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Irmi verabschiedete sich und sah Maria nach, die die Stufen zu ihrem Unterrichtsraum hochstieg. Es schien so, als wäre sie nach langer Krankheit wieder auf den Beinen. Sie schleppte sich die Treppe hinauf.
Langsam ging Irmi über die Straße, es regnete jetzt stärker, doch sie bemerkte es kaum. Was für eine irrwitzige Idee! Und doch so perfide und perfekt. Quirin Grasegger wäre beim WM-Organisationskomitee erledigt gewesen, so viel stand fest. Hubert Deubel hätte um Aufträge ringen müssen. Sepp Ostler wäre die längste Zeit Oberarzt gewesen. Ernst Buchwieser selbst wäre natürlich auch am Ende gewesen, aber nach allem, was Irmi bisher über ihn erfahren hatte, hatte er das einkalkuliert. Er hätte ein Schlupfloch gefunden, oder aber er hätte sich eine Suspendierung vom Schuldienst sogar gewünscht.
Hatte Martina Jochum nicht erwähnt, dass Ernst nach Island hatte mitkommen wollen? Er hatte seinen Rückzug vorbereitet, das war es! Aber nach Buchwieser-Art – mit Donnerhall und nicht ohne die alten Freunde mit in den Abgrund zu ziehen! Das würde sie zu beweisen haben!
In Irmis Kopf spielten die Gedanken Pingpong – und das in rasender Geschwindigkeit. Bilder zogen an ihr vorbei, Köpfe, Gesichter. Der Cellerar, Lutz und Robin, Rasthofer und Dr. Jochum, Maria und Martina, der alte Rieger. Es war wie bei diesen Einarmigen Banditen, wenn die Bildchen vorbeirasten. Irgendwann blieben sie stehen. Drei Gesichter sahen Irmi an: Hubert Deubel, Quirin Grasegger, Sepp Ostler.
Irmi ging ins Büro und suchte im Archiv nach Akten. Lange suchte sie, bis sie fündig wurde. Florian Eitzenberger, geboren am 5. Mai 1953, gestorben am 5. April 1978. Einen Monat später wäre er fünfundzwanzig geworden.
Je mehr Irmi las, desto desaströser präsentierte sich der Fall. Die Ermittlungen waren schlampig gelaufen, wegen des starken Schneefalls hatte man auf jede intensivere Spurensicherung verzichtet. Man hatte sich viel zu schnell auf die Unfallversion konzentriert, befand Irmi. Über eine etwaige Fremdbeteiligung wurde nie gesprochen. Die Befragungsprotokolle der jungen Leute glichen sich wie ein Ei dem anderen:
Wo sind Sie nach dem Besuch im Evergreen hingegangen?
Nach Hause.
Und wo war Florian Eitzenberger zu dem Zeitpunkt?
Er ist in sein Auto gestiegen und weggefahren.
Wann haben Sie von seinem Verschwinden erfahren?
Am nächsten Tag gegen Mittag. Wir waren erst zum Frühstücken im Drugstore. Gegen Mittag war ich zu Hause, und da hat Florians Mutter angerufen.
Hätten Sie Florian Eitzenberger nicht davon abhalten müssen, so eine nächtliche Skifahrt zu unternehmen?
Das haben wir doch nicht ernst genommen. Der Flori war gern mal ein Sprücheklopfer.
Er hätte auch gar nicht mehr Auto fahren dürfen!
Ja, aber er war stur. Ernst wollte ihm sogar den Schlüssel abnehmen. Aber er blieb stur.
Nur das Protokoll von Ernst las sich etwas anders:
Wo sind Sie nach dem Besuch im Evergreen hingegangen?
Auf dem direkten Wege nach Hause.
Und wo war Florian Eitzenberger zu dem Zeitpunkt?
Er hat auf dem Parkplatz noch einige Volksreden gehalten, ist dann aber in sein Auto gestiegen und mit Kavaliersstart weggefahren.
Wann haben Sie von seinem Verschwinden erfahren?
Ich wurde am Nachmittag von Maria informiert. Wir hatten uns zu einem kleinen Brunch im Drugstore verabredet. Irgendwann sind die anderen nach Hause. Ich bin sitzen geblieben, um mich in einige internationale Zeitungen zu vertiefen. Gegen vier Uhr kam Maria und berichtete, dass Florians Mutter ihn suchte.
Hätten Sie Florian Eitzenberger nicht davon abhalten müssen, so eine nächtliche Skifahrt zu unternehmen?
Bin ich der Hüter meiner Freunde? Solche verbalen Eskapaden kann man doch nicht ernst nehmen.
Er hätte auch gar nicht mehr Auto fahren dürfen!
Werte Gesetzeshüter, ich wollte ihm den Schlüssel abnehmen, aber er hat mich wüst beschimpft. Ich steige doch wegen eines Autoschlüssels nicht in eine Schlägerei ein.
Irmi schüttelte den Kopf. Diese Arroganz. Er hatte die Polizei vorgeführt, sein Kumpel war verunglückt, und er hatte auch noch die Chuzpe gehabt, solche Reden zu schwingen. Der Sonnengott. Der nun ebenso tot war wie Florian und Kurt.
Sie studierte weiter die Unterlagen und stieß darauf, dass zwar seine Mutter den Sohn als vermisst gemeldet hatte, dass Florian aber zu dem Zeitpunkt bereits verheiratet gewesen war und einen kleinen Jungen gehabt hatte. Auch Maria Buchwieser hatte diese Frau nicht erwähnt, aber sie schien ja ohnehin nur scheibchenweise Informationen herauszurücken. Sie hasste diese Werdenfelser, hasste siein dem Moment abgrundtief. Sie war auch eine davon: stur, eigensinnig, verbohrt, die hohen Berge im Nacken, die einen herunterdrückten.
Irmi überlegte, dann tätigte sie einige Anrufe, bis sie schließlich Michaela, eine alte Schulfreundin, erwischte. Sie entschuldigte sich für die samstägliche Störung und erläuterte dann ihr Anliegen. Michaela, die beim Einwohnermeldeamt arbeitete, versprach ihr, sofort ins Büro zu fahren. Nach einer knappen Stunde trafen ein paar Faxe ein.
Wenig später hatte Irmi ein klareres Bild: Zum Zeitpunkt von Florian Eitzenbergers Tod war sein Sohn Florian junior gerade fünf geworden. Florian, seine gleichaltrige Frau Roswitha und ihr Kind lebten bei Florians Mutter, die seit dem frühen Tod ihres Mannes das Sägewerk zusammen mit ihrem Sohn leitete. Nach dem Tod von Florian war Roswitha weggezogen, sie war aber nach fünf Jahren wiedergekommen, vermutlich zusammen mit ihrem Sohn, was Irmis Informationsquellen jedoch nicht zu entnehmen war. Fest stand jedoch, dass Florian Eitzenberger junior heute dem Werk vorstand. Die alte Frau Eitzenberger war mittlerweile in den Achtzigern und unter ihrer angestammten Adresse gemeldet.
Nackte Fakten, Daten aus den Melderegistern. Namen und Nummern. Leben ließen sich so leicht reduzieren und zwischen Aktendeckel klemmen. Aber was standen für Menschen dahinter? Was hatten sie erlitten, damals in diesem verdammten Schicksalsjahr?
Da Kathi noch immer im Krankenstand war, beschloss Irmi, sich am nächsten Tag allein zu den Eitzenbergers aufzumachen.
Sie war eigentlich immer allein gewesen, wenn es darauf angekommen war. Allein am Bett ihrer sterbenden Mutter, denn Bernhard hatte Heu einfahren müssen, weil ein Gewitter am Himmel gestanden hatte. Vielleicht hasste sie deshalb Gewitter so sehr. Seit dieser Zeit vor einem knappen Jahr, als sie allein gewesen war mit ihrer Angst und ihrer Hilflosigkeit. Es war ein langsames Sterben gewesen, über zwei Wochen hatte es sich hingezogen. Nur noch von Infusionen hatte diese Frau gelebt, die einst ihre Mutter gewesen war. Wie lange konnte ein Mensch von Flüssigkeit leben, hatte sie sie sich gefragt, und ob es denn nun trotz Patientenverfügung richtig war, einen Menschen einfach verhungern zu lassen. »Austherapiert« hatte der Arzt das genannt, die Parkinson-Medikamente abgesetzt und die gegen die Demenz – und die Stimmungsaufheller, die sowieso nie gegen die Düsternis angekommen waren, erst recht. Irmi hatte Urlaub genommen, sie hatte die Stunden nicht gezählt, die sie dagesessen war, die trockene, kalte, faltige Hand in der ihren. Es war ein Dahinschwinden gewesen, das langsame Erlöschen eines Lichtes, das einst hell und durchaus herrisch aufgeflammt war. Ihre Mutter– wiewohl recht klein – war immer kräftig gewesen, verlassen hatte sie Irmi mit gespenstischen fünfunddreißig Kilo. Es war ein Festklammern gewesen an ein Leben, das selten sonnenhell gewesen war, ein Leben mit Bittermandelgeschmack.
Ihr Vater, der Dorfstrahlemann, der auch mal Bürgermeister gewesen war, hatte stets auf allen Hochzeiten und mit allen Damen getanzt – und nicht nur getanzt. Er war ein leichtfüßiger Charmeur gewesen, ein Schlitzohr, aber auch die, die er über den Tisch gezogen hatte, kapitulierten am Ende vor seinem Charme. Gegen ihn zu verlieren, war keine Schande gewesen. Wie oft hatte sie den Satz hören müssen, der ihr so verhasst gewesen war: »Was hast du für einen tollen Vater!« Dabei war er als Vater keineswegs toll gewesen, sondern selbstgefällig, und als Ehemann hatte er ihre Mutter zu oft verletzt, als dass er ein guter Mann gewesen wäre. Als er vor zehn Jahren an einem Infarkt ohne jede Vorwarnung gestorben war, hatten sie alle keinen Frieden mit ihm machen können.
Diesen Frieden hatte ihre Mutter wohl noch gesucht, eine Absolution, eine Wegweisung von irgendwoher. Sie hatte sich gewehrt gegen das Sterben, sich eingespreizt in ihr schwindendes Leben, sie hatte nicht ruhig einschlafen können. Und Irmi war dabeigesessen bis zum Ende, bis die Hand, die wie eine Kralle gewesen war, losgelassen hatte. Am Ende eben doch losgelassen hatte.
Sie hatte nie darüber geredet, mit Bernhard nicht, nicht mal mit ihm. Bevor sie ihn kennengelernt hatte, war sie in den paar Beziehungen, die sie geführt hatte, allein gewesen, weil sie Sex mit Liebe verwechselt hatte und Freundschaft mit Sex und überhaupt alles ein wenig durcheinandergebracht hatte. Die Zeit war geschrumpft, und der Himmel trug schon lange Grau, eine zeitlose Farbe, die zu nichts verpflichtet. Weder zu blauen Jubelstürmen noch zu tiefschwarzer Trauer. Sie hatte es sich eingerichtet in ihrem Leben – bis zu einem Tag vor fünf Jahren. Selbst wenn sie intensiv nachdachte, wusste sie nicht genau, ob sie jemals zuvor dieses Entzücken für einen anderen Menschen gespürt hatte. Ob sie in der Vergangenheit je so geliebt hatte. Vielleicht früher einmal, vor langer Zeit, aber ihr fehlte die Erinnerung. Und wenn man jung ist, kommt einem der Himmel so weit vor, und es bleibt so viel Zeit. Zeit für Pläne, Zeit für Träume, Zeit, um Fehler zu korrigieren und letztlich doch nur neue zu machen.
Er war ein Urlaubsgast in der Ferienwohnung gewesen, und schon am ersten Tag war sich Irmis gesamte Familie einig gewesen: »Er ganget ja, aber sie!« Auch die beiden Töchter waren nette Mädels, aber die Ehefrau wirkte streng, irgendwie innerlich zerfressen, uncharmant, nicht eben hässlich, aber unattraktiv wegen ihres pessimistischen Gesichtsausdrucks. Sie war an nichts interessiert außer an Ausflügen nach Innsbruck zum Shopping. Er hatte beim Kreiseln den Bulldog gesteuert, er hatte Holz gehackt. Er hatte Bernhard beim Bau des neuen Stadels geholfen, er hatte Strohballen durch die Luft geworfen, und er hatte gelacht. Voller Offenheit und Lebensfreude.
Irmi hatte das fast beschämt registriert: Sie wohnte in der schönsten Gegend der Welt und nahm das einfach so hin, aber er hatte ihr die Augen geöffnet. Und der Himmel hatte sich geweitet, und auf einmal war wieder Platz für einen weiten Horizont. Und irgendwo, tief drinnen im Ordner mit der Beschriftung »Für später«, in dem all die hoffnungsvollen Pläne abgeheftet waren, hatte ein kleiner Gnom den Deckel von innen aufgeschoben. Es staubte ein wenig, knarzte auch, aber da waren sie wieder: all diese Hoffnungen von einer Liebe ohne Leiden, von Respekt ohne Taktik, von der Gewissheit, dass nichts, wirklich gar nichts Grauenvolles passieren kann, wenn man liebt und zurückgeliebt wird. Von der Sicherheit, vom Sichfallenlassen, vom Schwachsein, vom Weinendürfen… Irmi hatte nie die Zeit gehabt, schwach zu sein.
Sie waren durch den Sommer gezogen, vier Wochen lang, und dann noch mal in den Herbstferien und den Winterferien, als er allein mit seinen Töchtern da gewesen war. So sehr, dass es schmerzte und der Himmel einstürzen wollte, so sehr hatte sie noch niemals einen gewollt. Sie hatte ihn so sehr mit dem Herzen gewollt, erst mit dem Herzen und dann auch mit dem Körper. Er war ein schöner Mann, auch heute noch, mit diesen muskulösen Oberschenkeln, dem hübschen Hintern, dem breiten Brustkorb. Sie hatte ihn vor einigen Wochen in Innsbruck gesehen und gespürt in einem kleinen Hotel in Igls. Jedesmal wenn er weg war, hatte sie das Gefühl, dass das Leben nicht mehr weitergehen könne. Das Leben ging natürlich weiter, aber eine solche Intensität auf der Sehnsuchtsskala hatte sie vorher nicht gekannt.
Irmi starrte auf den Aktendeckel. Was blieb schon übrig vom Leben außer abgelegten Akten? In ihrer persönlichen Aktensammlung hatte sie ihre Sehnsucht in einem anderen Ordner aufbewahrt, der die Beschriftung »Zauberhaftes« trug. Das klang besser als »Verlorenes«. Er war bei seiner Frau geblieben, vorerst, wegen der Kinder. Wie lange war vorerst? Heute, fünf Jahre später, war die Große vierzehn. Er war bei einer Frau geblieben, die ihn blockierte, anstatt ihn zu fördern, die ihn klein halten wollte, weil sie selber nur Kleinmut in sich spürte. Man kann Flügel stutzen und Volieren bauen, sogar goldene Käfige, und Leckerlis ausstreuen, doch wird das alles nichts nützen. So eine Frau kann das Fliegen nicht verhindern, nur weil sie selber keine Flügel hat. Irmi war sich sicher, dass er eines Tages gehen würde, aber ob es für sie dann noch eine Chance gab? Irgendwann in diesen Jahren, in denen sie sich immer mal wieder getroffen hatten zu Kurzurlauben und kleinen Fluchten wie vor vier Wochen, hatte der Efeu begonnen, das Traumschloss zu überwuchern.
Seine Frau, die beteuerte, ihn zu lieben, war eine Egoistin, eine armselige dazu. Warum war sie dann nicht stolz auf ihn, der sich so problemlos und sympathisch in Situationen und Menschen einleben konnte? Der als Preiß sofort die Sympathien auf seiner Seite gehabt hatte. Der am dritten Tag am Stammtisch an der Brücke zu hören bekam: »Zu uns hocksch du hi!« Aber seine Gattin konnte sich nicht am Flug des Adlers erfreuen.
Irmi räumte ihm einen Platz ein, egal ob er mit Blumen kam oder mit Schmerzlichem. Sie liebte ihn bis heute und hatte ihn trotzdem gehen lassen. Das Leben funktioniert nämlich nur, wenn man frei sein darf. Er liebte sie auch, würde sie lieben bis ans Ende allen Lichtes, aber er war nicht frei.
Sie hatte am Bett ihrer Mutter viel Zeit gehabt, über Beziehungen nachzudenken, erst ganz allmählich hatte sie erfasst, was es war, das sie aneinander so bezauberte. Er war ihr ebenbürtig, und das bezog sie nicht auf den Bildungsstand, nicht auf Geld oder Ansehen, nein: er war der erste Mann, ja, sogar der erste Mensch, der ihr emotional ebenbürtig war. Der so fühlte wie sie. Er war bereit gewesen, sich zu öffnen, ihr all seine Liebe zu geben bis auf eine kleine Reserve. Er legte die Karten offen auf den Tisch, und doch hatte er noch ein Blatt im Hinterhalt. Das tat er nicht, weil er taktierte oder die Oberhand behalten wollte, nein, er bewahrte diese letzte Reserve auf, weil es das Einzige ist, was einen im Notfall retten und am Leben erhalten kann. Sie verstand ihn zu gut, denn sie war genauso. Klar und mutig, bereit, ohne Murren und Lamentieren das zu tun, was eben zu tun war. Sie waren wie Zwillinge, die irgendwann einmal getrennt worden waren und sich nun wiedergefunden hatten.
Er verstand, dass sie bei diesem verdammten Pferdefilm heulen musste, in dem die kleine Maggie immer in die Schule geritten war mit dem schönen schwarzen Pferd. Bis die Ernte so schlecht war und das Pferd weggegeben werden musste. Dieser traurig-schöne Film vom Pferd, das die Tausende von Meilen heimlief und eines schönen Tages abgemagert im strömenden Regen vor der Schule stand und die kleine Maggie abholte. Allein wenn sie die Bilder in ihrem Inneren noch mal vorbeiziehen ließ, begann sie zu heulen. Er heulte bei solchen Filmen auch, obwohl er der männlichste Mann war, der ihr je begegnet war. Sie hatten spaßeshalber einen »Heulsusenclub« gegründet und sich darum gestritten, wer den Vorsitz übernehmen würde.
Irmi wischte sich ein paar Tränen ab. Sie wollte glauben, dass auch er eines Tages heimkommen würde. Es gab so viele Verluste zu ertragen. Es wurden immer mehr, die nur noch in der Erinnerung lebten: der Vater, die Mutter, all die Hunde und Katzen, die überfahren auf der Straße gelegen hatten. Irmi wusste aber auch, dass Zeit ein sehr relatives Konstrukt war. Was waren ein paar Jahre schon, wenn man die Aktendeckel fest geschlossen hielt?
Irmi war sich bewusst, dass sie gerade ein paar Deckel geöffnet hatte und eine Vergangenheit ans Licht zerrte, die die Betroffenen über die Jahre so mühsam unter Verschluss gehalten hatten. Sie hatte keinerlei Zweifel daran, dass diese Schutthalden der Erinnerung irgendwann in Schieflage geraten würden, dass sie zu rutschen beginnen, dass sie zu Muren und zu Felsstürzen werden würden. Keiner konnte seiner Vergangenheit auf Dauer entfliehen.
Sie verließ ihr Büro, fuhr heim, aß drei Butterbrote. Als sie gerade das Licht löschen wollte, kam eine SMS: »Meine allerliebste Liebste, ich habe dir ein Paar Schnürsenkel für deine Bergschuhe geschickt. Deine waren bei unserem letzten Ausflug auf dem Patscherkofel doch sehr in Mitleidenschaft gezogen. Mir ist zum Heulen ohne dich. Der Clubvorsitz geht an mich.«
Unter Tränen lachte sie. Welcher Mann hätte sonst bemerkt, dass sie neue Schnürsenkel brauchte? Sie simste zurück: »Der Vorsitz geht an mich! Ich vermisse dich.«