit reiner Seele, denn jeder konnte sich einreden, dass es nicht seine Kugel gewesen war.« Plötzlich kam Irmi die Aussage von Martina Jochum in den Sinn: Der Täter musste einer gewesen sein, der das Gefühl hatte, nicht gemordet zu haben. Es war kein herkömmlicher Mord, wahrlich nicht.

»Es war auch keiner der drei.« Kathi flüsterte fast. »Es waren doch drei Platzpatronen.«

»Sie haben es nicht gewusst. Sie glauben noch immer, sie hätten russisches Roulette gespielt. Sie zweifeln keine Sekunde daran. Und doch waren es drei Waffen mit Platzpatronen.« Irmi sah Kathi an.

»Die einer präpariert haben muss.« Kathi wurde noch leiser.

»Florian Eitzenberger. Der auf der anderen Seite der Piste stand und als Einziger scharf geschossen hat. Muss ein brillanter Schütze sein«, sagte Irmi ebenso leise.

»Warum? Aber warum?«

»Er wollte seinen Vater rächen, das war die Gelegenheit.«

»Aber er kannte die Wahrheit doch nicht, oder?«, meinte Kathi.

»Er muss es gewusst haben. Er weiß es womöglich schon lange und lebt mit diesem Wissen. Wartet auf seinen Tag. Arbeitet solange manisch an seinem Holz. Der Künstler, der in seinem Schaffen versinkt. So sehen ihn auch die anderen. Immer ein bisschen abwesend, dabei war er keineswegs abwesend. Er war angespannt bis aufs Letzte.«

»Und nun?«, fragte Kathi.

»Du informierst die Staatsanwaltschaft, ich würde die drei sauberen Freunde gerne dabehalten. Wir brauchen einen Haftbefehl für Eitzenberger. Ich muss mal schnell wohin, und dann fahren wir zu ihm.«

Fahren wir zu Eitzenberger, das klang wie ein netter kleiner Ausflug. Irmi ging langsam in den Waschraum. Dort blickte sie in den Spiegel. Sie sah aus wie immer. Schulterlange Locken, die schwer zu bändigen waren. Graue Strähnen. Eine gesunde Gesichtsfarbe, die tiefe Stirnfalte und die Fältchen um Augen und Mund. Gar nicht so viele, das mochte der Vorteil sein, wenn man nicht so ein Hungerhaken war. Sie sah aus wie immer. Dabei fühlte sie sich, als hätte sich etwas in ihrem Gesicht abzeichnen müssen. Das hier war der reinste Irrsinn.

Kathi wartete im Gang. »Sollten wir nicht Verstärkung anfordern?«, fragte sie.

»Können wir immer noch.«

Wortlos gingen sie zu Irmis Auto. Wortlos erreichten sie das Sägewerk. Der Pick-up stand vor dem Büro.

Das junge Mädchen war wieder da. Sie schien Irmi zu erkennen. »Suchen Sie Roswitha oder Florian?«, fragte sie.

»Florian«, erwiderte Irmi.

»Der ist irgendwo auf dem Gelände.« Sie machte eine vage Handbewegung.

Irmi nickte ihr zu, dann gingen sie an Bretterstapeln vorbei, an einer Halle mit Hackschnitzeln.

Irmi sah Florian schon von Weitem. Er stand auf einer Leiter und arbeitete mit einer Stihl an einem gewaltigen Holzklotz, der vielleicht mal eine Skulptur werden sollte. Die Frauen kamen näher. Irmi, die ihre Motorsäge so liebte, bewunderte seine Fähigkeiten. Das hätte sie auch gerne gekonnt.

Eitzenberger sah sie kommen. Er stellte die Stihl ab und stieg die Leiter langsam herunter. Irmi sah aus dem Augenwinkel, dass auch Kathi verblüfft war. Florian musste ein Typ nach ihrem Geschmack sein.

»Sie schon wieder«, sagte er nur zu Irmi und nickte Kathi zu. Die Bernsteinsplitter sprühten Lichtblitze.

»Herr Eitzenberger, ich muss Sie noch mal fragen: Wo waren Sie am Sonntagvormittag vor einer Woche?«, fragte Irmi.

»Im Büro, das hab ich Ihnen schon gesagt. Sind sie schwerhörig?«

»Nein, aber Ihr Pick-up ist vom Hof gefahren, dafür habe ich eine Zeugin«, sagte Irmi.

»Dann war ich halt schnell Semmeln holen.« Er klang gelangweilt, aber seine Augen verrieten ihn. Es lag höchste Anspannung in seinem Blick.

Gut, das konnte stimmen, in Garmisch gab es sicher Sonntagsbäcker. Irmi sah ihn scharf an. »War das, bevor Sie die Waffen an der Aule-Alm abgelegt haben oder danach?«

Es vergingen ein paar Sekunden, dann stieß er plötzlich die Leiter um – und rannte.

»Scheiße!«, rief Kathi und lief zusammen mit Irmi hinter ihm her. Doch er hatte sein Auto schon erreicht und schoss quietschend vom Hof.

Irmi und Kathi hechteten in ihres. Irmi schlingerte um die Kurve, den Pick-up im Blick. Kathi schaffte es, das Blaulicht aufs Dach zu setzen. Dann brüllte sie die Autonummer und den Fahrzeugtyp in ihr Handy und forderte Verstärkung an.

»Dieser Vollidiot!«, rief sie.

Eitzenberger schoss kreuz und quer durch Partenkirchen, bis er auf den gesperrten Weg entlang der Bahn einbog, Irmi folgte ihm. Eine Gruppe nordisch walkender Damen war wohl so ins Gespräch vertieft, dass sie die heranbrausenden Fahrzeuge zu spät registrierten. Der Pick-up rumpelte über den Wiesenrain, durchs Feld und schoss wie ein Katapult wieder auf den Weg. Das mochte ein Pick-up vertragen, Irmis Cabrio nicht. Sie hupte wie wild, die Damen sprangen zur Seite.

Der Pick-up geriet für kurze Zeit aus Irmis Blickfeld, auf der Ausfallstraße Richtung Grainau tauchte er wieder auf.

»Scheiße!«, rief Kathi noch mal. »Der fährt nach Tirol!« Sie tippte wie wild in ihr Handy. Schließlich hatte sie die Polizei in Reutte dran. »Bewegt’s eich, Burschen«, schloss sie ihre Rede.

Der Pick-up raste an Grainau vorbei und weiter Richtung Ehrwald. Irmi wünschte, dass die Bahnschranke zu sein möge, dort wo die Außerfernbahn die Straße kreuzte. War sie aber nicht. Auf der langen Geraden fuhr der Pick-up hundertfünfzig, der reinste Wahnsinn.

Irmi versuchte, so gut es ging, mitzuhalten. Sie verlor Boden. Griesen kam in Sicht, sie sahen den Wagen nur noch in der Ferne, und auf einmal war das Quietschen der Bremsen zu hören, ein Aufröhren des Motors. Der Pick-up war weg.

»Rechts, rechts!«, brüllte Kathi. »Der Irre fährt zum Plansee!«

Irmi schlingerte über einen kleinen Parkplatz, hinein in einen Feldweg. »Das packt der Audi nie«, rief sie.

»Weiter!« Kathi hatte ihr Handy wieder am Ohr. »Er kimmt über die Neidernach. Er kimmt am Plansee aussi, ihr müsst vor eam am Campingplatz Sennalpe sei!«

Irmi tat ihr Bestes auf dem ausgewaschenen Weg, der beständig anstieg. Ein uraltes Bundesrepublik-Deutschland-Schild begrüßte ein ebenso verbeultes Republik-Österreich-Schild. Man konnte hier fahren, wenn man fahren konnte. Aber ein Audi hatte eben nicht die Bodenfreiheit eines Pick-up.

Es wurde noch steiler und kurviger. Plötzlich, ganz plötzlich öffnete sich der Wald, und da lag der Plansee. Wäre es eine Wanderung oder eine Mountainbiketour gewesen, dann hätte man nun innegehalten und tief durchgeatmet. Nebelschwaden über dem See, Berge, die sich im Smaragdgrün des Sees spiegeln. Der Plansee, einer der schönsten Alpenseen! Bloß waren sie auf keiner Sightseeing-Tour.

Irmi schlingerte weiter und musste abrupt abbremsen. Der Pick-up und zwei Fahrzeuge der Gendarmerie versperrten den Weg.

Kathi sprang aus dem Auto. »Sauber, Burschen!«, meinte sie grinsend.

»Des kost di a paar Schnapserl, aber den guadn von deiner Mutter!«, entgegnete der Kollege und nickte Irmi zu. »Mir ham ihn.«

»Danke.« Das war alles, was Irmi im Moment herausbekam. Ihr Herz raste. Die Tiroler hatten Eitzenberger Handschellen angelegt, er stand da wie ein in Fesseln gelegtes Tier mit Bernsteinaugen.

»Herr Eitzenberger, eigentlich müsste ich Ihnen jetzt Ihre Rechte aufsagen und so weiter. Sie müssen momentan keine Aussage machen.« Sie fixierte ihn. »Aber bitte, warum? Warum, Herr Eitzenberger?«

»Weil Ernst Buchwieser mit dem Leben anderer Menschen gespielt hat. Er war eine Sau. Er hat meinen Vater auf dem Gewissen.« Er sagte das ganz ruhig.

»Sie wussten es? Alles?«, fragte Irmi.

»Ja, alles. Dass Buchwieser meine Mutter immer lächerlich gemacht hat vor seinen sauberen Akademikerfreunden. Dass er so lange provoziert hat, bis mein Vater dieses Rennen mitmachen musste. Dass er ihn gegen die Liftstütze hat fahren lassen. Dass er seine Frau um ihr Leben betrogen hat. Und Hubert um seins. Und das ist nur ein Bruchteil. Ernst Buchwieser, der Gott. Dass ich nicht lache. Er war eine selbstgefällige Sau.«

»Aber woher wussten Sie das alles? Die anderen haben das dreißig Jahre unter dem Deckel gehalten, nicht mal Maria Buchwieser kennt die ganze Wahrheit.«

»Hubert hat seinen privaten Laptop im Büro. Er führt Tagebuch. Schon lange. Und die Ereignisse von damals beschäftigen ihn bis heute in seinen Aufzeichnungen. Wenn man Hubert ein bisschen kennt, findet man das Passwort. Er war ein gebrochener Mann. Auch deshalb habe ich geschossen. Hubert ist wie ein Vater für mich. Den anderen hat Buchwieser getötet. Ich wollte nicht, dass mein zweiter Vater sich schuldig macht.«

Der deutsche Streifenwagen war vorgefahren. Als sie Eitzenberger abführten, musste Irmi wegsehen. Sie heftete ihren Blick auf den See, auf sein mystisches Smaragdgrün.

Dann straffte sie die Schultern. Sie dankte den Tirolern, nickte Kathi zu, und dann fuhren sie ab. Langsam diesmal, durch Heiterwang kamen sie, an Kathis Heimatort Lähn vorbei.

Sie schwiegen, es gab Momente im Leben, in denen die Sprache versagte. Und noch immer wusste Irmi nicht, wer dieser Ernst Buchwieser wirklich gewesen war. Die selbstgefällige Sau, der helle Hoffnungsträger für seine Schüler, die einzig wahre Liebe einer Mia J. Jordan? Ein wenig bedauerte sie es, ihn nie kennengelernt zu haben.

In Garmisch gab es einiges zu tun. Aber vorher wollte Irmi zwei Anrufe tätigen. Sie wollte Maria anrufen und Roswitha. Vor allem Roswitha Eitzenberger. Sie hatte es ihr versprochen.

Irmi bat Kathi, sie kurz allein zu lassen, um in Ruhe telefonieren zu können.

»Willst du dir das jetzt echt antun?«, fragte Kathi.

Irmi nickte. »Kathi, das Leben ist kein Heimatroman und auch kein Ponyhof.«

»Ich dachte, kein Wunschkonzert«, sagte Kathi müde.

»Das erst recht nicht.«