18

Sie fuhr langsam durch Garmisch und dann nach Partenkirchen. Nur Ernst Buchwieser hatte in Garmisch gewohnt, die anderen alle in Partenkirchen. War das auch ein Omen?, fragte sich Irmi. Halt, ganz so stimmte das nicht: Sepp Ostler lebte in Murnau in einer wahnsinnig schicken Wohnanlage mit freier Sicht aufs Moos und die Berge, auf neutralem Boden also. Neutral im ständigen Geplänkel zwischen den beiden Ortsteilen.

Das Büro von Hubert Deubel lag ebenfalls in der Waxensteinstraße, die Wohnung war im Erdgeschoss, im Obergeschoss das Atelier. Irmi läutete und stieg durch ein geschmackvolles Treppenhaus hinauf.

»Frau Mangold, schön, Sie zu sehen.« Hubert Deubel reichte ihr die Hand. Er schien das ehrlich zu meinen.

»Danke. An Sie, Herr Deubel, hätte ich auch noch ein paar Fragen, aber momentan würde ich gern Florian Eitzenberger sprechen. Er soll hier sein.«

Es war nicht zu übersehen, dass Hubert Deubel irritiert war. Er fasste sich aber schnell. »Er ist im Nebenraum, wir sind gerade an ein paar kleinen Zeichnungen.«

Der Nebenraum war durch eine Glaswand vom Empfangsbüro getrennt und bestand auch auf der Gegenseite aus einem riesigen Fenster. Man konnte vom Empfang aus in den lichtdurchfluteten Glaskasten sehen. Die »kleinen Zeichnungen« bedeckten fast den ganzen Boden und eine Pinwand. Florian Eitzenberger stand, umwogt vom Chaos, mittendrin und war hoch konzentriert. Er warf ein paar schnelle Striche auf ein Blatt, trat zurück und betrachtete das Werk.

In Hubert Deubels Stimme lag fast so etwas wie Zärtlichkeit. »Er ist ein Genie, ich habe immer gesagt, er soll auf die Kunstakademie gehen, aber das wollte er nie.«

»Zu viele Akademiker, oder?« Irmi lächelte.

»Ja, die mag er nicht. Ihm waren schon seine FH-Professoren in Rosenheim ein Graus. Mehr noch: zu viele Künstler, Flori begreift sich als Handwerker.«

Irmi registrierte, dass er leichte Schweißperlen auf der Stirn hatte. »Kann ich reingehen? Allein?«

Hubert Deubel war es sichtlich unangenehm, aber er nickte. Irmi öffnete die Tür, schloss sie wieder und wartete.

»Hubert, das gibt einfach kein Bild mit Eschenholz. Wir müssen Zirbel nehmen, auch wenn das teuer wird.«

»Entschuldigung, Herr Eitzenberger…«

Florian Eitzenberger fuhr herum. Er war groß, sicher über einsneunzig. Sein braunes Haar war schulterlang, gelockt, zum Pferdeschwanz gebunden. Ein paar Strähnen hatten sich gelöst. Er hatte eine ziemlich markante Nase, wirklich beachtlich waren seine Augen, die eigentlich braun waren, aber in Flammen zu stehen schienen – vermutlich, weil sie bernsteinfarbene Sprenkel besaßen. Der ganze Typ war wirklich eine ungewöhnliche Erscheinung, nicht direkt schön, aber ein Mann, den man nicht so schnell vergaß. Eigentlich müssten die Frauen Schlange stehen.

»Oh, hallo, ich dachte, es ist Hubert.« Er hatte auch eine angenehme Stimme.

Aber wahrscheinlich war er einer, der gar nicht wusste, welche Wirkung er auf Frauen hatte. Einer, der von seiner Arbeit völlig ausgefüllt war und auf Frauen kaum reagierte. Und genau das machte ihn noch interessanter.

»Irmi Mangold von der Kripo, ich war gerade bei Ihrer Mutter.«

»Aha.« Roswitha Eitzenberger hatte ihren Sohn anscheinend nicht vorgewarnt.

»Herr Eitzenberger, ich ermittle im Mordfall Buchwieser, und da bin ich auf den Tod Ihres Vaters gestoßen. Sie waren damals fünf.«

Sie standen sich immer noch inmitten der Zeichnungen gegenüber.

»Das ist korrekt«, sagte Eitzenberger.

»Was ist korrekt? Dass ich ermittle oder dass Sie fünf Jahre alt waren?«

Er lächelte ein wenig spöttisch, oder nein, wahrscheinlich war das eine Fehlinterpretation: Er lächelte abwesend. »Entschuldigen Sie, ich bin immer noch völlig auf diesen Plan hier konzentriert. Moment.« Florian Eitzenberger zog von irgendwoher einen Schemel, stellte ihn vor Irmi und setzte sich selbst im Schneidersitz auf den Boden.

»Also, Ihre Mutter«, sagte Irmi, »hat bis heute Zweifel an der Geschichte vom Unfalltod Ihres Vaters damals. Sie auch?«

Er sagte nichts, zu lange, wie Irmi fand. »Ich habe die Sache von links nach rechts und wieder zurück gewuchtet«, meinte er schließlich. »Ich habe so oft mit Hubert darüber gesprochen. Alle sagen dasselbe.«

»Das beantwortet meine Frage nicht.«

»Was könnte ich wohl damit gemeint haben?«, gab er unwillig zurück.

»Die Fragen stell immer noch ich. Und zwar so, wie ich will.« Irmi wurde deutlich unwirscher.

»Also gut, das beantwortet Ihre Frage insofern, als ich nicht mehr drüber reden will. Das Leben geht weiter. Ich will Normalität, verstanden?«

Da blitzte etwas durch, was Irmi ahnen ließ, wie der wütende Florian Eitzenberger aussehen mochte. Irmi ließ es erst mal dabei bewenden. In dieser Hinsicht würde sie ihn nicht aus der Reserve locken. »Herr Eitzenberger, wussten Sie, dass Ernst Buchwieser auf der Kandahar einen Film drehen wollte? Einen Film, der unter anderem den Tod Ihres Vaters zum Thema haben sollte?«

»Nein.«

Auch diese Antwort erschien Irmi eindeutig zu einsilbig. Sie hätte Überraschung oder zumindest geheuchelte Überraschung erwartet.

»Herr Eitzenberger, wo waren Sie am Sonntagvormittag?«

Er gab einen schnaubenden Laut von sich. »In meinem Büro.«

»Gibt es Zeugen?«

»Nein, ich gebe meinen Mitarbeitern sonntags frei, meine Mutter war in der Kirche und meine Oma in der Obhut des Pflegedienstes.«

»Welcher ist das denn?«, fragte Irmi.

»Werdenfels Ambulante Pflege. Die werden Ihnen auch nicht sagen können, ob ich da war.« Seine Bernsteinaugen funkelten.

»Aha, ja, dann danke ich Ihnen.« Irmi stand abrupt auf und stieß in der Glastür auf Hubert Deubel, der gerade einen Kaffee aus einem chromblitzenden Automaten ließ. Wieder einer mit so einer Höllenmaschine.

»Auch einen?«, fragte er. »Ich habe heute allen freigegeben, wir haben die letzten Samstage durchgearbeitet.«

»Einen Cappuccino, bitte«, sagte Irmi, und während Deubel einen Knopf betätigte, schoss sie ein paar scharfe Pfeile ab. »Schön, dass ich jetzt weiß, dass Sie eine Affäre mit Maria Buchwieser haben. Auch schön, dass Sie mich bezüglich des Vorgängermodells Ihres Flori da drinnen belogen haben. Weggezogen, von wegen, Herr Deubel. Er hat sich derrennt auf der Kandahar, und Sie haben zugesehen.«

Sein Blick fuhr hinüber zum Glaskasten. »Leise!«

»Wie viele Wahrheiten kennen Sie eigentlich? Für jeden Zuhörer eine andere? Wer bekommt denn welche Geschichte aufgetischt? Können Sie das alles noch auseinanderhalten?« Irmi war laut geworden.

Hubert Deubel hatte die Tür geschlossen und sah gequält aus. »Woher haben Sie das?«

»Von Maria, Ihrer Geliebten. Überrascht Sie das? Herr Deubel, verschonen Sie mich jetzt mit weiteren Lügen.«

»Wir hatten uns damals in diese Geschichte verrannt. Wir hatten diesen Schwur, diesen Pakt. Warum hätten wir so viele Jahre später reden sollen? Wissen Sie, wie weh wir da vielen Menschen tun müssten?«

»Ja, vor allem Flori, dem Sie ja wohl sehr nahe stehen. Wie ist das so, seinem Kompagnon jeden Tag ins Gesicht zu lügen?«

»Ach, Frau Mangold…« Er brach ab.

»Ach, Herr Deubel, das Problem ist bloß, dass Maria den Pakt aufgekündigt hat. Wissen Sie, ich kann das alles wieder aufrollen, nur wirkt es sich bestimmt nicht sonderlich positiv auf Ihrer aller Ansehen aus, dass Sie vor dreißig Jahren einen Freund einfach tot auf einer Skipiste haben liegen lassen.«

»Also, eigentlich…«

»Nichts eigentlich. Ich warne Sie, Herr Deubel. Kommen Sie mir jetzt nicht damit, dass Maria gelogen hätte. Bringen Sie weder Maria noch sich in die Verlegenheit, gegeneinander aussagen zu müssen.«

Er stöhnte regelrecht auf. »Meinen Sie, ich bin stolz darauf? Meinen Sie, ich träume nicht jede Woche von dem toten Flori?«

»Wie auch immer. Eigentlich hätten Sie in Zukunft noch viel mehr träumen müssen, wahrscheinlich jede Nacht, denn Ernst Buchwieser hatte vor, die alte Geschichte publik zu machen. Zwei seiner Schüler sollten einen Film drehen, und er wollte die Geister aus der Vergangenheit wachrufen. Sie wussten von dem Vorhaben, nicht wahr? Halbe Fußballmannschaften wussten davon. Vor allem aber wusste Quirin Grasegger davon, und leugnen Sie bitte nicht, dass er Ihnen davon erzählt hat.«

»Quirin hatte da etwas läuten hören, ja, das stimmt. Die Schüler wollten einen Anti-WM-Film machen, einen imageschädigenden, der aufzeigt, dass schon die Ski-WM vor dreißig Jahren keine Nachhaltigkeit besessen hat, dass der Kommerz schon damals überhandgenommen hatte. Er wollte zeigen, wie viel schlimmer das heute sein würde. Das hat Quirin zwar nicht gefallen, aber das hat doch alles nichts mit dem tragischen Tod von Flori senior zu tun.«

»Und ich sage Ihnen, er wollte einen ganz anderen Text hinausschreien in die Welt.« Irmi sah ihn scharf an.

»Woher wollen Sie das wissen, und wie wollen Sie das beweisen?« Nun klang Hubert Deubel sehr kühl.

»Herr Deubel, wo waren Sie noch gleich am Sonntagvormittag vor einer Woche?«

»Beim Laufen, das habe ich Ihnen doch gesagt!«

»Danke, das wollte ich nur noch mal wissen. Ach, Herr Deubel, kennen Sie diesen Spruch, dass jeder Mensch bis auf die Stufe aufsteigt, wo ihn seine Unzulänglichkeit einholt? Mit Lügen verhält es sich genauso. Irgendwann erreichen Sie eine Stufe, auf der alles in sich zusammenstürzt.«

Er sah sie an und zögerte den Bruchteil einer Sekunde. Sie dachte zurück an das Gespräch mit ihm in der Gruft. Wie sehr war Deubel damals erschrocken, als sie gefragt hatte, ob er geschossen habe. Damals war es nur ein Versuchsballon gewesen. Sie war damals schon so nahe dran gewesen, heute war sie sich sicher, dass Deubel seine Zeichnerhände nicht in Unschuld wusch. Er wusste etwas, daran hegte sie nun keinen Zweifel mehr.

Irmi verabschiedete sich, stieg die Treppe hinunter und setzte sich in ihr Auto. Von dort aus warf sie einen Blick in den Glaskasten, in dem Florian Eitzenberger und Hubert Deubel diskutierten und gestikulierten. Fast bedauerte sie es, dass sie nicht rauchte. Das wäre der richtige Moment gewesen, um eine Zigarette anzustecken. Im Fernsehen gab es so was. Die Kommissare rauchten dann immer ganz lasziv.

Irmi bemerkte, dass Deubel jetzt sein Handy herausgenommen hatte und telefonierte. Er war erregt, das war zu sehen. Sie hätte den gesamten Hof, den neuen Bulldog und sogar ihren geliebten Wald verwettet, dass Deubel Grasegger angerufen hatte.

Wenig später kamen die beiden Männer herunter und starteten ihre Fahrzeuge: Deubel einen großen Benz, Eitzenberger einen Nissan Pick-up. Eitzenberger wendete quietschend, Deubel fuhr in die andere Richtung. Irmi folgte langsam. Sie überquerten die Bundesstraße und hielten aufs Zentrum von Partenkirchen zu. Sie fuhren die Sonnenbergstraße hinauf und weiter in die Professor-Michael-Sachs-Straße. Ein Kleinlaster drängte sich zwischen Irmi und Deubel. Aber sie wusste sowieso, wohin es Deubel zog: in die Hasentalstraße, wo Quirin Grasegger sein nicht gerade bescheidenes Anwesen hatte. Hoch über den Niederungen der Stadt. Er konnte den anderen auf die Köpfe spucken, doch nun hatte Irmi vor, ihm in die Suppe zu spucken.

Sie hielt sich etwas entfernt und sondierte zunächst die Lage. Deubel klingelte an, und Grasegger persönlich öffnete. Kurz darauf hielt ein Mercedes Cabrio, älteres Modell, sehr schick, dem Sepp Ostler entstieg, ehe er auf das Haus zuhastete. Maria Buchwieser kam etwas später auf einer Vespa. Drei Freunde und ein Maskottchen, das den Vertrag gekündigt hatte. Irmi wäre gerne Mäuschen gewesen, das versprach ein anregendes Gespräch zu werden. Maria würde nichts zu lachen haben, die Herren würden ihr schwere Vorwürfe machen.

Die alte Rechenaufgabe drängte sich auf. Wieder vier Menschen: Dreimal wurde mit Platzpatronen geschossen, einmal scharf. Wer hatte scharf geschossen?

Irmis Handy läutete.

»Sailer, ich grüße Sie!«

»Ja, servus.«

»Und?«

»Ma hot sie gseng. In der Nähe von der Aule-Alm san s’ ausm Woid kemma. Es war ziemlich eisig im Woid, bei so oaner Glättn joggt ma doch ned.«

Die Stelle lag nicht weit von der Kreuzeckbahn entfernt und auch nicht weit von der Einserstütze der Bahn, wo eine langgezogene Kurve lag. Jene, in der Florian Eitzenberger verunglückt war und in der auch Ernst Buchwieser gelegen hatte. Die Herren hatten offensichtlich ihre übliche Strecke abgewandelt! Sie hatten auf ihren beliebten Einkehrstopp mit den Weißwürsten verzichtet und waren angeblich auf der Aule-Alm gewesen. Inmitten der anderen Lauf-Junkies. Warum hatten die Herren Sportler das verschwiegen? Es fügte sich eins zum anderen.

»Ach, Sailer, ich hätte da noch was. Können Sie bei Werdenfels Ambulante Pflege mal anfragen, wer am Sonntag bei der alten Frau Eitzenberger war? Machen Sie die Person ausfindig und erkundigen Sie sich bitte, ob Florian Eitzenberger im Haus war, gesehen wurde, weggefahren ist, was auch immer.«

»Ja.«

»Ja, was?«

»Ja, des mach i. Des is oafach, weil mei Cousine arbeitet dort.«

Irmi musste grinsen. Sailer war mit dem halben Werdenfelser Land verwandt. Gut, er hatte auch neun Geschwister. Daher gab es eigentlich niemanden, mit dem oder der er nicht verschwistert oder verschwägert war.

»Prima, Sailer, Sie melden sich wieder.«

»Ja, wie oiwei.«

Irmis Herz klopfte, es pulsierte in den Schläfen. Drei Freunde und das Maskottchen hatten eine Krisensitzung einberufen. Sie zwang sich, all die anderen außen vor zu lassen. Rasthofer, den Cellerar, Rieger sowieso. Vier Menschen, deren Schicksal verwoben war mit dem von Ernst Buchwieser. Vier Menschen, dreimal Platzpatronen, einmal ein tödliches Geschoss. Aber würde Maria Buchwieser wirklich schießen können? Irmi kam das so abwegig vor. Es blieb ihr nur, die Männer und Maria Buchwieser noch mal zu befragen. Als Zeugen, nicht als Angeklagte, denn auch in diesem Fall war ihr klar, dass die Staatsanwaltschaft nicht mitziehen würde.

Als Irmi das Haus betrat, waren wie immer nur die Hündin Wally und Kater daheim, Bernhard steckte wieder irgendwo. Heute war es wahrscheinlich die Feuerwehr.

Irmi öffnete lustlos den Kühlschrank. Sie hatte plötzlich wahnsinnigen Appetit auf Tagliatelle mit Sahnesoße. Das gab der Vorrat aber nicht her, und allein in eine Pizzeria gehen? Den Pizzaservice anrufen? Letztlich schmierte sie sich Leberwurst auf zwei Brotscheiben, die nicht mehr ganz taufrisch waren. Natürlich hatte sie die Leberwurst viel zu dick aufgetragen.