14

Als Kathi schließlich weg war, sank Irmi auf ihren Bürostuhl. In ihrem Kopf liefen die Gedanken Amok. Sie musste etwas tun, irgendwas. Sie musste Bewegung in diesen Fall bringen. Fast so, als sei sie auf der Flucht, stürzte sie in ihr Auto und fuhr nach Eschenlohe. Es war halb vier, als sie bei Jochums läutete.

»Herr Jochum, wo ist Ihre Frau?«

»Beim Walken.«

»Wo?«

»Normalerweise zwischen Eschenlohe und Oberau. Sie geht die Strecke einmal hin und wieder retour. Warum? Was wollen Sie von ihr?«

Irmi pokerte hoch, aber ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass sie recht hatte. »Sie haben mir das unwesentliche Detail verschwiegen, dass Ihre Frau ein Verhältnis mit Ernst Buchwieser hatte. Das stimmt doch, oder?«

Jochum starrte sie an.

»Stimmt es?«, wiederholte Irmi.

Er konnte nur nicken.

Irmi atmete tief durch. »Herr Jochum, darüber unterhalten wir zwei uns noch mal, aber nicht jetzt sofort.«

Sie ließ ihn stehen, startete ihr Auto und fuhr bis ans Ende der Raustraße.

Wie oft war sie den Weg von Eschenlohe nach Oberau gelaufen? Immer wieder hatten die Feriengäste gesagt: Euch kennen wir nur aus den Staumeldungen – Oberau, Eschenlohe und die B2. Und jedes Mal hatte Irmi mit ihnen einen kleinen Dorfrundgang gemacht und war dann nach Oberau hinübermarschiert. Es gab erst mal ein Bier in der Post, wo die Großmama von Ludwig Thoma herstammte. Und natürlich erzählte sie Anekdoten zu den schönen alten Bauernhäusern. Das Haus an der Hauptstraße 7 zum Beispiel war die Heimat des Pfarrers Joseph Alois Daisenberger, der hier am 30. Mai 1799 als Bauernsohn geboren wurde. Immerhin war er ein entscheidender Mitgestalter der Oberammergauer Passionsspiele und wurde in Ludwig Thomas »Erinnerungen« verewigt.

Die Gäste waren sehr beeindruckt, erst recht, wenn sie sie anschließend zum »Loisachblick über Sieben Bänke« führte. Und jedes Mal, wenn der Blick weit über das Loisachtal schweifte, gelobte sie, weniger zu arbeiten und sich zumindest einen Tag in der Woche freizunehmen – von den Verbrechen und vom Hof. Auch mal privat zu wandern, nicht bloß mit Feriengästen. Allerdings bisher vergeblich, und zwar die letzten fünfzehn Jahre…

Mit ihm war sie hier spaziert, durchs Katzental und nach Höllenstein, und er hatte sicher hundert Bilder gemacht von diesem Ensemble von Höfen und weitere hundert von der St.-Nikolaus-Kapelle, die Abt Ottmar von Ettal 1628 auf den aussichtsreichen Hügel gebaut hatte. Er hatte einen Reiseführer dabeigehabt und ihr vorgelesen, dass die Erbauer der Kapelle den zerfallenen Turm einer Burg der Eschenloher Grafen genutzt hatten. »Spurlos ging die Burg verschwunden, Kein Gemäuer weit und breit, Nichts, was weiter könnt’ bekunden Alter Ritter Herrlichkeit.« So stand es im Reiseführer, der aus dem altehrwürdigen Oberbayerischen Wanderbuch von Wolfgang Zimmermann zitierte. Er hatte sie genötigt, vor der Kapelle zu posieren, ihr versichert, sie habe keine Falten, und wenn, dann höchstens ein paar dekorative Lachfalten.

Sie hatten die Arme ausgebreitet und waren den Hügel hinuntergerannt wie die Kinder. Er hatte ihr im Dorfzentrum von Eschenlohe weiter vorgelesen: von der Kirche St. Clemens und dem Deckenbild über dem Hochaltar, das von keinem Geringeren als Johann Jakob Zeiller stammte, der auch das opulente Ettaler Kuppelbild gemalt hatte.

Ettal, es führte immer alles nach Ettal. Damals wie heute.

Sie hatten beim Gasthof Brücke in der Sonne Weißbier getrunken, über die Architektur der neuen Brücke diskutiert und vor lauter Glücklichsein die völlig überforderte junge Bedienung einfach vergessen. Was machte es schon, ob die Getränke kamen oder nicht, solange er da war. Sie hatte jede Menge Bekannte getroffen, aber die neugierigen Blicke waren ihr egal gewesen. Wenn einer gefragt hätte, wer denn ihr Begleiter sei, hätte sie der Welt jubelnd erzählt, das sei ihr Liebster. Natürlich hatte niemand gefragt, Menschen redeten lieber hinter vorgehaltener Hand, spähten lieber durch Schlitze in den Vorhängen.

Irmi ging zügig weiter, Martina Jochum musste jeden Moment vorbeikommen. Was Loisach, Lauterbach und Mühlbach zusammen mit den kleinen Teichen und Tümpeln inmitten von Rohrgras und Binsen als Farb- und Wasserspiele inszenierten, das müsste man ablichten oder malen, dachte sie. Selbst an diesem Schmuddelwettertag war es hier zauberhaft. Aber Irmi besaß weder Kamera noch künstlerisches Talent. Im Hintergrund ragte das Estergebirge mit seinen weißen Flanken auf, die Eibsee-Seilbahn war genau auszumachen. Ein paar Nebel waberten nun schon über dem Pfrühlmoos, sie würden über das Tageslicht bald Oberhand gewinnen.

Irmi hörte das Geräusch schon vor Weitem. Das Klickklack der Stöcke. Energisch und rhythmisch. Die Frau kam näher. Sie war Ende dreißig bis Anfang vierzig, schätzte Irmi. Die Haare waren mittellang und mittelblond, eine Allerweltsfarbe mit Allerweltsschnitt. Sie trug dreiviertellange Walking-Hosen, eine Softshell-Jacke in Grau und dazu Trekkingboots, die in die Jahre gekommen waren.

Martina Jochum war nicht etwa dick, aber wahrlich keine Fee wie Maria Buchwieser. Sie wirkte erdverbunden und ein klein wenig nachlässig – wie eine Frau, die entweder nie viel auf ihr Äußeres geachtet hatte oder inzwischen alt genug war, um zu wissen, dass sie Besseres zu bieten hatte als Schönheit. Dankenswerterweise schrieb die Autorin weder Krimis noch pseudowitzige Frauenbücher – nein, sie schrieb Familiengeschichten. Und zwar anscheinend richtig gute, wie Kathi fand.

Irmi trat ihr in den Weg. »Frau Jochum?«

Diese nickte und sah Irmi mit einem offenen, fragenden Blick an.

»Frau Jochum, mein Name ist Mangold von der Kripo. Sie hatten eine Affäre mit Ernst Buchwieser.« Irmi formulierte das nicht als Frage. Seit dem vorangegangenen kurzen Gespräch mit Herrn Jochum war es für sie eine unumstößliche Tatsache.

Martina Jochum hatte sich auf ihre Stöcke gestützt und blickte ins Tal. Sie sah aus wie ein Model für einen Nordic-Walking-Prospekt. Das Einzige, was in dieser Inszenierung störte, waren die Tränen, die über ihre Wangen liefen.

Irmi fingerte eine Packung Papiertaschentücher heraus und reichte sie Martina Jochum.

»War es eine Affäre?«, fragte sie schließlich.

»Affäre klingt nach sexuellen Eskapaden. Nach schwülen Nächten in billigen Hotels, nach gestohlenen Stunden. Nach Schweiß und tropfenden Duschköpfen.«

Irmi fühlte sich wie ertappt. Ihr letztes Hotel in Igls mit ihm hatte eine Dusche gehabt, der kaum Wasser zu entlocken war und die völlig ungeeignet gewesen war, das Shampoo aus ihrer Naturkrause zu entfernen.

Sie überlegte eine Weile, ehe sie sagte: »Ihre genaue Beschreibung sagt mir aber, dass Sie solche Situationen kennen.«

Martina Jochum nickte. »Ja, durchaus. Jede, die im Verborgenen lieben muss, stolpert über miese Absteigen und feixende Nachtportiers und rempelt in dunklen Gängen die Palmen in den Ecken an, weil sie sich nicht traut, Licht anzumachen.«

»Also war es Liebe? Keine Affäre?«

Martina Jochum tupfte sich ein paar Tränen ab und sah Irmi in die Augen. »Was nützt es Ihnen, wenn ich Ihnen sage, dass es Liebe war? Macht es mich dann verdächtiger– oder weniger verdächtig?«

»Sie sind gar nicht verdächtig, zumal Sie ja eine Lesung in München bei einem Literaturbrunch hatten«, sagte Irmi und versuchte ein aufmunterndes Lächeln.

»Ja, und etwa hundert Menschen hingen an meinen Lippen.« Sie lachte kurz und trocken. »Aber mein Mann ist verdächtig, nicht wahr? Weil Eifersucht das älteste Motiv der Menschheit ist. Ist es das, Frau Mangold?«

»Eifersucht ist ein starkes Motiv, Liebe überdies auch. Und um auf Ihre Frage zurückzukommen, was es mir nützen könnte zu wissen, dass Sie ihn geliebt haben. Es nützt mir insofern, als ich verstehen will, wer Ernst Buchwieser war. Weil ich dann leichter herausfinden kann, wer ihn ermordet hat.«

»Sie haben doch sicher viel über ihn gehört, reicht Ihnen das nicht?«, fragte Martina Jochum. »Die Tatsache, ob ich ihn geliebt habe oder nicht, ändert doch wirklich nichts.«

»Nun ja, durch die Liebe zu Ihnen würde aus einem Abgott, einem Guru, einem Sektenführer wieder ein Mensch«, meinte Irmi.

Martina Jochum lächelte wehmütig. »Er war nicht so göttlich. Natürlich war er ein Mensch – verletzlich, sensibel, inmitten der vielen Gedanken, die ihn umtanzt haben wie Herbstblätter im Sturm.«

Das klang nicht nach dem Bild von Ernst Buchwieser, das Irmi sich zusammengezimmert hatte. In ihrer Vorstellung hatte er vor Stolz und Unanfechtbarkeit nur so gestrotzt.

»Seine Freunde, seine Wegbegleiter, seine Kollegen und Vorgesetzten haben ihn mir anders beschrieben. Kühn, souverän, unbesiegbar, ja, auch selbstherrlich und schonungslos.«

Martina Jochum lächelte wieder. »Er war kühn und souverän, er war aber nicht unbesiegbar, und das wusste er auch. Er war keiner der Männer, die nur in Kampf- und Kriegsterminologien leben, die Schlachten gewinnen oder verlieren.« Sie stockte kurz. »Fragen Sie einen Mann, was er vom Leben will. Sie werden immer Antworten bekommen, die auf Macht, Aufstieg oder Materielles abzielen. Fragen Sie eine Frau, und Sie werden komplett andere Antworten erhalten. Es wird eher um etwas Spirituelles gehen, um Glück, um Liebe, um Zufriedenheit, um Gelassenheit. Vielleicht darum, dass es den Kindern gut gehen möge.«

Irmi sah Martina Jochum genau an. »Und Sie wollen mir sagen, Ernst Buchwieser ging es nicht um Macht? Für mich sieht es nämlich ganz danach aus.«

»Ernst konnte die Ebenen wechseln. Er konnte die Spiele der anderen mitspielen. Er manipulierte Menschen. Er war ihnen einen Zug voraus. Aber er tat das alles, weil er etwas anderes vom Leben wollte, als dem Chef ans Knie zu treten oder sich mit fünfzig unbedingt ein Cabrio zu kaufen.«

»Soll das heißen, dass er einer der letzten Idealisten war und die Menschen wachrütteln wollte? Der seine Ideale auch unorthodox durchsetzte?«

»Sie müssen das nicht ironisieren. Er glaubte an Ideale und an die Menschen. Er war kein Zyniker.«

Irmi ließ das auf sich wirken. Martina Jochum war eine intelligente Frau, sie lebte mit und von Sprache. Sie wählte ihre Sätze sorgfältig. »Warum ist das außer Ihnen niemandem aufgefallen?«, fragte sie dann. »Wieso beschreiben die anderen ihn alle als Nervensäge, Spinner, Despoten oder Sonnenkönig?«

»Weil sie nicht souverän genug sind.«

»Und Sie sind es?«

»Das kann ich Ihnen nicht beantworten, aber ich teile Ernsts Ansicht über die Eigenverantwortlichkeit der Menschen. Auch ich möchte weiterhin glauben, dass Gehirne tatsächlich zum Denken benutzt werden können. Ernst musste provozieren, weil erst dann manche Gehirne den trägen Motor in Gang setzten.«

Irmi überlegte wieder eine Weile. »Aber hat Ernst Buchwieser die Menschen damit nicht überfordert?«

»Doch, das hat er. Und er hat sich selbst überfordert.« Nun lag Zärtlichkeit in Martina Jochums Stimme.

»Hatte er denn Selbstzweifel?«

»Natürlich, jeder kluge Mensch hat Selbstzweifel!«

»Genau die sprechen ihm die anderen aber ab«, sagte Irmi.

»Weil er sie nicht gezeigt hat. Weil er sich nicht sofort jedem geöffnet hat. Vernünftig, wenn Sie mich fragen, oder öffnen Sie sich jedem Erstbesten?« Martina Jochum malte schon seit einer Weile mit ihrem Nordic-Walking-Stock Kreise auf den Boden. Kreise, die aussahen wie Sonnenspiralen auf megalithischen Monumenten.

»Aber es ging um seine Freunde, um seine Frau. Um Menschen, die Teilstecken des Lebens mit ihm gegangen sind. Das sind die Besten, nicht die Erstbesten. Denen schüttet man doch schon einmal das Herz aus«, argumentierte Irmi.

»Da war nichts auszuschütten. Entschuldigen Sie, Frau Mangold, aber das Bild ist schief. Ernst Buchwieser schüttete nie sein ganzes Herz aus, es ging um Nuancen, um minimale Veränderungen in seiner Stimme, um winzige Gesten. Ernst hätte erwartet, dass jemand das merkt. Haben seine Freunde aber schon früher nicht und Maria wohl auch nicht immer.«

»War das nicht etwas viel verlangt? Erwartete er da nicht hellseherische Qualitäten von seinen Mitmenschen?«

»Das nicht, aber ich habe ihm oft gesagt, dass er seine Jugendfreunde überschätzt hat, und wenn sich Mechanismen einmal eingeschlichen haben, dann bricht man diese schwerlich auf.«

»Und sein Verhältnis zu Maria?«, fragte Irmi.

»Maria stand Ernst sehr nahe. Als Frau konnte sie mit dieser intuitiven weiblichen Seite von Ernst viel mehr anfangen als seine männlichen Freunde. Deswegen war sie auch immer dabei. Sie hatte die Sensoren, die Ernst zu schätzen wusste.«

»Aber er hat sie betrogen und ebenfalls überfordert. Sie regelrecht und temporeich überrannt!«, rief Irmi.

»Ja, weil er eben kein Gott war, sondern ein junger Mann mit Hormonen und einem ungeduldigen Körper.«

»Das klingt nach sorgfältiger Analyse. So lange kennen Sie Ernst Buchwieser doch noch gar nicht?«

»Seit vier Jahren kenne ich ihn, und seit zwei Jahren hatten wir eine Beziehung. Ich habe mit keinem Menschen auf der Welt vorher so viel geredet wie mit ihm, und vermutlich werde ich nie wieder jemanden treffen, mit dem ich mich so werde unterhalten können. Ich werde mich nun wieder aufs Passive verlegen. Ich bin Schriftstellerin, da lernt man, gut hinzusehen und noch besser hinzuhören. Eine Fertigkeit, die Sie als Ermittlerin doch auch haben müssen, oder?«

»Entschuldigen Sie, dass ich immer wieder auf den gleichen Punkt zurückkomme. Sind Sie in dieser Hinsicht Maria Buchwieser nicht ähnlich? Ist sie nicht auch eine Frau mit Herzenswärme und Hirn?«

»Sie meinen, er hätte seine Frau nicht betrügen müssen? Er hatte alles, was er brauchte?« meinte Martina Jochum lächelnd.

Irmi fühlte sich wieder ertappt. Schließlich hatte er ja auch seine Frau betrogen… Sie bemühte sich, den Faden wiederzufinden. »Ja, vielleicht so in etwa.«

»Ja, ich glaube, dass Maria seinem Ideal ziemlich nahekommt. Sie war nur zu früh dran. Sie hätte ihn jetzt treffen müssen, als kluge Erwachsene und nicht als das elfenhafte Mädchen, das sie damals war.«

»Wusste Maria von Ihnen beiden?«

»Ja. Sie hat mich aber nie zur Rede gestellt, sie hat mir keine Szene gemacht, sie hat Ernst keine Szene gemacht. Das wäre in ihrer Situation auch keine überzeugende Darbietung geworden.«

Das klang ziemlich kryptisch, fand Irmi. »Was heißt, in ihrer Situation?«

»Maria Buchwieser hat eine Beziehung mit Hubert Deubel, seit Jahren schon.« Sie malte noch einen Kreis auf den Boden.

Irmi kannte solche Situationen. Dieses Gefühl, wenn das Adrenalin einströmte. Wie hatte Martina Jochum vorher gesagt: Gedanken wie Herbstblätter im Sturm. In ihrem Kopf tanzten ebenfalls Gedankenblätter. Sie tanzten wie Derwische. Hubert Deubel und Maria Buchwieser – die Elfe mit dem schwächsten der Fünf Freunde. Seit Jahren schon. Ihre Intuition und Kathis geschwätzige Cousine hatten also recht behalten.

Hatten Maria und Hubert nicht allen Grund, Buchwieser loswerden zu wollen? Hubert Deubels Frau würde sterben, bald schon. Seit Buchwiesers Tod war auch Maria frei. Irmi fragte sich, ob sie in eine völlig falsche Richtung ermittelt hatte. Hatte sie sich von Sympathie leiten lassen? Sie mochte Hubert Deubel, und Maria Buchwieser hatte sie in ihren Bann gezogen. Gleichsam verhext. Feen konnten zaubern, Elfen aus der Anderswelt konnten Gedanken regieren. Wurde sie langsam verrückt? Oder nur alt? War das ein Anzeichen von Burnout oder einfach stressbedingte Hysterie?

»Das überrascht Sie doch nicht wirklich, Frau Mangold, oder? Halb Garmisch glaubt Bescheid zu wissen. So ist das Leben. Die ganzen Fäden sind ineinander verwoben, verknotet.« Martina Jochum lächelte.

Irmi schluckte schwer. Dann straffte sie die Schultern. »Wer hat Ernst Buchwieser ermordet? Ihr Mann?«

»Nein, das hätte ihm nichts genützt. Er hat mich längst verloren.«

»Maria Buchwieser?«

»Nein, sie hatte Ernst auch verloren, das wusste sie. Vor Jahren schon hätte sie diese Beziehung beenden müssen, Ernst tat ihr nicht gut. Zu viel war über die Jahre passiert. Sie hat ihn verloren, obwohl sie ihn vielleicht hätte wiederhaben wollen. Aber zu ihren Bedingungen. Er hätte der Ernst sein sollen, den sie sich gewünscht hat. Mehr zu Hause, ihr zugewandter, weniger schnell in Gedanken und Taten.«

»Ist es denn so ungewöhnlich, wenn man sich von seinem Mann Zuwendung wünscht? Wie hätten Sie es denn gefunden, wenn Ernst mit anderen Frauen ins Bett gegangen wäre?« Irmi sah sie aufmerksam an.

»Ob Sie mir das glauben oder nicht: Es ist mir egal.«

»Die beiden sind aber über dreißig Jahre zusammen.«

»Ja, und zuletzt hat Maria lediglich der Kirche gedient. Um in Ettal den äußeren Schein zu wahren. Die Ehe ist schließlich ein heiliges Sakrament.«

»Wer war dann der Mörder? Hubert Deubel?«, fragte Irmi.

»Nein, seine Frau hat ihn freigegeben. Sie verlässt diese Welt demnächst. Warum hätte er Ernst ermorden sollen?«

»Die Klosterbrüder? Der Cellerar oder der Schulleiter?«

»Nein, sie hätten perfidere Methoden gekannt.«

»Rieger, der Krötenschänder?«

»Nein, weil Choleriker nicht planvoll agieren.«

»Quirin Grasegger?«

»Nein, der ist zu feige. Aufgeblasene Menschen sind immer feige.«

»Wer dann, Frau Jochum?«

»Jemand, der sein Gewissen beruhigen konnte, vielleicht gar nicht gemordet zu haben. Jemand, der das nicht als Mord empfunden hat. Niemand hätte Ernst Buchwieser wirklich ermorden wollen.«

»Unwirklich kann man aber nicht morden. Es wurde wirklich geschossen. Ihr Freund ist wirklich tot.«

Martina Jochum musterte Irmi, so als müsse sie herausfinden, ob Irmi es überhaupt wert sei, dass sie sich die Mühe gab, es noch einmal zu erklären. »Obwohl ich, die ich von Sprache lebe, das nicht sagen sollte: Ich kann es schlecht formulieren. Es ist ein unterschwelliges Gefühl. Das war kein herkömmlicher Mord.«

Irmi hatte eine Ahnung davon, was Martina Jochum sagen wollte. Es deckte sich mit ihren Gefühlen. Herkömmlich war gar nichts an diesem Fall. Nach einer Weile fragte sie: »Was werden Sie jetzt tun?«

Martina Jochum lächelte. »Ich war nie der Typ Augen zu und durch. Nein, mein Motto lautet: Augen auf und durch, denn auch in unangenehmen Situationen sieht man Neues, das Auge ist sensibilisiert. Ansonsten werde ich versuchen zu überleben. Das Geschenk annehmen, dass ich zumindest ein Mal erfahren durfte, was Liebe ist. Dass ich zu den Erwählten gehöre, die eine kurze Zeitspanne lang den Himmel berühren durften.«

Aus jedem anderen Mund hätte das pathetisch geklungen, aus ihrem klang es schlicht und wahr. Irmi beschloss, tatsächlich mal eines ihrer Bücher zu lesen, und sie spürte wieder diesen Stich. Sie hatte ihn noch. Fern und selten, aber er war immerhin am Leben. Martina Jochum hatte ihren Liebsten verloren.

Ihr Gegenüber fuhr fort: »Ich gehe für ein halbes Jahr nach Island. Eigentlich hatte Ernst mitkommen wollen. Es ist ein Literaturstipendium, das sich an Schriftstellerinnen richtet. Wir werden uns auf das Wagnis dieser besonderen Insel einlassen und jede eine Geschichte zu einem Sammelband beitragen, der ›Fenja‹ heißen wird. Das ist Isländisch und bedeutet ›Riesin‹.«

»Wann reisen Sie ab?«, fragte Irmi.

»Nächste Woche.«

»Egal, ob der Mörder bis dahin gefasst ist?«

»Ich habe mich schon von ihm verabschiedet.« Martina Jochum schluckte schwer. Dann nestelte sie an ihrer Jackentasche und zog eine Karte heraus, die sie Irmi reichte. »Meine Telefonnummern, meine E-Mail-Adresse, alle Kontaktdaten in Island, aber ich glaube, Sie finden den Mörder oder die Mörderin noch vor meiner Abreise.«

»Wäre das eine Genugtuung für Sie?«

»Nein. Ich werde übrigens auch nicht zur Beerdigung gehen. Ich hoffe doch sehr, dass sich die Seele schon längst in eine bessere Welt aufgemacht hat – egal, ob der Körper in Rauch aufgeht oder aber im Modergrab langsam verrottet.« Sie überlegte kurz und sagte dann scheinbar ohne Zusammenhang: »Obwohl christliche Beerdigungen besser auszuhalten sind.«

Irmi wusste, was Martina Jochum meinte. Es war gut, die Rituale zu kennen, die Litaneien mitzuleiern. Der strikte Ablauf reglementierte und fing auf. Nirgendwo sonst war der katholische Glaube so sehr eine Hilfe wie bei einer Beerdigung, weil er Platz ließ für eigene Gedanken. Sie war letztes Jahr auf einer Atheisten-Beerdigung gewesen. So hatten die Leute im Dorf das erbost genannt. Kein Pfarrer, dafür Reden von Freunden und Musik. Als Grönemeyers »Ein Stück von Himmel« ertönt war, hatte sie Menschen weinen sehen, denen sie keine Träne zugetraut hätte. Das war schlimmer gewesen, viel schlimmer!

»Gehen Sie auch nach Eschenlohe zurück?«, fragte Martina Jochum plötzlich.

Irmi nickte. Die beiden Frauen liefen schweigend nebeneinanderher. Der Nebel war aufgestiegen, die Dämmerung senkte sich herab. Bis sie an Irmis Auto angelangt waren, war es dunkel, und der Nebel waberte nass über die Auen. Noch war nicht Sommer. Noch lange nicht. Irmi fröstelte.

Martina Jochum gab ihr die Hand. »Viel Glück«, sagte sie. »Machen Sie es gut. Falls ich doch mal einen Kriminalroman schreiben sollte, darf ich Sie dann anrufen?«

»Natürlich.«

»Gut, das würde dann aber ein altmodisches Buch werden. Zu Simenons Zeiten lag die Sympathie immer aufseiten des Mörders, heute lieben alle nur ihre Serienkommissare. Seltsam, nicht wahr? Die Vita des Kommissars steht im Fokus, nicht der Fall.«

Darüber hatte Irmi nie nachgedacht, aber es stimmte. »Viel Glück in Island«, antwortete sie und sah der Frau hinterher, die mit energischen Schritten davonging. Schon bald wurde sie von der Dunkelheit verschluckt.

Die Lichter der Straßenlaternen gingen an und brachen sich im Nebel. Irmi lächelte. Die Nebel von Avalon, die Nebel von Eschenlohe – es musste gut sein, schreiben zu können. Sicher half es, den Schmerz zu verarbeiten, so ließ sich der Druck einfach in die Laptoptasten klopfen. Zumindest stellte sich Irmi das so vor. Wahrscheinlich war das ein Klischee.

Martina Jochum hatte ganz beiläufig so viele kluge Dinge gesagt, dabei war sie bestimmt zehn Jahre jünger als Irmi. Sie selbst konnte nur noch auf die Altersweisheit hoffen.