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Maria Buchwieser wohnte im Husarenweg. Auf dem Weg dahin kam Irmi in der Lazarettstraße an einem kleinen Bauernhof vorbei, vor dem der Misthaufen dampfte. Obwohl sie umgeben war von anderen Landwirten, erschien es ihr immer wieder verwunderlich, dass es zwischen Richard-Strauss-Festival und Weltcup, zwischen Casino und Kongresshaus noch echte Bauern gab. Mitten in Garmisch.
Das Haus der Buchwiesers war keine Protzburg, aber es lag auf einem großen Grundstück am Abhang des Kramerspitz.
Auf Irmis Klingeln hin öffnete eine ausgesprochen attraktive Frau.
»Sind Sie Frau Buchwieser?«, erkundigte sich Irmi.
Ihr Gegenüber nickte. Maria Buchwieser war Mitte bis Ende vierzig, schätzte Irmi, schlank und etwa einen Meter fünfundsiebzig groß. Ihre Kleidung bestand aus Jeans, Shirt und Weste – bestimmt teure Marken, die sie aber lässig und unaffektiert trug. Sie sah Irmi freundlich und fragend an. Ihr Gesicht war umrahmt von brünetten schulterlangen Haaren. Auffällig waren ihre dunklen Augen mit schier endlosen Wimpern. Die waren natürlich, da war sich Irmi sicher.
Die Wimpern erinnerten sie an Irmi Zwo. Irmi Zwo war ihre Lieblingskuh, eine mittlerweile ältere Dame, die trockenstand und das Gnadenbrot bekam. Irmi hatte sie seinerzeit als Kalb in Steißlage allein holen müssen, weil die Männer auf irgendeinem Dorffest verschollen gewesen waren. Aber Männer waren ja immer unauffindbar, wenn es drauf ankam. Irmi fand den Vergleich mit einer Kuh keineswegs unpassend: Auch Irmi Zwo war eine elegante Erscheinung, eine Murnau-Werdenfelserin mit Augen zum Drinversinken.
Als junges Mädchen, in ihren Zwanzigern, war die schöne Maria Buchwieser wahrscheinlich eine Elfe, nein, eine Fee gewesen. Irmi schluckte. Solchen Feen sagte man die Wahrheit noch schwerer.
»Ich bin Irmi Mangold von der Kriminalpolizei. Darf ich kurz reinkommen?«, fragte sie.
Maria Buchwieser nickte und ging vor. Sie kamen in einen großen hellen Raum, an dessen Wänden sich Bücherregale bis zur Decke erstreckten. Auf einem hellblauen Teppich standen zwei dunkelblaue Ledersessel – mit Blickrichtung in den Garten. Die Terrassentür stand offen, es roch nach Frühling.
»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Mann Ernst tot ist«, sagte Irmi schließlich. »Er wurde erschossen.«
So, nun war es raus. Irmi sah Maria Buchwieser prü-fend an. Die Reaktionen von Menschen waren nicht vorhersagbar. Nach außen völlig toughe Personen konnten ihrer Erfahrung nach zusammenbrechen und verhuschte Hascherl plötzlich zu übermenschlicher Stärke heranwachsen. Maria Buchwiesers Reaktion allerdings verblüffte Irmi.
»Dann ist es endlich passiert«, sagte sie in einem Tonfall, der so neutral klang wie die Konservenstimme, die in der Trambahn die nächste Haltestelle ankündigt. Wie eine Stimme im Baumarkt, die erklärt, dass der Markt in zehn Minuten schließen werde. »Wollen Sie einen Cappuccino?«, fragte sie und wies auf den einen Sessel.
Irmi konnte nur nicken und sank in die Tiefe des Lederfauteuils. Aus der Küche hörte man ein paar zischende Geräusche, wenig später kam Maria Buchwieser mit dickbäuchigen Cappuccinotassen zurück. Der Milchschaum war so perfekt, dass er jedem Barista zur Ehre gereicht hätte. Und Irmi war sich sicher, dass es der zweitbeste Cappuccino ihres Lebens war. Den besten gab es immer noch im Autogrill gleich hinter Sterzing.
Maria Buchwieser setzte sich auf die Sessellehne und wischte sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln, ganz kurz nur. Dann sagte sie: »Ernst hat sein Leben lang Menschen provoziert. Er hat immer Grenzen verletzt. Er hat so viele Drohungen erhalten, er hatte so viel Streit mit Gott und der Welt.« Sie schwieg.
»Es gab also ziemlich viele Feinde?«, fragte Irmi nach und nahm noch einen Schluck von dem göttlichen Cappuccino.
»Ja, viel Feind, viel Ehr. Ernst hat immer gesagt, dass nur der zu echten Höhen aufsteigen kann, der es aushalten kann, angefeindet zu werden. Bei ihm war jede Lebensäußerung in irgendeiner Philosophie begründet.« Sie machte eine Handbewegung zur Bücherwand hin. »Nichts als Philosophen. Er hat Altgriechisch studiert, er kennt seine Denker. Es ist schwer, mit jemandem zu diskutieren, der nichts einfach so sagt, der nichts einfach so tut. Er hatte immer eine Begründung für sein Tun – eine gute, eine heroische.«
Die wenigen Tränen, die aus ihren Augen traten, waren keine Tränen der Verzweiflung. Es waren Tränen der Melancholie, Tränen, die man weint, wenn die hektische Anspannung in bleierne Trauer mündet.
»Es war also schwierig, mit ihm zusammenzuleben?«
Sie nickte. »Ernst sagte mal im Scherz: ›Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein‹, natürlich als Anspielung auf den Film. Aber wissen Sie, es ist noch schwerer, mit einem Gott zu leben. Unfehlbarkeit ermüdet.«
Beide Frauen tranken schweigend ihren Cappuccino.
»Gibt es denn ganz aktuell Feinde?«, fragte Irmi schließlich.
Maria Buchwieser stand auf, durchschritt den Raum und verschwand durch eine Tür, die von Büchern eingerahmt war und von ihnen erdrückt zu werden schien. Als sie zurückkam, hatte sie einige Papiere dabei, die mit bunten Buchstaben beklebt waren. Irmi hatte eigentlich gedacht, so etwas gäbe es nur in Filmen oder bei Enid Blyton. Drohbriefe mit ausgeschnittenen Lettern – wer machte heute denn noch so was?
Verpiss dich!
Kümmer dich um deinen Scheiß!
Wenn du weiter störst, mach ich dich kalt!
Du lebst nicht mehr lang, du eingebildeter Arsch!
»Ich habe sie nach der Reihenfolge sortiert«, sagte Maria Buchwieser. »Ernst fand das wahnsinnig witzig. Er wollte sich ausschütten vor Lachen.«
»Haben Sie eine Idee, von wem das stammen kann?«
Maria Buchwieser lachte ein bitteres Lachen. »Wie viel Zeit haben Sie? Ich kann Ihnen eine Liste machen. WM-Komitee, Hoteliersverein, Lehrerkollegium, Eltern von Schülern.«
Irmi ließ den Blick nochmals über die Blätter gleiten. Die Sprache war eher derb, aber das konnte natürlich dazu dienen, die wahre Identität des Absenders zu verschleiern. »Wann kam denn der letzte?«, fragte sie.
»Vorgestern«, sagte Maria Buchwieser leise.
»Haben Sie die Umschläge noch?«
»Nein, Ernst hat sie verfeuert. Aber sie kamen über das Briefzentrum Starnberg, man kann ja heute nicht mehr sehen, wo ein Brief eingeworfen wurde.«
»Ich nehme diese vier Machwerke mal mit, vielleicht können wir was sichern. Als Vergleichsprobe bräuchte ich bitte Ihre Fingerabdrücke und DNA, auch eine von Ihrem Mann, wenn das geht. Haare aus der Haarbürste eventuell? Ich würde nachher jemanden vom Erkennungsdienst schicken.« Irmi betrachtete ihr Gegenüber. Solche Fragen, solche Vorgehensweisen machten einen Mord auf einmal so endgültig.
Aber Maria Buchwieser nickte nur und fragte dann: »Erschossen, sagen Sie? Wo denn?«
»Das ist das Seltsame daran. Ihr Mann befand sich zum Zeitpunkt der Tat auf der Kandahar-Piste. Er trug Skier. Uralte Skier und dazu eine Uraltmontur: einen Skianzug mit einer WM-Startnummer von 1978, der Nummer siebzehn. Können Sie sich darauf einen Reim machen?«
Zum ersten Mal wirkte Maria Buchwieser wirklich entsetzt. Es war, als hätte sie viele Szenarien im Kopf durchgespielt, als hätte sie sich gewappnet über die Jahre. Als hätte sie ihr Herz verhärtet. Aber nun war sie völlig konsterniert.
»Die Nummer siebzehn?«
»Ja.«
Maria Buchwieser stand auf und trat an die offene Terrassentür. Das Licht spielte mit ihren Haaren, eine rötliche Aura umgab ihren Kopf. Ihre Schultern zuckten. Irmi ließ ihr Zeit.
Endlich wandte sie sich um und sagte leise: »Das ist das Gwand vom Kurtl. Und seine Startnummer.«
Irmi beobachtete sie genau. Sie hatte sich wieder im Griff. »Und wer ist der Kurtl?«
»Das ist sein Bruder. Oder besser gesagt: war sein Bruder. Der Kurt hat sich 1983 umgebracht«, sagte Maria Buchwieser. Ihr Blick verdüsterte sich. Irmi spürte, dass da plötzlich eine Woge Vergangenheit heranrollte, so mächtig, dass die zarte Frau ihr nicht gewachsen war. Irmi schwieg. Es verging eine Weile, bis Maria Buchwieser Irmis Blick suchte.
»Der Kurt war sein jüngerer Bruder. Er hat immer im Schatten vom Ernst gestanden, aber eigentlich hat jeder in seinem Schatten gestanden. Ich ja auch. Ernst hatte immer schon etwas von einem Guru. Er hatte nicht nur Feinde, sondern auch seine Anhängerschaft. So lange die Anhänger nur schwach waren.« Sie stockte.
»Sie auch? Fühlten Sie sich schwach neben dem Philosophen?«, fragte Irmi vorsichtig nach.
»Ja, als ich Ernst kennenlernte, war ich wie verzaubert. Er konnte so gut reden. Er wollte die Welt verändern, er war komplett anders als die Jungs, die ich sonst kannte. Wir saßen stundenlang an der Loisach, warfen Steine ins Wasser, und Ernst hat seine Theorien von einer besseren Welt ausgebreitet. Ich konnte ihm immer nur zustimmen, seine Sätze waren klar, so voller Leuchtkraft. Seine Freunde und ich, wir konnten nicht so schön formulieren wie er, wir konnten nur nicken und applaudieren.«
In diesem Wort »applaudieren« schien so viel zu liegen. »Aber ständiger Applaus korrumpiert doch, oder?«, meinte Irmi.
»Ja, ich denke auch, das ging in Richtung Größenwahn. Alles flog ihm zu. Er war ohne Anstrengung einer der Besten in der Schule, er hatte seinen Fanclub, er hatte Mädchen…« Sie stockte und lachte bitter auf.
»Nicht bloß Sie?«
»Nein, aber ich wollte das nicht sehen. Letztlich war ich ja immerhin seine Offizielle. Und ich war cool, so cool, wie wir alle waren in den Achtzigern. Wir haben uns das Hirn weggekifft, die Welt gerettet, und Sex war nichts als ein Spiel.« Ihr Lächeln war eine Mischung aus Wehmut und Bitternis.
Irmi kam ein Lied in den Sinn. Von Kid Rock: »We were smoking funny things, making love out by the lake to our favourite song, sipping whiskey out the bottle, not thinking ’bout tomorrow.«
»Ja, genau so war es. Aber heute in der Rückschau weiß ich natürlich, dass das wohlige Schauern, zur Topclique zu gehören, eine böse Falle gewesen ist. Ich habe schon damals einen hohen Preis bezahlt. Und Kurtl auch.«
Irmi kannte diese Frau erst eine halbe Stunde und fühlte sich ihr dennoch sehr nah. Es war ein gutes Gespräch, sie musste nicht mal korrigierend eingreifen, nicht bitten oder insistieren, Maria Buchwieser kam ganz von selbst wieder auf Kurt zu sprechen.
»Kurt musste sich alles hart erarbeiten. Er war nicht brillant und visionär, er war ein erdiger Typ.« Sie stockte. »Ich hätte damals ihn nehmen sollen. Mit Kurt wäre man nicht so hoch geflogen, aber auch nicht so tief gefallen. Mit Ernst flog man bis zu den Sternen und war plötzlich einsam, weil die greifbare Welt so weit weg war. Mit ihm erreichte man die Sonne und verbrannte. Wir alle in seiner Umgebung waren nicht für den Flug durch den Orbit geboren. Wir hatten Angst und Brandblasen, aber ihm machte das alles nichts aus, und er hatte auch keinen Blick dafür, dass sich die Menschen an seiner Seite verletzten. Und vor allem sah er nicht, dass er schuld war an diesen Verletzungen! Kurt hat ihn genauso bewundert wie ich.«
Irmi lauschte ihren Worten nach. Maria Buchwieser fuhr fort.
»Aber dann hatte Kurt etwas Eigenes. Etwas, wo er Ernst überrunden konnte. Er wurde im Skisport richtig gut, eben weil er so hart trainierte. Er war verlässlich im Riesenslalom und tanzte wie ein Gott durch die Tore. In der Saison 1977/78 fuhr er den ganzen Winter Top-Ten-Platzierungen ein. Dann war da diese Heim-WM in Garmisch. Alle wollten Kurt Buchwieser ganz oben auf dem Siegertreppchen sehen. Er hätte das Zeug gehabt, Frommelt und Gros, ja sogar Stenmark zu schlagen.«
Irmi überlegte, aber außer beim Namen Stenmark taten sich bei ihr da keinerlei Fenster auf. Skisport hatte sie nie interessiert.
»Nach dem ersten Durchgang lag Kurt auf Platz zwei. Hinter Stenmark. Es war, als hätte der ganze Gudiberg vibriert. Ich fühle die Gänsehaut noch heute, es war unbeschreiblich. Und dann startete Kurt in den zweiten Durchgang. Er war wahnsinnig schnell, er hatte plötzlich Rücklage, er rettete sich in einem Kamikazemanöver, es war dramatisch. In der Vertikalen fuhr er, als käme er aus einer anderen Welt, die Zwischenzeit war gigantisch. Der Berg tobte. Doch als er über einen Geländeübergang kam, riss es ihm beide Stöcke ab. Er hatte nur noch die Schlaufen. Er fuhr ohne Stöcke weiter, allein das war eigentlich sensationell.« Maria Buchwieser stockte, und Irmi spürte, dass das alles für sie so präsent war, als sei es gestern gewesen. »Am Ende wurde er Vierter hinter Stenmark, Gros und Frommelt.«
»Sabotage?«, fragte Irmi nach einer Weile.
Maria sah sie überrascht an. »Seltsam, dass das Ihr erster Gedanke ist. Na gut, Sie sind Kommissarin. Uns ist das erst später aufgegangen. Ernst hatte die Idee, dass da jemand die Stöcke manipuliert haben könnte. Das wirklich zu beweisen aber war uns nie möglich.«
»Hatte Kurt denn einen Verdacht?«
»Nein, der war einfach wie paralysiert. Er war so nah dran gewesen. Er selbst glaubte nicht an Sabotage. Er glaubte nur, dass er wieder einmal Pech gehabt hatte. Ach was: Er wusste, dass er kein Günstling der Götter war. Es war so typisch: Ernst brachte die Sabotage-Idee auf, weil in seinem Weltbild Eigenversagen oder gar Pech nicht vorkamen. Kurt hingegen fügte sich in das Schicksal, mal wieder verloren zu haben. Er war das ja gewohnt. Ich glaube, ihm wäre es sogar lieber gewesen, wenn Ernst mit seinen Verschwörungstheorien aufgehört hätte. Aber dann brachte auch noch jemand den Ausdruck ›DvG Buchwieser‹ auf.«
»Wofür steht die Abkürzung?«
»Depp vom Gudiberg, DvG, ganz Garmisch wollte sich ausschütten vor Lachen. Kurt Buchwieser war der DvG. Daran ist er komplett zerbrochen.«
Irmi überlegte eine Weile. »War das denn so schlimm?«, sagte sie dann. »Ich meine, das war sicher nicht nett, es hört sich an wie so typisches unüberlegtes boarisches Blöd-Daherreden, aber dass man daran gleich zerbricht?«
»Sie verstehen das nicht ganz. Kurt hatte ein Mal die Chance, aus dem Schatten des Bruders herauszutreten. Er hätte mit dem Feuer spielen können, nicht bloß mit der Asche. Sicher, Sie haben recht. So schlimm war das nicht, und die meisten, die das nachplapperten, waren eher gutmütige Trottel. Jeder mochte Kurt, jeder hätte ihm den Sieg gegönnt. Aber für Kurt hatte dieses Rennen eine überdimensionale Bedeutung gehabt, er hatte alles dort hineinprojiziert. Es war wie ein Omen für ihn.«
Irmi ließ Maria Buchwieser wieder Zeit. Es hatte den Anschein, als träte sie aus einer Geisterbahn heraus ans Licht und müsste erst einmal erfassen, dass alles gut war. Dass die Helligkeit heilen konnte. Vielleicht.
»Aber Ernst hatte also eine Sabotagetheorie?«, fragte Irmi schließlich.
»Ja. Damals habe ich es nur geahnt, heute bin ich mir sicher: Es ging ihm nicht um Kurt, es ging ihm nicht um die Rehabilitation seines Bruders. Es ging um seinen eigenen Nimbus. Die Niederlage seines Bruders kratzte auch an seiner eigenen strahlenden Oberfläche, sie trübte den Glanz. Kurt war ihm letztlich vollkommen egal!«
»Und wie lautete Ernsts Theorie?«
»Ach, Ernst war sich sicher, dass es Quirin war. Dass der Quirin die Stöcke angesägt hatte.«
»Quirin?«, unterbrach Irmi sie.
»Ja, Quirin Grasegger. Der Kurt hatte ihm angeblich ein Mädchen ausgespannt, wobei das Quatsch war. Der Quirin war sozusagen der zweite Mann hinter Ernst, und um genauso cool zu sein, konsumierte er Mädchen wie andere ihre Socken. Beate Schreiber aber hatte keine Lust darauf und fing stattdessen was mit Kurtl an. Dabei war Kurtl an Beate eigentlich nicht interessiert. Sie hat ihn sich einfach genommen, das war besonders einfach, wenn Kurt betrunken war, und das war er oft. Jedenfalls war der Quirin richtig sauer auf ihn. Es hat sogar auch mal eine Schlägerei im Evergreen gegeben, bei der Quirin dem Kurtl gedroht hat, ihm die Skier abzusägen.«
»Oh!«, machte Irmi.
»Ja, aber das war leeres Gerede, wenn Sie mich fragen.«
»Hätte er denn die Gelegenheit gehabt, an den Stöcken was zu manipulieren?«
»Ja, genau das war auch das Argument von Ernst. Quirin war als Skiclubmitglied bei den Rutschern dabei.«
»Rutscher?«
»Das ist die Freiwilligentruppe, die die Piste präpariert. Heute nennt man so was Volunteers. Er war auch im Startraum oben, das ist ja kein Hochsicherheitstrakt, und 1978 ging es da generell etwas lockerer zu. Er hätte die Gelegenheit gehabt, und ein paar andere auch«, sagte Maria Buchwieser.
»Aber Ernst hatte sich auf Quirin eingeschossen?«
»Ja, und in der Rückschau denke ich, das kam ihm ganz gut zupass, denn Quirin muckte auf, der widersprach bisweilen in der Clique, er sah nicht in jeder Idee von Ernst gleich die Heilsbotschaft.« Sie lachte kurz auf.
Irmi überlegte. Nun hieß man hier ja gerne mal Grasegger, aber der Name Quirin Grasegger sagte ihr etwas. »Müssten bei dem Namen irgendwelche Lichter bei mir angehen?«, fragte Irmi mit einem Lächeln.
»Nun, wenn Sie die WM-Vorbereitung verfolgen, dann schon. Quirin Grasegger ist immer noch ein wichtiger Mann im Skiclub, und er sitzt im Finanzausschuss des WM-Komitees. Er ist sozusagen der Finanzausschuss. Als Volkswirt und Banker fungiert er seit Jahren bei den Weltcuprennen als der Mann, der über den Geldtopf wacht. Er beschäftigt sich mit Fragen der Nachhaltigkeit. Sie haben sicher in letzter Zeit öfter von ihm in der Zeitung gelesen. Er wird häufig zitiert, wenn es um Pro und Kontra geht. Wenn der Bund Naturschutz gegen die WM schießt, ist Quirin…«
»…der kompetente Mann aus der Wirtschaft, der im Ökonomie-Ökologie-Konflikt jede Menge Argumente für die WM findet«, ergänzte Irmi.
Maria Buchwieser lächelte. »Ich sehe, Sie lesen die Zeitung.«
»Wenn Zeit dafür bleibt und ich nicht gerade über Tote stolpere.« Irmi lachte und wurde dann wieder ernst. »Das heißt aber doch, dass die beiden ehemaligen Freunde heute Feinde sind. Buchwieser aufseiten der Naturschützer und Grasegger ganz vorne in der Liga der WM-Befürworter, oder?«
»Feinde, nein. Sie haben sich gerieben, das haben sie aber immer schon getan. Nach diesem Rennen am Gudiberg war ein tiefer Riss durch die Clique gegangen. Die einen standen auf Ernsts Seite, die anderen auf Quirins. Ich habe nie geglaubt, dass Quirin das war mit den Stöcken, aber Ernst hat ihn Jahre später noch damit genervt.«
»Bis heute?«, fragte Irmi.
»Ja, immer wieder. Auf Festen kam das Gespräch früher oder später auf den DvG, und Ernst hat Quirin stets attackiert. Keine Geburtstagsparty, kein Grillfest, kein Bierzeltabend ohne dieses unselige Thema.«
»Da wäre es doch mal an der Zeit gewesen, sich dieser Nervensäge zu entledigen, oder?«, fragte Irmi wie zufällig.
Maria Buchwieser starrte sie an. Langsam schien es in ihr Bewusstsein durchzusickern. »Sie meinen also…«
»Wissen Sie, es ist mein Job, Verdächtige zu finden und nach Motiven zu graben. Sie müssen zugeben, dass diese jahrelangen Attacken das Toleranzfass irgendwann mal zum Überlaufen bringen können. Und dann kommt ja noch hinzu, dass Ernst Buchwieser zu einem massiven Problem für die WM geworden ist.«
»Ja, aber so richtig ernst hat ihn doch keiner genommen!«, rief Maria Buchwieser. »Seine Schüler vielleicht, ein paar Naturschutzfanatiker, ein paar Ewiggestrige, aber doch niemand Wichtiges.«
Irmi beschloss, das so stehen zu lassen. Sie wusste noch viel zu wenig über diesen Ernst Buchwieser, aber gerade eben hatte sie erfahren, dass er einen nachhaltigen Einfluss auf seine Jugendfreunde gehabt hatte. Da hatte noch so viel Schmerz, so viel Unaufgearbeitetes, Unausgesprochenes in den Gesten und Worten seiner Frau gelegen. Wie hatte sie es noch formuliert? Die anderen hatten sich Brandblasen zugezogen, doch Ernst hatte ihre Ängste und Verletzungen einfach übergangen. Was aber, wenn jemand die alten Narben einfach nicht mehr hatte ertragen wollen? Wie Quirin Grasegger zum Beispiel.
»Frau Buchwieser, wer war denn damals noch in dieser Clique?«
»Der Ernst, der Quirin, seines Zeichens Bankdirektor, der Sepp Ostler, heute Arzt am Garmischer Klinikum, und der Hubert Deubel, Bauingenieur und Architekt. Außerdem gab es noch den Florian Eitzenberger, aber der ist inzwischen weg…also weggezogen. Die ›Fünf Freunde‹ nannte man sie damals.«
»Keine Mädchen?«
»Doch, aber ständig neue. Ich war als Einzige immer dabei. Beate auch öfters mal«, sagte Maria Buchwieser.
»Jene Beate, die etwas mit Kurtl angefangen hatte?«
»Genau die.«
»Und was wurde aus ihr und was aus Kurt? Sie sagten, er hätte sich das Leben genommen? Gehörte er denn nicht zur Clique?«, fragte Irmi.
»Die Affäre hatte sich schnell erledigt. Beate war dann immer mit einer Münchner Clique unterwegs. Ich habe gar keinen Kontakt mehr zu ihr. Und Kurt, nein, der war kein Mitglied der Fünf Freunde. Er war eben bloß der kleine Bruder, obwohl er nur zwei Jahre jünger war als Ernst. Auch wenn das jetzt wieder komisch klingt: Nach der WM kam er nicht mehr auf die Füße. Er hatte seine Lehre im elterlichen Raumausstatterbetrieb gerade beendet. Zwar war er weniger der Kreative, aber die handwerklichen Arbeiten wie Polstern und so weiter, die taugten ihm. Er war wenige Tage vor dem Rennen achtzehn geworden und damit volljährig. Und dann begann er mit undurchsichtigen Amis in irgendwelchen Clubs herumzuhängen. Sind Sie aus Garmisch?«, fragte sie plötzlich.
»Aus Eschenlohe beziehungsweise aus Schwaigen«, erwiderte Irmi.
»Na, dann kennen Sie ja das alte Garmisch. Die Spielbank am Marienplatz, das Nachtleben. Garmisch war Ende der Siebziger ein Hotspot, würde man heute sagen. Ich glaube, damals gab es dreihundert Lokale und bestimmt sechs Diskos für vielleicht fünfundzwanzigtausend Einwohner. Da ging was ab, und wenn man zur Szene gehörte, war man geadelt. Und wenn nicht, gab es genug Absturzspelunken, genug Drogen.«
Irmi erinnerte sich. Die feenhafte Maria und Ernst, der Held, die Clique der Reichen und Schönen – all das lag so weit außerhalb ihrer damaligen Gedankenwelten, außerhalb ihrer Reichweite. Diskotheken waren ohnehin nicht ihr bevorzugter Aufenthaltsort gewesen. Klar, sie war mit ihren damaligen Freunden schon mal im Evergreen gewesen, in der Handwerkerdisco, in der Disco fürs Fußvolk. Sie hatte auch mal staunend im Surprise gestanden, wo nach drei alles auflief, was die anderen Kneipen ausgespuckt hatten: die Alkis, die Kiffer, die Schönen, die noch nicht heimwollten. Der Disco-Stampfsound war nicht nach ihrem Geschmack gewesen. AC/DC schon eher, »Highway to Hell«… Eigentlich ein schönes Lebensmotto. Irmi lächelte Maria Buchwieser an.
»Ich nehme an, wir haben in unterschiedlichen Kreisen verkehrt. Ich war zum Beispiel noch nie im John’s Club, Sie vermutlich schon, oder?«
Maria Buchwieser lächelte zurück. »Ja, das war die schwerste Tür im Oberland, wahrscheinlich schwerer als die Türen in München. Diese adlige Türsteherin damals!« Sie schüttelte den Kopf. »Dieses Omaambiente auf höchstem Niveau, die Kerzenleuchter, das Piano auf der Tanzfläche. Es war ein skurriler Laden, und mir wurde 1978, mit gerade mal achtzehn Jahren, die Ehre zuteil, da rein zu dürfen. Natürlich nur wegen Ernst oder in dem Fall sogar wegen Kurt.«
»Wegen Kurt?«
»Na ja, John, der Besitzer, schmückte sich gern mit Exzentrikern und Künstlern, er war ja selber einer. Aber so ein junger Skistar, der putzt doch auch, der poliert das Image auf. Kurt hat sich da eigentlich nie so richtig wohlgefühlt. Aber John hatte ja damals schon eine gewaltige Auswahl an Whiskys, scheißteures Zeug. Der wurde ausgegeben, und nach vier Whisky wurde aus dem kreuzbraven unsicheren Kurt eben doch der weltmännische Skistar. Er hatte Sex mit Münchnerinnen, die bestimmt fünfzehn Jahre älter waren als er. Am nächsten Morgen schüttelte er sich zurecht, schnallte sich die Skier an, und dann war er wieder Kurt. Kurt Buchwieser, der klare Typ, dessen Bedürfnisse im Gegensatz zu seinem Bruder nicht im Himmel lagen, sondern festgezimmert waren auf der Erdoberfläche.«
Maria Buchwieser schwieg eine Weile, ehe sie fortfuhr: »Aber dieses Schwanken zwischen den Welten brachte ihn aus der Balance. Er verzockte Geld, er soff zu viel. An seinem zwanzigsten Geburtstag lieferten sie ihn mit einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus ein. Trotzdem hat er es irgendwie geschafft zu arbeiten, und als der Vater starb, übernahm er mit einundzwanzig den Laden. Er machte den Meister, und es sah so aus, als hätte er sich wieder gefangen. Es ging etwa zwei Jahre ganz gut. Zu dem Zeitpunkt hatte er auch eine feste Freundin, Sabine aus Murnau.«
Maria Buchwieser stand auf und ging zur Terrassentür. Plötzlich sagte sie eruptiv: »Irgendwann hat Kurt seine Freundin mit Ernst im Bett erwischt. In seinem eigenen, zu allem Überfluss.«
»Und Sie, waren Sie damals noch mit Ernst zusammen?«
»Wieder. Ich weiß gar nicht, zum wievielten Mal. Ich hatte in Regensburg studiert, Ernst in München, dann war Sendepause, aber irgendwie kamen wir wieder zusammen. Wir waren höchstens ein paar Wochen beieinander, als das mit Sabine…«
Irmi konnte sich vorstellen, wie die Geschichte weiterging. Maria und Kurt, die um ihr Leben Betrogenen, die mit den Brandblasen, die vom hellen Sonnenlicht Geblendeten, sie beide hatten reagieren müssen. Sanft fragte sie nach: »Konnten Sie Kurt helfen oder er Ihnen?«
Das Lachen hätte bitterer nicht sein können. »Wir haben geredet, nächtelang. Wie haben uns an den Händen gehalten wie Ertrinkende. Wir haben Rotwein getrunken und Apfelkorn und, Sie ahnen es, miteinander geschlafen. Voller Verzweiflung und mit Rachegedanken. Hinterher haben wir Ernst davon erzählt. Der hat uns ausgelacht und Kurt jovial auf den Rücken gehauen: ›Na prima, Bruderherz, dann sind wir ja quitt.‹« Sie schwieg eine Weile. »Kurt hat dann die Firma an die Wand gefahren und sich im Dezember 1983 erhängt.«
»Und Sie? Soweit ich weiß, sind Sie mit Ernst verheiratet. Nach all dem haben Sie ihn geheiratet?«
Wieder ein bitteres Lachen. »Ja, ich war süchtig. Ich wusste, dass er mir nicht guttut, und bin sehenden Auges in mein Unglück gelaufen. Ich wusste, dass mich eine Flucht hätte retten können, und ich bin doch stehengeblieben. Wir sind bis heute auf dem Papier verheiratet – auch damit die Kirche ihre Verlogenheit bewahren kann.«
Irmi zog die Stirn in Falten und sah Maria Buchwieser fragend an.
»Sehen Sie, im Internat Ettal gibt es drei Arten von Personal. Erstens staatliche Lehrer, die für die Privatschule freigestellt sind. Zweitens Angestellte und drittens Kirchenbeamte, die vom Katholischen Schulwerk bezahlt werden. Ernst war einer von der dritten Kategorie, und da ist man einfach nicht geschieden. O nein, man kündigt keinen Bund auf, der vor Gott geschlossen wurde!«
Irmi ließ die Worte einige Sekunden auf sich wirken. »Aber Ihr Mann war doch eher unkonventionell, ein Nonkonformer, es wundert mich, dass er sich nicht darüber hinweggesetzt hat.«
»Um den Job zu verlieren? Nein, er war durchaus auch ein Taktiker, und er hatte durchaus vor, an der Schule etwas zu werden. Ernst war nie mit einer Rolle im Fußvolk zufrieden.«
»Etwas werden?«, fragte Irmi nach.
»Nichts weniger als Direktor.«
»In Ettal? An einer katholischen Schule? Geht das überhaupt?«
»Es gibt durchaus kirchliche Schulen mit weltlichen Schulleitern«, erwiderte Maria Buchwieser.
Ettal, auch das lag außerhalb von Irmis Welt, dabei lebte sie sozusagen am Fuß jenes Berges, unterhalb dessen sich das Kloster mächtig in den Himmel reckte. Wo es Eindruck zu schinden suchte und doch so stark vom hohen Gebirge bedrängt wurde. Die Berge hielten es in Schach, sie bremsten seine Höhenflüge. Genau das war sein Charme – moderne Touristikprofis würden Alleinstellungsmerkmal dazu sagen. Ein gewaltiger Baukomplex mitten in den Bergen. Eine stolze Anlage, die doch zur Demut gezwungen war, denn die Berge waren mächtiger als menschliches Streben.
Das Wetter übrigens auch: Irmi musste unwillkürlich lächeln. Wie oft hing über Ettal der zähe Nebel, wie selten kam im Winter die Sonne über die Felsriesen. Lange Perioden im Schattenreich waren die Folge, denn die Sonne konnte man nur strahlen sehen, wenn man weit hinaufstieg, um einem hellen Horizont näherzukommen. »Ganz schön schattig, ziemlich zapfig« – das war’s in Ettal häufig. Die Pfützen konnten noch immer mit dünnem Eis überzogen sein, während es fünfhundert Meter weiter schon fast T-Shirt-warm war.
Irmi kannte das Phänomen. Auch sie lebte in einem winterlichen Schattenreich unter dem Rauheck, aber dafür hatte sie einen weiten Horizont. Zu ihren Füßen lag das Murnauer Moos. Große Weite inmitten des Gebirges. Für Irmi war es jedes Mal wie ein Aufatmen, wenn sie Garmisch verließ. Ihr rückten die Berge dort zu sehr auf die Pelle.
Irmi kannte durchaus Externe, die dort zur Schule gegangen waren, dennoch blieb Ettal für sie ein Mysterium. Vielleicht hatte sie zu oft Ecos »Der Name der Rose« gelesen, war zu tief in den gleichnamigen Film eingetaucht– in jedem Fall waren Klöster für sie wie verzweigte Höhlensysteme mit undurchschaubaren, gefährlichen Hierarchien. Plötzlich verspürte sie ein jähes Unbehagen darüber, eben dort im Dreck wühlen zu müssen.
Maria Buchwieser fuhr nach einer Pause fort: »Es gibt natürlich den Abt, der über allem steht. Dann seinen Stellvertreter, den Prior. Es gibt einen Schulleiter, es gibt die Internatserzieher, und dann ist da noch die im Prinzip wichtigste Instanz: der Wirtschaftspater, der Cellerar.«
»Letzterer entscheidet über die Finanzen?«
»Sie sagen es.«
Es lag ein Unterton in ihrer Stimme. Wieder runzelte Irmi die Stirn.
Maria Buchwieser lächelte: »Sie erfahren es ja sowieso. Der Cellerar war nicht der beste Freund von Ernst, der Schulleiter auch nicht. Und ein paar im Kollegium konnten ihn ebenfalls nicht leiden, ein paar andere hingegen wären für ihn durchs Feuer gegangen. Ernst hat immer polarisiert.«
»Zwischen nicht leiden können und hassen liegen einige Spielarten«, sagte Irmi und dachte: zwischen nicht leiden können und morden erst recht. »Gab es konkrete Anlässe, ihn nicht leiden zu können?«, fragte sie.
»Sie werden sich doch bestimmt noch in Ettal umhören, und Sie verfügen über Menschenkenntnis. Ich will dazu eigentlich nichts sagen.«
»Aber es gab Reibungspunkte«, beharrte Irmi.
»Erstens: Ernst hat sich ständig über den Zustand der Sportanlagen beschwert. Das betraf den Cellerar. Zweitens: Er hat weder leise noch dezent oder diplomatisch darauf verwiesen, dass er für die Moderne an dieser Schule stehe. Für ihre Zukunft. Dass er als Altgriechischlehrer profilgebend sei und als beliebter Lehrer mit dem Draht zur Jugend der perfekte Mann für den Job. Das betraf den Schulleiter, an dessen Stuhl er damit sägte.«
»Da war aber die Einbindung der Kids in die Attacke gegen die WM-Plakatsäulen nicht so schlau, oder?«, meinte Irmi. »Was sagte denn der Abt dazu?«
»Nun, der Hochwürdigste Herr Abt ist der Kopf und die Seele eines Klosters. Und er ist…war ein Schulfreund von Ernst. Sie hatten einen sehr guten Draht zueinander. Was der Abt letztlich zu dieser Aktion gesagt hat, weiß ich nicht. Es gab ein Vier-Augen-Gespräch. Ich weiß nur, dass weder der Schulleiter noch der Cellerar die Entscheidung des Abtes für gut befunden haben.«
»Ich finde das schon etwas verwunderlich, dass der Abt so was toleriert«, sagte Irmi.
»Wundern Sie sich nicht, Frau Mangold. So schlimm war das gar nicht. Schließlich ist man stolz, dass Schüler einer Privatschule Eigeninitiative zeigen. Und der Akt an sich verstößt auch nicht gegen das Kirchenrecht. Im Dritten Reich haben Ettaler Schüler ein Kreuz auf dem Manndl aufgestellt, heute stürzen sie Plakatsäulen um.«
Das klang bitterböse. Dieser Zynismus überraschte Irmi.
»Sie halten mich für verbittert, nicht wahr?«, fügte Maria Buchwieser dann auch gleich hinzu.
Irmi nickte. »Ein bisschen vielleicht.«
»Nennen Sie es eher Müdigkeit. Jene Müdigkeit, die einen plötzlich wie ein Stoß trifft. Die einen ins Bett zwingt und die dann umschlägt in Herzrasen. Die einem den Schlaf nicht gönnt. Ernst mit all seinen Ideen und Idealen, mit seinen Aktionen und seinen Argumenten hat mich ermüdet. Ich saß immer in der ersten Reihe beim Film ›Buchwieser gegen den Rest der Welt‹. Ernst war hochintelligent, gefährlich intelligent, aber zu einem hat es bei ihm nie gereicht: seine Intelligenz subtil einzusetzen, zu taktieren, statt zu provozieren. Sein Kampf gegen die Ettaler Strukturen war immer schon zum Scheitern verurteilt.«
»Immer schon?«
»Sehen Sie, ich selbst bin Ettal-Absolventin, als Externe natürlich. Ich war eines von drei Mädchen im Jahrgang 1969. Wir waren die Pionierinnen. Wir durften anfangs keine Jeans tragen, sondern nur Röcke oder allerhöchstens Stoffhosen. Dann wurden Jeans erlaubt, aber niemals, wenn man vorm oder im Direktorat war. Ich war ein kleines Mädchen, ich huschte durch diese langen Gänge. Es war schrecklich. Ich hatte Angst.«
»Hatten nur Sie Angst?«
»Nein, auch andere. Aber es gab Kinder, die haben es geliebt, Ettaler zu sein. Sie hielten sich für auserwählt. Für sie war das ein ruhiges Klima da oben, es war eine friedliche Klientel. Sie haben Pater Stephan Schaller angebetet, als eine Art Lichtgestalt. Als ein würdiger Abgesandter Gottes auf Erden.«
»Und Sie?«
»Ich möchte dazu eigentlich nichts sagen. Nur so viel: Als ich zwischen Griechisch und Französisch wählen durfte und Französisch nehmen wollte, hat er es mir verboten. Er hat sogar meinen Vater ins Boot geholt. Ich musste Griechisch lernen. Als wir elf waren und Theater gespielt haben, waren wir obenrum platt wie Holland, und der Pater hat uns eigenhändig Kunstbrüste, so perverse Dinger, umgeschnallt. Das waren andere Zeiten damals, Frau Mangold, wir waren gschamig, kleine verschreckte Mädchen.«
Irmi ließ das Gehörte auf sich wirken. Sie musste an ihre Oma denken, die sie zum Beichten gezwungen hatte, wo es nichts zum Beichten gegeben hatte. Doch ihr fehlten die richtigen Worte, um davon zu erzählen.
Maria Buchwieser sprach weiter: »Ich hatte einige wirklich integre Lehrer, aber da waren auch andere: Profilneurotiker, sozial Inkompetente, Angsthasen, emotionale Verlierer. Alkoholiker, Patres kurz vor dem Sektierertum oder schon drüber – das ganze Spektrum des Menschseins eben. Das Schlimme aber in so einem engen Korsett ist es, dass diese Unzulänglichkeiten immer unter dem Deckmantel irgendwelcher Benediktinerregeln daherkamen. Man konnte eine Sau sein und hatte dennoch irgendeine Rechtfertigung. Es gibt eben gutes und schlechtes Bodenpersonal in der Airline Gottes.« Nun lächelte sie wieder. »Mein Resümee war, dass man zu viel Energie verbraucht, wenn man Kämpfe gegen die Mächtigen aufnimmt. David gegen Goliath ist eine Illusion. Ich bin auch Lehrerin oder besser gesagt, ich war es. Ich habe mich ein paar Mal zu oft aufgerieben zwischen Schulleitern und Kollegen, heute nennt man so was Mobbing. Inzwischen unterrichte ich in der Erwachsenenbildung.« Sie lächelte. »Auch damit verdient man Geld, und man gewinnt etwas Wesentliches: mehr Ruhe. David gegen Goliath, pah!«
»Aber Ernst dachte anders?«, fragte Irmi.
»Ja, er war immer der Typ, den die Konfrontation eher noch angestachelt hat. Ich meine, er kam ja aus einer wenig begüterten Familie. Kleiner Raumausstatterbetrieb, alles ganz bürgerlich. Eine liebe Mama, die Hausfrau war und nebenbei die Buchhaltung vom Laden gemacht hat. Ein durchaus gewitzter Papa mit Charme, der mehr auf Berg- und Skitouren war als im Laden. Ernst hat diese Familie wahrscheinlich schon im Volksschulalter hinter sich gelassen. Er hatte ein Stipendium fürs Internat und hat sich keine Sekunde lang den Kindern der Reichen untergeordnet. Er war sofort der Leader. Damals gab es große Schlafsäle und gemeinsame Duschräume und jede Menge Jungs, die diese fehlende Individualdistanz gehasst haben. Für Ernst war das eher von Vorteil, er konnte seine Anhängerschaft auf diese Weise dicht um sich scharen. Und für ihn waren all diese menschlichen Unzulänglichkeiten eher wissenschaftliche Studienobjekte, ja er liebte es, in den Krieg zu ziehen. Weil er keine Angst hatte. Und wenn man ihm etwas zugutehalten muss: Als Lehrer war er grandios. Er lehrte seine Schüler Stärke. Er versucht sie aus dem Duckmäusertum herauszuholen und sie ins Bühnenlicht zu stellen. Er wollte sie mutig machen. Er selbst fürchtete weder Tod noch Teufel…«
Sie hielt inne, erschrocken fast. Dann sah sie Irmi mit diesen schönen und verletzlichen Feenaugen an. Ja, gefürchtet hatte er sich nicht vor dem Tod, aber dieser hatte Ernst Buchwieser letztlich doch erwischt. Und ob der Teufel dabei im Spiel gewesen war? Oder gar ein frommer Gottesmann? Irmi überfiel wieder dieses ungute Gefühl. Die beiden Frauen schwiegen eine Weile.
»Wenn Ernst ein Protegé des Abtes war, dann müssen ihn seine Gegner umso erbitterter gehasst haben«, sagte Irmi schließlich.
Wieder ein sarkastisches Lachen. »Ein Gottesmann hasst nicht. Genauso wie er nicht falsch aussagt. Ein Gottesmann liebt seine Feinde. Er ehrt die Älteren, murrt nicht, verleumdet nicht, und töten tut er schon gar nicht.«
»Benediktinerregeln?«
Maria Buchwieser lächelte. Sie stand auf, ging zum Bücherregal und förderte ein schwarzes Büchlein zutage. »Bitteschön, zur gefälligen Lektüre, und seien Sie immer der wichtigsten Aussage gewahr: Ein gutes Wort geht über die beste Gabe.«
Irmi hielt das Bändchen in Händen. Wenn es so einfach wäre, den Tücken des Lebens gute Worte entgegenzustellen. »Ich entnehme Ihren Worten, dass in so einem Kloster eben auch nur Menschen leben.«
»O ja, abgefedert durch Sicherheit, aufgefangen durch die Gemeinschaft und doch immer wieder zurückgeworfen auf das Ich. Auch auf die Zwänge. So ein Kloster ist ein Wirtschaftsbetrieb, ja, mehr noch: Es ist vor allem ein Wirtschaftsbetrieb. Und wie in einer Firma oder auch in der Politik kommt es auf die zweite Riege an. Der Abt hat viele Pflichten auch außerhalb des Klosters. Die Leute vor Ort müssen funktionieren.«
»Tun sie es?«
»Wie gesagt, machen Sie sich ein Bild. Der Schulleiter und der Cellerar sind sehr unterschiedliche Charaktere. Aber beide halten sich nicht unentwegt an die Regeln ihres guten Benedikt von Nursia. Ob sie wirklich nie Arglist im Herzen tragen? Und beide haben Ernst verabscheut, da bin ich mir sicher! Aber von denen legt keiner Hand an. Die haben perfidere Methoden, bessere Ränkespiele auf Lager.«
»Von persönlichen Animositäten mal abgesehen: Schadete Ernst denn dem guten Ruf der Schule?«
»Darüber war man im Kollegium, unter den Patres und bei den Schülern ganz unterschiedlicher Ansicht. Einige betrachteten seine Aktionen wirklich eher als Werbung, als PR-Gag. Andere waren brüskiert. Der wirkliche Schaden, der von Ernst ausging, war wirtschaftlicher Natur.«
»Inwiefern?«
»Das WM-Komitee hat gedroht, das Hotel zu boykottieren und kein Ettaler Bier auf der WM zuzulassen, wenn es nicht gelänge, Ernst zu stoppen.«
Irmi gab ein japsendes »Oh!« von sich.
»Ja, eben. Da liegt der Hase im Pfeffer. Es geht um Geld, am Ende geht es immer um Geld.«
»Wie muss ich das verstehen? Zahlen denn nicht eigentlich die Zulieferer, um dabei zu sein – nicht umgekehrt?«
»Wissen Sie, es gibt einen Hauptsponsor, eine große deutsche Brauerei. Ein Großteil des Bieres stammt von denen. Aber es soll ja von den Wettkampfstätten bis in den Ort eine Schmankerl- und Eventmeile geben, und da will sich die Region auch kulinarisch zeigen. Für diese Standl zahlt man zwar Pacht, nehme ich an. Dennoch ist das sicher lukrativ, und Ettal gehört nun mal in die kulinarische Landschaft der Region, egal ob mit seinem Bier oder den Likören. Und die Käserei will ja auch teilnehmen.«
»Gehört die zum Kloster?«
»Nein, aber alles zusammen gehört sozusagen zum Label Ettal, zur Marke, wie immer Sie das nennen wollen. Und wenn Ettal auf der WM gar nicht auftauchen würde, wäre das eine Katastrophe. Die ganze Gemeinde liefe dann Amok. Jeder will doch seinen Namen in die Welt tragen.«
»Und das Hotel?«, fragte Irmi nach.
»Es werden jede Menge Betten gebraucht, die Nationen-Teams haben ihre Quartiere meist fix, die sind ja beim Weltcup schon immer da. Die FIS, also der internationale Skiverband, hat auch feste Unterkünfte, aber man benötigt Raum für Journalisten, für Sponsoren, ja, für einen ganzen Tross von Menschen, und da werden die Kapazitäten von Garmisch natürlich gesprengt. Verschärfend kommt hinzu, dass Ettal finanziell lange nicht mehr so rosig dasteht. Die Neugründung des Klosters Wechselburg in Sachsen hat viel Geld gekostet. Glauben Sie mir, Geld ist auch hier eine Macht, die ohnmächtig machen kann.«
Irmi überlegte. »Und zwei Männer sind für Geld zuständig: Quirin Grasegger für das der WM und der Cellerar für das von Ettal, oder?«
»Ja, aber ich kann einfach nicht glauben, dass einer von denen ein Mörder sein sollte!«
»Haben Sie denn irgendeine Idee, wieso Ihr Mann auf dieser Piste war? Und noch dazu in diesem Aufzug?«, fragte Irmi nach einer Weile.
»Ja und nein. Er wollte sicher mal wieder irgendein Zeichen setzen gegen die WM. Aber eins hab ich in all diesen Jahren gelernt: Wundere dich über nichts, aber auch gar nichts, was Ernst so tut. Es muss ja irgendwas mit seinem WM-Protest zu tun haben, oder?« Maria Buchwieser sah Irmi fragend an. »Warum er aber Kurts Startnummer anhatte, keine Ahnung. Das mag jetzt seltsam klingen, aber mir tut das weh. Mir kommt das vor wie Leichenfledderei.«
Irmi verstand sie sehr gut. »Entschuldigen Sie die Frage: Wo waren Sie heute Vormittag?«
Sie lächelte. »Ich bin von Scharnitz rauf auf die Oberbrunnalm.«
»Auf Skiern?«
Es musste Irmis erstaunte Stimme gewesen sein, diese völlige Verständnislosigkeit für Wintersport, die Maria Buchwieser zum Lachen brachte.
»Ja, ich weiß, das ist eine komische Jahreszeit zum Wandern, nicht mehr Winter, noch nicht Sommer. Aber ich liebe diese Übergangsjahreszeit, alles ist im Wandel. Unten verblühen schon die Krokusse, und oben liegt noch Schnee. Mir gibt diese Jahreszeit so viel. Sie macht Hoffnung darauf, dass etwas wachsen kann. Wissen Sie, die Oberbrunnalm liegt auf 1523 Metern. Von neun in der Früh bis abends um neun scheint da die Sonne, ein begnadetes Platzl. Es führen Forstwege von mehreren Seiten rauf, nix Hochalpines. Ich hatte Schneeschuhe dabei, aber die hab ich gar nicht gebraucht, die Sonne hat schon genug Kraft gehabt.«
»Hat Sie jemand gesehen?«
»Das hoffe ich doch. Die Hüttenwirte sind Freunde von mir, ich habe Lissi geholfen, die Hütte zu putzen. Ach ja, die Schäferhündin hat mich auch gesehen, und die ist eine echte Instanz. Schließlich arbeitet sie im Winter als Lawinenhund bei der Bergwacht in Garmisch. Und zwei Männer namens Sepp von der Freiwilligen Feuerwehr Mittenwald waren auch da, deren volle Namen könnte ich Ihnen besorgen.«
»Das wird nicht nötig sein.« Irmi stand auf, packte ihren Notizblock ein und gab Maria Buchwieser die Hand. »Es kann sein, dass ich Sie noch brauche.«
»Kommen Sie jederzeit wieder.«
Über den Feenaugen lag ein feiner Film. Es war an der Zeit, Maria Buchwieser weinen zu lassen. Sie war keine Frau, die das vor Zeugen getan hätte. Ernst Buchwieser hatte sie lange Perioden ihres Lebens allein gelassen, sie hatte sicher unzählige Male allein geweint, und sie würde es wieder tun. Vielleicht ein letztes Mal.