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»Beatrice Grasegger können wir aber nur mit Zustimmung der Eltern befragen«, sagte Irmi.
»Ja, oder einfach mal by the way. Beatrice Grasegger ist heute Abend sicher in der Gruft.«
»Wo?«
»In der Gruft, das ist ein Steinbruch, genau genommen eine Partyhütte in einem aufgelassenen Steinbruch. Da gehen alle hin, das ist Kult, und da gibt’s immer wieder Feste. Heute auch, es ist nämlich Donnerstag, und es gibt jetzt an allen vier Donnerstagen vor Ostern solche Partys. Das haben ein paar vom Burschenverein mal vor Jahren angefangen. Ich dachte, wir könnten uns mal unters Volk mischen.« Kathi grinste.
Irmi hatte völlig vergessen, dass Ostern vor der Tür stand. Das bedeutete nämlich auch, dass in einer Woche die Osterferien beginnen und in Ettal alle ausgeflogen sein würden. Die Zeit brannte.
»Ich dachte, Ostern hat was mit Auferstehung zu tun. Was macht man denn in der Gruft?«
»Saufen, blöd daherreden und Typen angraben.« Kathi zuckte mit den Schultern.
»Schön, und du sagst dann, du hättest deine Mutter mitgebracht?« Das sollte witzig klingen, aber Irmi hörte den bitteren Unterton in ihrer eigenen Stimme.
Kathi, der feine Nuancen fremd waren, merkte nichts. »Unsinn, da gehen alle hin, auch die Alten.« Sie stockte nicht mal, machte kein betretenes Gesicht.
»Na dann«, Irmi schluckte einen großen Klumpen Ärger hinunter, wie sie das so oft tat. Irgendwo in der Magengegend war wohl die Lagerstätte für all diese unverdaulichen Klumpen, und irgendwann würden sie ihren Magen zum Bersten bringen.
Die sogenannte Gruft lag oberhalb von Kaltenbrunn. Irmi und Kathi folgten einem Pfad, der abwärts führte, hinter dem Wald waren Stimmen zu hören, Licht flackerte durch die Bäume.
Nach etwa fünf Minuten waren sie da. Ein Steinbruch wie ein Amphitheater, in der Mitte loderte ein Feuer, in das ein paar Jungs gerade einen alten Pressspanschrank wuchteten, der sofort Feuer fing und ungesunde grünliche Blasen warf. Am Rande stand ein kleiner Stadel, der zur Bar umfunktioniert war. Ein DJ gab sein Bestes: völlig hip-hopfrei, Musik aus Irmis Generation, das war doch ein Lichtblick.
Wenn man eine Liste der zehn markantesten Unterschiede zwischen Landjugend und Stadtkids aufstellen würde, dann stünden die Stadelfeste ganz oben. Private Feste, Schwarzgastronomie, Alkohol, der an Dreizehnjährige ausgeschenkt wurde, Cola Rum bis zum Erbrechen – im echten Wortsinn. Geknutsche und mehr auf irgendwelchen Bänken, die für Wanderer vorgesehen waren. Jeder mit jeder, jede mit jedem. Die Auswahl war ja ziemlich begrenzt.
Und untrennbar damit verbunden war, dass stets das verheizt wurde, was stank und zischte – natürlich verheizte keiner das gute Brennholz auf Stadelfesten.
Irmi musste grinsen und blickte amüsiert in die Runde. Die Frisuren und Klamotten mochten sich geändert haben, nicht aber der ewige Tanz um Mr. Right. Die Mädels saßen kichernd auf Bierkästen, umgeben von ein paar linkischen Jungs. Es gab kleine Rangeleien und Geschubse. Wie alt waren die wohl? Dreizehn, vierzehn höchstens.
Auf der anderen Seite des flackernden Haufens standen die Städter um die dreißig, die in München oder Innsbruck studierten oder arbeiteten und zu hohen Festtagen zu ihren Eltern heimkamen. Weihnachten oder Ostern versammelten sie sich an den Stätten ihres jugendlichen Wirkens.
Kathi war zu der Gruppe hinübergeschlendert, ein paar Küsschen auf die Wange, Lachen, durch das Feuer wirkten die Gesichter milde und erinnerten doch an Fratzen.
»Interessiert sich die Kripo neuerdings für Alkohol bei Jugendlichen?«, meinte plötzlich jemand hinter ihr.
Irmi drehte sich langsam um. Hubert Deubel, keine Frage. Die Baueingabe lag etwa fünf Jahre zurück, aber er hatte sich überhaupt nicht verändert. Gut, seine Haare waren ziemlich weit zurückgewichen, und er war dünner, als sie ihn in Erinnerung gehabt hatte. Aber er strahlte etwas Positives aus. Seine leicht schräg gestellten braunen Augen waren voller Wärme.
»Herr Deubel, grüß Sie.« Irmi lächelte ihn an, und so blöd das vielleicht war, sie freute sich, ihn zu sehen. Weil er mindestens so alt war wie sie. Noch einer aus der echten Gruft namens Ü 50.
»Und was führt Sie hierher?«, fragte er.
»Nichts Spezielles. Meine Kollegin wollte auf ein Bier gehen. Und Sie?«
»Meine Tochter ist mit einer Freundin hier, und ich habe angeboten, die beiden Weiber vor zwölf heimzufahren.« Er sah auf die Uhr. »Aber ich bin eine Stunde zu früh da. Was trinken Sie, Frau Mangold? Cola Rum?«
»Bewahre. Man halte sich fern von Getränken, in denen Cola enthalten ist.«
»Bier?«
»Die schenken hier Löwenbräu aus. Zweite Regel: Man halte sich fern von Bieren, bei denen es um Tiere geht. Also Löwenbräu, Hasenbräu…«
Deubel lachte. »Was dann?«
Irmi überlegte kurz. Aber sie war ja nicht offiziell im Dienst. »Ramazzotti?«
»Geht klar.«
Kurz darauf war er mit einem Plastikbecher zurück.
»Das ist mindestens ein Dreifacher!«, meinte Irmi lachend.
»Ja, ich wollte nicht so oft gehen.«
»Na, so sauf ich auch wieder nicht.« Irmi hielt die Nase in den Becher.
»Das wollte ich Ihnen auch gar nicht unterstellen.«
Sie stießen an.
»Wie alt ist Ihre Tochter?«, erkundigte sich Irmi.
»Theresa ist vierzehn, die Mädels sind früh dran heute. Meine Tochter leider auch.« Er wies auf eine Bank am Feuer, auf der ein paar Gören saßen. »Da drüben sitzt sie, ganz links. Es ist ihr natürlich hochnotpeinlich, dass ihr Papa hier rumlungert.«
Das Mädchen war zartgliedrig, blond und sehr hübsch. Sie flüsterte gerade mit einer Freundin. Die war brünett, etwas größer, für ihr Alter ziemlich entwickelt. Und sie war Quirin Grasegger wie aus dem Gesicht geschnitten.
»Das neben ihr ist Beatrice, oder?«, fragte Irmi.
»Ach, kennen Sie Beatrice?«
»Nein, aber ihr Papa kann die Vaterschaft kaum leugnen.«
Hubert Deubel lachte. »Allerdings. Sie waren bei Quirin, habe ich gehört.«
»Na, die Buschtrommeln funktionieren ja gut, der Informationsfluss zwischen den Fünf Freunden sprudelt wie ein munterer Quell.«
Deubel runzelte ganz kurz die Stirn. »Frau Mangold, wir führen alle durchaus spannende Leben, auch ausgefüllte, aber wenn ein sehr guter Freund ums Leben kommt, redet man natürlich darüber.«
»Natürlich.«
Eine etwa vierzigjährige Frau war nähergetreten. Sie nickte Irmi zu, dann herzte und küsste sie Hubert Deubel und überschüttete ihn mit einem Redeschwall.
Es war eine schwachsinnige Idee gewesen, hierher zu kommen. Schließlich konnten sie ohne Einwilligung der Eltern ohnehin nicht mit Beatrice reden. Plötzlich überkam Irmi eine große Traurigkeit, die über sie schwappte wie ein Schwall Wasser, ihr den Boden unter den Füßen wegzog wie eine Welle. Sie starrte ins Feuer, und was eben noch amüsant gewesen war, schmerzte auf einmal. Da stand sie nun also mit ihren fünfzig Jahren, aber sie hatte keine Kinder abzuholen. Und anstatt dem lieben Herrgott zu danken, dass sie dieses biblische Alter erreicht hatte und nicht mehr kichernd auf Bierkisten sitzen musste, empfand sie nichts als Traurigkeit und Wut. Über sich selbst. Warum stand sie hier inmitten von Kids, die bald ihre Enkel hätten sein können? Sie, die sie sich immer über Frauen lustig gemacht hatte, die dem ewigen Jugendwahn verfallen waren, die einfach nicht einsehen konnten, dass es für manches eben zu spät war und dass das Leben Zeitfenster vorgesehen hatte, die sich irgendwann einmal schlossen. Die man dann auch nicht mit aller Gewalt aufstemmen sollte.
Sie sah sich um. Kathi wuschelte mal wieder an ihren Haaren herum, ein Typ mit Pferdeschwanz himmelte sie an. Kathi, wenig einfühlsam wie immer, außer wenn es um sie selbst ging, beherrschte es gut, das Spiel mit der Zerbrechlichkeit. Irmi nicht, die ihre zehn Kilo zu viel Dauerballast mit sich umhertrug. Sie, die fast einen Meter achtzig groß war und die Menschen zum Dauersatz animierte: »Du machst das schon.« Betonung auf Du, Konnotation: Andere nicht, aber die sind auch nicht so groß und stark wie du. Irmi wünschte sich augenblicklich hier weg, sie wünschte sich ins Bett zu Kater und Bernhards alter Hündin Wally.
Mittlerweile hatte die Frau von Deubel abgelassen, und er trat wieder ein paar Schritte näher, ein schiefes Lächeln auf dem Gesicht. »Wo waren wir stehengeblieben?«
»Nirgends.«
»Frau Mangold, Sie ermitteln im Mordfall meines Freundes. Sie können mich gerne hier und heute etwas fragen. Für mich ist es kein Unterschied, ob in meinem Büro, in Ihrem oder auch hier!«
»Na gut. Wer hat Ernst Buchwieser erschossen? Sie?«
Hubert Deubel war für den Bruchteil einer Sekunde konsterniert. Dann hatte er sich wieder im Griff. »Na, dass Sie so direkt werden, hätte ich nicht gedacht.« Das sollte witzig klingen, aber so ganz gelang ihm das nicht.
»Berufskrankheit! Also dezenter gefragt: Wer waren seine Feinde?«
Hubert Deubel schwieg.
»Ist die Frage so schwer?«
»Nein, ich möchte sie wahrheitsgemäß beantworten. Ich muss nachdenken, um Ihnen eine richtige Antwort zu geben. Entschuldigen Sie die Gegenfrage, das ist keine Ausflucht. Was wissen Sie über Ernst Buchwieser?«
»Was mir Maria erzählt hat, was die Gespräche mit dem Schulleiter und dem Cellerar ergeben haben. Was Quirin Grasegger gesagt hat. Was in der Zeitung stand.«
Er nickte. »Sie müssen sich ein Bild aus zweiter Hand machen. Das bringt Abstand mit sich, und der ist sicher gut und wichtig in Ihrem Job. Aber Sie haben ihn nicht gekannt. Wer ihn gekannt hat, hatte eine Meinung. Wenn Ernst auf Menschen traf, hat er sie bezaubert, verführt oder bis aufs Blut gereizt. Aber selbst die, die er gereizt hat, waren nicht unbedingt seine Feinde. Nicht in dem Sinn, dass sie ihn ermordet hätten. Dazu war Ernst zu…« Er überlegte kurz. »…zu göttlich.«
»Aber jemand muss sich dieser Aura doch entzogen haben. Er wurde ermordet.«
»Ja, ich weiß. Ernst war einfach der speziellste Typ, den ich in meinem Leben kennengelernt habe.« Er schluckte schwer.
Dieser Ernst Buchwieser hatte das Leben seiner Freunde regiert und regierte es über den Tod hinaus. Irmi musterte Deubel genau. »Herr Deubel, wie war das damals mit dem DvG? Wie war das mit Kurt Buchwieser? War der ein uneinsichtiger und unrettbarer Alkoholiker oder ein Opfer der Umstände?«
»Da muss ich auch etwas weiter ausholen. Ich war bei den Fünf Freunden der Jüngste, der Pickeligste, der Unsportlichste. Ich war ein dickes Kind und ein pummeliger Jugendlicher, hab aber mit siebzehn noch einen ziemlichen Wachstumsschub gemacht, und dann ging es irgendwann. Aber ich war und bin«, er zuckte entschuldigend die Schultern, »immer zu massig.«
Redeten Männer nun auch schon übers Abnehmen? Obwohl es Irmi abwegig vorkam, sich mit einem Mann, den sie kaum kannte, über Gewichtsprobleme zu unterhalten, stieg sie ein: »Sie haben doch bestimmt fünfzehn Kilo abgenommen, seit ich Sie zum letzten Mal gesehen habe.«
»Achtzehn«, sagte er und lachte. »Aber in einem Jahr hab ich zehn davon sicher wieder drauf.«
»Alles die Gene. Ich bin ja auch…« Irmi sah an sich hinunter.
»Sie sind ganz richtig so, Frau Mangold«, meinte Deubel und fuhr fort: »Jedenfalls war ich der mit dem geringsten Selbstvertrauen. Für mich war es eine große Ehre dazuzugehören. Ernst mochte mich. Ich war auserwählt.«
»So was Ähnliches hat Maria auch gesagt.«
»Wenn ich mir diese ganze irre Zeit damals vor Augen halte, dann waren Maria und ich am schwächsten. Wir hatten Bedenken, wenn Ernst nachts ins Eisstadion einstieg, um Schlittschuh zu laufen. Wir fanden den Wahrnehmungsverlust, wenn gekifft wurde, gar nicht erstrebenswert. Mir machte es Angst, wenn ich alles lauter hörte, wenn ich kichern musste wie ein Mädchen, wenn ich Moped fuhr und bei vierzig Stundenkilometern das Gefühl hatte, gleich die Schallmauer zu durchbrechen. Eine Zeit lang hat sich Ernst von ein paar Amis so ein flüssiges ölartiges Zeug besorgt, das man einfach außen auf eine ganz normale Zigarette geschmiert hat. Keine Ahnung, was da sonst noch drin war, aber ich fand die Wirkung eher beängstigend.« Er brach ab.
»Ich verhafte Sie deshalb heute nicht.« Irmi lächelte.
»Nein, das hab ich auch nicht befürchtet. Mir kommt das Ganze nur so vor, als wäre es gestern gewesen. Wenn wir uns in den letzten Jahren über damals unterhalten haben, dann hat man gespürt, wie sehr Ernst das genoss. Wie er in diesen Geschichten gebadet hat. Ich fand mich mit zwanzig alles andere als glänzend und war im Kreis der Fünf Freunde auf Position fünf. Um auf Kurt zurückzukommen: Er war wie ich, voller Ängste und Zweifel. Mit einem Bruder wie Ernst war er gestraft. Er war ein Opfer, aber er hat sich auch zu sehr gehen lassen. Ich glaube, seine Umgebung hätte früher gegensteuern müssen. Aber es war wie immer: Ernst hat nichts unternommen, also wir auch nicht. Was Ernst vorgab, war die Marschrichtung.«
»Wenn Sie die Nummer fünf waren, wie verteilten sich denn dann die anderen Plätze?«, fragte Irmi.
»Der Quirin war die Nummer zwei mit Ambitionen auf den Spitzenplatz. Sepp Ostler hatte das Talent eines perfekten Mitläufers, der konnte sich anpassen, hatte immer Spaß und ein sonniges Gemüt und wäre wahrscheinlich auch ohne uns ausgekommen.«
Irmi wartete ein paar Sekunden. »Da war noch Florian Eitzenberger.«
»Ach ja, der Flori. Ein Hitzkopf, aber nicht intelligent genug, Ernst oder Quirin das Wasser zu reichen.«
»Der ist inzwischen weggezogen, meinte Maria.«
»Äh, ja, genau.«
Irmi nippte an dem Ramazzotti, der nicht weniger werden wollte. »Die Vergangenheit ist noch sehr nah, oder?«
»Ja, Todesfälle bringen immer diese Erinnerungen mit sich. Man ruft so vieles auf, was sonst nur in Fotoalben klebt. Eigentlich beklemmend.«
»Was, das Erinnern?«
»Dass die Vergangenheit die Gegenwart so stark prägt«, sagte Hubert Deubel sehr nachdenklich.
»Aber in der Gegenwart ist Ernst gestorben. Wer war es? Er hat mit seinen spektakulären Protestaktionen gegen die WM sicher mehr Feinde als Freunde gewonnen. Göttlich oder nicht, auch Götter stürzen, sie stürzen nur tiefer«, sagte Irmi.
Hubert Deubel betrachtete sie interessiert. »Da haben Sie wohl recht.«
»Wie stehen Sie denn zur WM?«, erkundigte sich Irmi.
»Wahrscheinlich wie die meisten. Ich glaube nicht, dass hinterher alles anders ist als vorher. Sicher bringt die WM einen gewissen Bekanntheitsgrad für den Ort, sicher gibt es Investitionen, die dem Tourismus nutzen, aber Alpinski ist doch immer noch eine Randsportart. Wenn wir hier eine Fußball-WM hätten, dann vielleicht… Lassen Sie mich es mal so sagen: Es schad ned vui, es nutzt ned vui.«
Irmi lachte. »Werdenfelser Pragmatimus?«
»Ja, klar, damit sind wir über die Jahrhunderte ganz gut gefahren. Wer einen Werdenfelser verbiegen will, muss ein Titan sein oder Uri Geller. Ich verstehe die ganze Aufregung gar nicht. Wir haben jeden Winter Weltcup-Rennen. Schön und gut, und eine Woche später kräht kein Hahn mehr danach.«
»Herr Deubel, damit liefern Sie mir auch keine Verdächtigen, höchstens Einblick in unser aller Mentalität«, scherzte Irmi. »Ernst hatte offenbar ein großes Mitteilungsbedürfnis, er hat seinen alten Kumpels doch sicher Schwänke aus seinem Leben erzählt.«
»Sie meinen Schwänke über die, die seine Visionen nicht teilten? Also, ich weiß nur, dass er Probleme mit dem Cellerar des Klosters hatte und dass…«
»Auch mit dem Schulleiter?«, unterbrach Irmi ihn.
»Ja, aber den hat er nicht ernst genommen. Im Bund Naturschutz gibt es einen Dr. Jochum, der ziemlich angefressen war von seinen Alleingängen, und dann war da ja noch diese Krötengeschichte, die wirklich bizarr ist.«
Irmi wollte nichts über die aktuelle Lage im Fall Rieger sagen, also stellte sie sich dumm. »Ich habe gehört, der Freund von Beatrice, ein gewisser Lutz, sei in Ernst Buchwiesers Umwelt-AG gewesen. War Ihre Tochter denn auch in der AG?«
»Nein, aber fragen Sie sie selbst. Ich muss die Mädels jetzt sowieso heimbringen.«
Hubert Deubel machte ein paar Handzeichen in Richtung seiner Tochter, die mit Beatrice Grasegger im Schlepptau unwillig herüberschlurfte.
»Es ist nach zwölf. Wir fahren jetzt. Das ist Frau Mangold von der Polizei, die hätte ein paar Fragen an dich.« Hubert Deubel trat ein paar Schritte zur Seite und begann ein Gespräch mit einem Bekannten.
Theresas feines Gesichtchen blieb teilnahmslos, Irmi registrierte aber ein Erschrecken bei Beatrice Grasegger.
»Theresa, kennst du Lutz Rasthofer?«
Sie nickte. Ihre Freundin war bei dem Namen regelrecht zusammengezuckt.
»Geht es auch in ganzen Sätzen?«
»Ja, ich kenne ihn, er ist der Freund von Bea. Ist ja wohl logisch, dass ich ihn da kenn.« Theresa hatte zwar ein Engelsgesicht, wirkte aber pubertätsbedingt patzig.
»Dann wisst ihr sicher von den Kröten?«
»Sie doch auch. Die ganze Schule redet davon, dass der alte Rieger rumgeballert hat und jetzt sitzt. Stimmt das?«
Irmi zog es vor, die Frage zu ignorieren. »Was mich interessiert, sind die Aktionen der Umwelt-AG. Lutz war ja ganz schön aktiv!« Irmi sah nun Beatrice an, die zu Boden blickte.
»Und was ist eigentlich mit dem Film?«, schob Irmi hinterher.
»Welcher Film?« Das kam von Theresa.
»Der Skifilm.«
»Ich weiß nichts von einem Skifilm«, sagte Theresa. »Du, Bea?«
Beatrice würgte ein »Nein« hervor.
Irmi war sich absolut sicher, dass die beiden nicht die Wahrheit sagten. »Lutz ist krank, hab ich gehört.«
»Ja, Grippe«, sagte Bea mit einem dünnen Stimmchen.
»Na, dann gute Besserung. Ihr simst doch sicher, oder?«, meinte Irmi fröhlich. »Ach, hättet ihr eben die Nummer von Lutz für mich?«, sagte sie plötzlich. Der Überfalleffekt funktionierte. Bea nannte die Nummer, und Irmi prägte sie sich ein. Hubert Deubel stand inzwischen allein da. Irmi nickte ihm zu, und er trat wieder näher. »So, die Damen: Abmarsch«, sagte er. Dann nickte er Irmi zu. »Frau Mangold, falls Sie noch Fragen haben, Sie wissen ja, wo Sie mich finden.«
Irmi sah den dreien nach. Dann zog sie ihr Handy aus der Tasche und speicherte die Nummer ab. Sie hatte gottlob ein Bombengedächtnis, das noch nicht der zunehmenden Verkalkung zum Opfer gefallen war.
Das Feuer flackerte noch immer, es war eine schöne Nacht. Oder wäre eine schöne Nacht gewesen, wenn man mit dem Richtigen am Feuer gestanden hätte. Mit ihm zum Beispiel. Irmi machte ein paar Schritte auf das Feuer zu und rief sich zur Räson, jetzt bitte keinen Sentimentalitätsanfall zu bekommen. Sie hatte einen klaren Auftrag: Wer war der Mörder von Ernst Buchwieser? Diese Mädchen logen, das war offensichtlich gewesen. Kathi und sie würden Lutz Rasthofer befragen müssen. Sie war sich ziemlich sicher, dass dieser Film existierte.
Der Mörder von Ernst Buchwieser musste einer gewesen sein, der resistent gegen dessen Aura gewesen war. Rieger! Dieser Muhackl war sicher nicht zu beeindrucken gewesen. Der war momentan aus dem Verkehr gezogen, das hieß, er konnte den Jungs nichts antun.
Kathi kam ihr entgegen. »Du hast mit Beatrice geredet, hab ich gesehen.«
»Na ja, geredet eher nicht.« Irmi erstattete kurz Bericht.
»Eindeutig! Wir müssen mit Lutz sprechen. Und wenn ich diese Zerberusse da im Kloster eigenhändig zur Seite trete.« Kathi war wieder voll in Fahrt.
»Eigenfüßig.«
»Was eigenfüßig?«
»Na, bei Treten müsste es eigenfüßig heißen«, sagte Irmi mit einem Lachen.
Kathi verzog den Mund. »Deinen Humor möchte ich haben.«
»Gut, dann lass uns morgen noch mal nach Ettal fahren, außerdem könntest du die Jogging-Story überprüfen. Ich wollte diesen Dr. Jochum mal besuchen, der wohnt auch in Eschenlohe. Ich glaub, den überfall ich gleich morgen in der Früh.«
Diesmal kam kein Einwand von Kathi. »Sehen wir uns so gegen elf im Büro?«, fragte sie nur.
Irmi nickte. Die Fünf Freunde geisterten ihr noch durch den Kopf. Hubert Deubel war also der Mitläufer gewesen, der Gefolgsmann. Diesen Florian Eitzenberger würde sie auch noch ausfindig machen müssen. Aber das hatte Zeit.
Bis sie im Bett lag, war es zwei. Sie war zwar alt, aber unbelehrbar. Wenn man um halb sechs aufstehen musste, ging man nicht um zwei ins Bett. Manchmal wünschte sie sich inständig, Bernhard würde ein Frau finden, die statt ihrer in der Früh in den Stall ging. Vielleicht sollte sie ihn mal bei »Bauer sucht Frau« anmelden. Hässlich war er ja nicht, auch nicht dumm – er hatte es sich nur einfach so zwischen all seinen Pöstchen eingerichtet, dass für eine Frau kein Platz war. Und er hatte ja seine dämliche Schwester, die immer verfügbar war.