19
Am nächsten Tag führte Irmi noch von zu Hause aus einige Telefonate. Sie lud die drei Männer vor und bat sie um ihre Kooperation. Die Termine vereinbarte sie so, dass die Herren gestaffelt im 15-Minuten Rhythmus auftauchen würden.
Sailer hatte angerufen und vermeldet, dass die Frau vom Ambulanten Pflegedienst sicher war, dass Florian Eitzenbergers Pick-up weggefahren war. Noch eine Lüge mehr im Lügenmeer, doch was bedeutete das für den Fall?
Als Irmi ihr Büro betrat, saß Kathi an ihrem Platz.
»He, du bist krankgeschrieben.«
»Nein, bin ich nicht, und ich habe auch schon einige Termine bei deiner Psychologin. Aber ich will das hier zu Ende bringen. Mit dir.« Sie zögerte. »Bitte.«
Es war dieses »Bitte«, das Irmi rührte.
»Gut, dann pass mal auf.« Irmi setzte Kathi ins Bild, während die ruhig zuhörte.
»Alles klar. Und nun?«, fragte sie dann.
»Nun konfrontieren wir die Herren noch mal mit der Frage, warum sie eine andere Laufstrecke angegeben haben. Wir haben sonst nichts in der Hand«, sagte Irmi und sah auf die Uhr. Grasegger würde der Erste sein.
Quirin Grasegger war alles andere als begeistert über Irmis neuen Vorstoß. »Warum haben Sie mir erzählt, Sie wären Ihre Hausstrecke gelaufen, und in Wirklichkeit waren Sie auf der Aule-Alm?«
»Jetzt machen Sie daraus doch keinen Staatsakt! Wir sind eben eine etwas andere Strecke gerannt. Und sind eben woanders eingekehrt, was ist daran so tragisch?«
»Weil ein paar hundert Meter weiter Ernst Buchwieser erschossen wurde«, sagte Irmi lakonisch.
»Ja, hier liegt eben alles nah beieinander.« Das sollte wohl süffisant klingen, der Tonfall misslang ihm aber.
»Und wieso haben Sie falsche Angaben gemacht?«
»Ach, kommen Sie, Frau Mangold! Ich habe eine Bank zu leiten, ich investiere jede Woche Unmengen von Stunden in die Ausschussarbeit für die WM. Muss ich mir da merken, wo genau ich beim Laufen war? Das ist ja lächerlich!«
Die anderen beiden argumentierten ganz ähnlich wie Grasegger. Irmi und Kathi baten die drei Herren, kurz zu warten.
»Wir haben wieder mal die völlig gleichen Aussagen«, meinte Kathi. »Alle drei wollen diese alte Gschicht ruhen lassen. Der Flori hätte eben acht Goaßn-Halbe gehabt, die anderen auch nicht viel weniger – bis auf Ernst, der wohl wenig Alkohol trank, dafür mehr kiffte und mit Tabletten experimentiert hat.«
»Ja, und wir hören auch sonst immer wieder dieselbe Platte. Sie hätten das in der Rückschau betrachtet natürlich nie zulassen dürfen, aber damals seien sie jung gewesen und alkoholisiert, und die Idee, dass einer nachts mit Stirnlampe Bestzeit hätte fahren wollen, wäre für sie eben ab einem gewissen Punkt einfach ein nächtliches Abenteuer gewesen. So wie sie auch ins Eisstadion eingebrochen sind oder ins Schwimmbad«, ergänzte Irmi.
»Das hat sich auch heute noch so angehört, als wären die drei stolz. Krank, oder?«, rief Kathi.
»Glorifizierung der Jugendzeit, wohliges Schauern, wenn man die Heldentaten von anno Schnee erzählt. Je älter und spießiger Menschen werden, desto höher hängen die Taten der Jugend.«
»Männer!«, kam es von Kathi. »So bled und deppert san bloß Männer.«
Irmi grinste, manchmal bewies Kathi wirklich Lebenserfahrung. »Für mich stimmt an der ganzen Geschichte irgendetwas nicht. Die lügen. Denn wenn das damals so gewesen wäre, dann hätte das zwar im Hause Eitzenberger für Aufruhr und Wut gesorgt, aber mir fehlt der eigentliche Skandal.«
»Na ja, ich finde das schon skandalös. Fünf Falschaussagen und dann die Tatsache, dass die den Toten einfach haben liegen lassen. Überleg dir das mal. Mir läuft es heute noch kalt den Rücken hinunter.« Kathi schüttelte sich wie zur Demonstration.
Doch Irmi genügte das nicht. Alle Beteiligten hatten sie immer nur mit winzigen Brotkrumen gefüttert, mit Fitzelchen, mit Brocken, die man ihr hingeworfen hatte wie einer Ente auf dem Barmsee. Die ganze Wahrheit musste anders aussehen. Ihr reichte es allmählich mit den Krumen.
»Ich will keine Brotkrumen mehr, keine Halbwahrheiten«, sagte sie. »Da haben diese fünf stets zusammengesteckt, und einer macht plötzlich so einen Alleingang? Rast die Piste runter?«
Es war eine Weile still, bis Kathi sagte: »Du meinst…?«
»Ja, wäre das nicht viel logischer? Die Fünf Freunde, immer komplett, immer im Land der tausend Abenteuer.«
»Dann hätte Maria Buchwieser aber gelogen. Sie hat doch gesagt, sie war mit ihrem Walkie am Ziel und die anderen oben am Start, oder.« Kathi atmete einmal tief durch.
»Was, wenn Maria Buchwieser gar nicht gelogen hat? Was, wenn auch sie nur eine Brotkrume der Wahrheit hingeworfen bekommen hat?«
Kathis große, schwarz geschminkte Augen wirkten riesig in ihrem blassen, schmalen Gesicht. »Du meinst, die haben Maria all die Jahre belogen? Im Irrglauben gelassen?«
»Vielleicht haben die Jungs sie auch nur geschont. Weil die ganze Wahrheit zu schrecklich gewesen wäre.«
Irmi war sich auf einmal sicher, dass sie endlich am Ziel waren: Die Fünf Freunde waren gemeinsam gefahren, sie hatten ein irres Nachtrennen durchgezogen. Natürlich waren sie alle oben am Start gewesen, aber sie hatten da nicht etwa ihrem Kumpel Flori zugejubelt, nein, sie waren im Massenstart losgedonnert.
Was war wirklich passiert in jener Nacht? Vielleicht waren sie tatsächlich am Ziel, doch solange keiner redete, würden sie auf der Zielgerade verhungern.
Irmis Handy ging. Es war Lutz.
»Lutz, wie geht es dir?«
Sie hörte zu, doch schon bald hielt es sie nicht mehr auf dem Stuhl. Sie ging im Zimmer auf und ab und beendete das Gespräch.
»Ja!«, schmetterte Irmi anschließend.
»Jetzt sag schon!« Kathi war aufgesprungen.
»Das war Lutz Rasthofer. Er hat mit seinem Freund Robin noch mal alles durchgekaut. Wohl auch, weil die Psychologin, die wirklich gut ist, mit den Jungs über ihre Ängste gesprochen hat.«
»Ich brauch kein Plädoyer für diese Frau, ich geh ja eh hin. Jetzt sag schon, was ist?« Kathi klang gereizt. Sie fand allmählich wieder zu ihrer alten Form.
»Robin erinnert sich, dass er Quirin Grasegger an jenem Sonntag aus seinem Zimmer hat kommen sehen. Er hatte das irgendwie verdrängt, weil er vermutet hatte, dass Grasegger seine Tochter Bea gesucht hatte. Robin und Lutz teilen sich ja ein Zimmer. Das war genau zu dem Zeitpunkt, als der Film verschwunden ist.« Irmi blickte Kathi triumphierend an.
»Dafür wird Grasegger sicher auch noch eine Erklärung finden, oder. Alles Zufall.«
»Mir sind das aber zu viele Zufälle. Komm!« Irmi war entschlossen.
Im Nebenzimmer hatte Grasegger sich am Fensterbrett aufgestützt und sah nach draußen. Ostler saß auf einem Stuhl, und Deubel lehnte an der Wand.
»Sie spielen lieber mit dem Feuer als mit der Asche, meine Herren, nicht wahr? Wie haben Sie mal so schön gesagt, Herr Deubel: Es sei doch beklemmend, wie stark die Vergangenheit die Gegenwart prägt. So stark, dass Sie morden mussten. Ich sage Ihnen jetzt mal, wie das 1978 abgelaufen ist: Sie sind zu fünft ein aberwitziges Nachtrennen gefahren, und dann ist etwas passiert, was zu Floris Tod geführt hat.«
Stille.
Irmi begann die Aussagen von vorher vorzulesen. »Und, kommt Ihnen das bekannt vor?«
Schweigen.
»Es gab so eine Situation vor dreißig Jahren schon einmal. Polizeiprotokolle, die sich glichen wie ein Ei dem anderen. Es ging um den Tod eines gewissen Florian Eitzenberger. Den Mann, der weggezogen ist. Schöne Formulierung, am Rande bemerkt. Hatten Sie da vielleicht Ihre philosophischen fünf Minuten: Tod ist wie ein Umzug in eine andere Welt?« Irmis Stimme war lauter geworden. »Und, war das so, Herr Deubel, Herr Grasegger, Herr Ostler, Verzeihung: Herr Dr. Ostler?«
Die drei Herren schwiegen beharrlich weiter.
»Sind Sie diesmal wieder auf dem Wank gestanden und haben einen Schwur getan, ja? Einen Pakt geschlossen? Ist in Ihrer Terminologie der nervtötende Ernst Buchwieser auch ›weggezogen‹? Verdammt, ich will jetzt endlich einmal die Wahrheit hören, und zwar die ganze. Nicht nur Bruchstücke!«
Sepp Ostler warf Hubert Deubel einen Blick zu. Quirin Grasegger sah aus dem Fenster.
»Was jetzt, meine Herren! Wollen Sie Ihre Anwälte anrufen?«
»Das sind doch alles Hirngespinste!«, rief Grasegger. »Machen Sie Ihren Job vernünftig, und halten Sie unbescholtene Bürger nicht von ihrer Arbeit ab.«
Irmi tat einen Schritt auf ihn zu. »Seit einer Woche mache ich meine Arbeit zum ersten Mal richtig, weil ich mich von Ihnen allen nicht mehr einwickeln lasse.« Wütend wandte sie sich an Deubel. »Was mich am meisten daran entsetzt, Herr Deubel, ist, dass Sie Maria all die Jahre belogen haben. Ist das die Basis, auf der Sie Ihre Zukunft aufbauen wollen? Sie haben nicht mehr so viel Zeit. Sie nicht, Maria nicht.«
»Was soll denn dieses Gequatsche?«, polterte Grasegger.
»Stimmt, Männer quatschen ja nicht, sie handeln. Wer von Ihnen hat Florian Eitzenberger damals in den Tod getrieben?«, fragte Irmi unvermittelt.
»Ernst.« Das kam von Hubert Deubel, sehr leise.
Grasegger fuhr herum, packte Hubert Deubel an den Schultern und schüttelte ihn. »Du Weichei, du verdammtes, du Depp…«
In dem Moment sprang Ostler auf und brüllte in einer Lautstärke, die Irmi ihm nicht zugetraut hätte: »Halt dein Maul, Quirin! Es reicht jetzt!«
An Irmi gewandt, sagte er: »Ich möchte eine Aussage machen.«
Hubert Deubel trat neben ihn. »Ich auch.«
Ostler begann: »Sie haben recht. Wir haben uns von der Bergwacht zwei Schneemobile aus dem Depot geklaut, die Tür war leicht zu knacken, ohne Spuren zu hinterlassen. Wir sind hochgefahren und anschließend alle auf Skiern schussabwärts die Piste runter. Flori war hackedicht, Ernst war zugekifft bis unter die Haarspitzen, wir anderen waren auch ziemlich voll. Ernst lachte die ganze Zeit hysterisch und feixte: Keiner fährt schneller als Kurtl. Wir haben uns selbst gestartet. Es war Irrsinn, ich meine, die Kandahar ist keine Familienpiste. Heute ist der Verlauf ein anderer, aber damals war das schon im Tröglhang einfach Kamikaze. Sie müssen sich vorstellen, dass wir alle sehr gute Skifahrer waren, wir waren im Skiklub, aber es mit einem austrainierten Rennläufer wie Kurt aufzunehmen war Irrsinn. Der Einzige, der das eventuell draufgehabt hätte, war eben Florian. Er gehörte, bis er siebzehn war, dem DSV-Kader an, er ist sogar ein paar Europacup-Rennen gefahren. So wie wir da runtergeprescht sind, fährt man ohne jede Möglichkeit, zu steuern oder zu bremsen. Man muss besoffen sein oder unter Drogen. Es war schnell klar, dass Flori uns um die Ohren fuhr. Und Ernst wollte es auf keinen Fall zulassen, dass Flori schneller fahren würde als Kurt. Genau das deutete sich an, und da hat Ernst ihn irgendwie geschnitten, abgedrängt, und Flori donnerte gegen die Einserstütze. Er war augenblicklich tot.«
Er war totenstill im Raum, bis Hubert Deubel ein Geräusch von sich gab, das wie das Atemholen eines Menschen klang, der kurz vor dem Ersticken war. Er hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Quirin Graseggers Gesicht war zur Maske erstarrt.
»Sie haben seinen Tod festgestellt«, meinte Irmi. »Dann wurde Maria im Tal unruhig und funkte hoch. Sie gaben an, nachzusehen, warteten etwas Zeit ab, ersannen die Geschichte, die dreißig Jahre Bestand haben sollte. War es so?«
Ostler nickte.
»Und das wollte Ernst Buchwieser öffentlich machen?«
Wieder ein Nicken.
»Und dann haben Sie drei beschlossen, ihn zu eliminieren?«
Hubert Deubel hatte sich wieder gefasst und antwortete: »Wir haben ihm gut zugeredet, wir haben gefleht, wir haben ihm alles Mögliche angeboten. Er hat uns ausgelacht. Bevor wir uns noch weiter in Lügen verstricken: Ja, wir haben seinen Tod beschlossen, wir konnten nicht anders. Aber wir wollten keinen von uns zum Auftragskiller degradieren.«
Irmi sah Deubel an, dann Ostler, sie wagte kaum zu atmen. Die drei Unzertrennlichen, letztlich getrennt durch einen gezielten Schuss. Drei Platzpatronen, ein Treffer. Da fehlte der vierte Mann oder die vierte Frau.
»Und dann?«, fragte sie.
»Wir haben drei Waffen präparieren lassen. Wir wussten nicht, welche geladen war. Wir wissen das bis heute nicht, und ich hoffe, dass ich es nie erfahren muss«, sagte Ostler gequält.
Irmi hatte Mühe, kühl und überlegt zu wirken. »Sie sagen, Sie haben sie präparieren lassen?«
»Ja.«
»Wer hat die Gewehre ausgegeben? Wer durfte Schicksal spielen? Maria?« Irmi hatte mehr und mehr das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
»Maria hat nichts damit zu tun. Nein, es war Flori«, sagte Deubel.
»Flori? Florian Eitzenberger, der Junior?« Irmis Stimme brach.
»Ja.«
»Sie haben ihn zum Mitwisser an einem Mord gemacht?«
»Ja, ich weiß, das klingt alles abwegig. Aber Flori ist über all die Jahre zu einem Freund geworden, er war der Sohn unseres Kumpels.«
»Ich verstehe Sie aber schon richtig: Florian Eitzenberger junior glaubt bis heute, dass sein Vater allein in der Nacht unterwegs war?«
»Ja, und das muss so bleiben. Bitte.« Deubel klang wie ein kleiner Junge.
Irmi war für den Moment so konsterniert, dass Kathi sagte: »Wird schwer jetzt, oder? Er hat die Waffen präpariert, das ist mindestens Beihilfe zu einem Mord.«
Irmi hatte sich wieder etwas gefasst. »Sie wollen mir also vermitteln, dass Sie Florian Eitzenberger den Auftrag gegeben haben, drei Waffen zu präparieren? Und er hat nie gefragt, zu welchem Zweck? Herr Deubel, Herr Dr. Ostler, Herr Grasegger – das ist doch nicht möglich! Ich habe Florian erlebt, er ist ein kluger, sensibler und willensstarker Mann.« Irmi brach ab, das ging ihr alles nicht in den Kopf.
»Genau«, fiel Kathi ein. »Er muss doch nachgefragt haben!«
»Hat er auch«, erwiderte Ostler. »Wir haben ihn gebeten, uns zu vertrauen. Wir haben ihm versichert, dass das nicht zu seinem Schaden ist. Er hat die Waffen an einem vorher festgelegten Platz nahe der Aule-Alm deponiert. Er hatte dann nichts mehr damit zu tun. Wirklich!«
Irmi sah Kathi an, nur ganz kurz. Und das war einer der Momente, in denen sie froh war, ihre junge Kollegin bei sich zu haben. Noch eine Person mit der weiblichen Sicht der Dinge. Sie wusste, dass in einer Männerwelt so etwas passieren konnte. Markige Sprüche, Männlichkeitsrituale, ein Paar Halbe zuviel, Verdrängen auf Teufel komm raus. Männer waren Meister im Verdrängen und im blinden Glauben-Wollen. Vertrau uns, Flori, vertrau deinen großen Freunden… Es war zum Kotzen!
Irmi nickte Kathi unmerklich zu, diese fuhr fort: »Sie standen also nebeneinander und haben abgedrückt, als Buchwieser herunterkam? Und sofort die Szenerie verlassen, die Augen tunlichst von den Hülsen gelassen, oder. Sie alle drei waren im Glauben, es nicht gewesen zu sein?«
Deubel nickte.