FÜNFZEHN
In der Wüste kann es tagsüber glühend heiß und nachts eisig kalt sein, aber Dschibuti liegt am warmen Wasser des Golfs von Aden, und hier bleibt es mild. Ein Colonel der U. S. Air Force erwartete den Spürhund am Fuß der Treppe vor der geparkten Grumman und begrüßte ihn im Auftrag des Stützpunktkommandanten. Er trug den leichten tropischen Wüstentarnanzug, und der Spürhund war überrascht, wie mild die Nachtluft war, als er dem Colonel über das Rollfeld zur Operationszentrale folgte, wo man zwei Räume für ihn vorbereitet hatte.
Das Oberkommando der Air Force in den USA hatte dem Stützpunktkommandanten nur wenig gesagt – außer dass es sich um eine Geheimoperation des J-SOC handelte und dass er mit dem TOSA-Offizier, der sich als Colonel Jamie Jackson vorstellen würde, in jeder Hinsicht kooperieren solle. Der Spürhund hatte sich für diesen Namen entschieden, weil er alle nötigen Papiere dazu bei sich hatte.
Sie kamen an der C-130 Hercules der Royal Air Force vorbei. Außer der Standardkokarden auf dem Leitwerk trug sie keine weiteren Insignien. Der Spürhund wusste, dass sie zum 47. Geschwader der Special Forces gehörte. Im Cockpit schimmerte Licht. Die Crew hatte es vorgezogen, an Bord zu bleiben und sich einen richtigen Tee aufzubrühen, statt das zu trinken, was die Amerikaner so bezeichneten.
Sie gingen unter der Tragfläche hindurch, vorbei an einem Hangar, in dem es von Bodenpersonal wimmelte, und weiter zum Gebäude der Operationszentrale. Zu der »Kooperation in jeder Hinsicht« gehörte die Begrüßung der sechs schmuddelig aussehenden britischen Fallschirmjäger, die drinnen versammelt waren und sich eine Reihe von Fotos an der Wand anschauten.
Ein ziemlich erleichterter amerikanischer Master Sergeant, dessen Schulterabzeichen ihn als Kommunikationsspezialisten auswiesen, drehte sich um und salutierte. Der Spürhund grüßte zurück.
Als Erstes fiel ihm an den sechs Briten auf, dass an ihren Wüstentarnanzügen keine Rang- oder Einheitsabzeichen waren. Gesichter und Hände waren dunkelbraun von der Sonne, ihre Gesichter waren stoppelbärtig, und sie hatten wirres Haar bis auf einen, der kahl wie eine Billardkugel war.
Der Spürhund wusste, einer von ihnen musste der junge Offizier sein, der diese Einheit führte. Er hielt es für besser, geradewegs zur Sache zu kommen.
»Gentlemen, ich bin Colonel Jamie Jackson vom U. S. Marine Corps. Ihre Regierung in Gestalt Ihres Premierministers war so freundlich, uns Sie und Ihre Dienste für heute Nacht auszuborgen. Wer von Ihnen hat das Kommando?«
Wenn er gedacht hatte, bei der Erwähnung des Premierministers würde irgendjemand auf die Knie fallen, war er an die falsche Einheit geraten. Einer der sechs trat vor. Als er sprach, erkannte der Spürhund den Tonfall, den man in jahrelanger Ausbildung auf einem privaten Internat erwirbt, das die Briten mit ihrem Talent, immer das Gegenteil zu sagen, als Public School, also als öffentliche Schule, bezeichnen.
»Ich, Colonel. Ich bin Captain, und mein Name ist David. In unserer Einheit benutzen wir keine Nachnamen und keine Dienstgradbezeichnungen, und wir salutieren auch nicht. Außer vor der Königin selbstverständlich.«
Dem Spürhund war klar, dass er es mit einer weißhaarigen Königin niemals würde aufnehmen können. Also sagte er nur: »Okay, solange Sie heute Nacht tun können, was nötig ist. Und mein Name ist Jamie. Machen Sie uns bekannt, David?«
Die übrigen fünf waren zwei Sergeants, zwei Corporals und ein Trooper, auch wenn die Pathfinder keine Dienstgradbezeichnungen benutzten. Jeder hatte eine Spezialität. Pete war Sergeant und ein Sanitäter, dessen Fähigkeiten über die Erste Hilfe hinausreichten. Barry, der zweite Sergeant, war Fachmann für Waffen aller Art. Er sah aus wie das Resultat der liebevollen Vereinigung eines Nashorns mit einem Kampfpanzer – klobig und hart. Die beiden Corporals waren Dai, der walisische Hexenmeister, der für die Kommunikation zuständig war und die verschiedenen Zauberartikel mitschleppen würde, die es den Pathfindern nach der Landung ermöglichen würden, mit Dschibuti und Tampa in Verbindung zu bleiben und die Videoübertragung dessen zu verfolgen, was die Drohne über ihnen sehen konnte. Der Kahlköpfige hieß natürlich Curly, der »Lockenkopf«, und er war ein Automechaniker von nahezu genialischem Talent.
Der Jüngste, was Alter und Dienstgrad betraf, war Tim. Er hatte beim Logistics Corps angefangen und war ausgebildeter Experte für Sprengstoffe aller Art, aber auch für die Entschärfung von Bomben.
Der Spürhund wandte sich an den amerikanischen Master Sergeant.
»Berichten Sie«, sagte er und deutete auf die Fotos an der Wand.
Auf einem großen Monitor sah man genau das, was die Drohnenleitstelle auf dem Luftwaffenstützpunkt MacDill bei Tampa in Florida sehen konnte. Der Sergeant gab dem Spürhund einen Ohrhörer mit angehängtem Mikro.
»Hier ist Colonel Jackson auf dem Stützpunkt in Dschibuti«, sagte er. »Höre ich Tampa?«
Auf dem Flug hierher hatte er ständig Kontakt mit Tampa gehabt, und dabei hatte er mit Master Sergeant Orde gesprochen. Inzwischen hatte acht Zeitzonen weiter westlich ein Schichtwechsel stattgefunden, und jetzt hörte er eine Frauenstimme mit dem knautschenden Akzent des tiefen Südens: Melasse auf Zuckerrohr.
»Tampa hier, Sir, Specialist Jane Allbright auf dem Leitstand.«
»Was haben wir, Jane?«
»Kurz vor Sonnenuntergang ist das Zielfahrzeug in einer winzigen Ortschaft mitten im Nirgendwo angekommen. Wir haben die Insassen gezählt, die ausgestiegen sind. Fünf von der Ladefläche, darunter einer mit einer roten Baseballkappe. Drei aus der Kabine. Der Anführer wurde von so was wie einem Dorfältesten begrüßt, und dann wurde es dunkel, und die menschlichen Gestalten wurden zu Wärmeklecksen in der Infrarotdarstellung. Mit dem letzten Licht sind noch zwei offene Pick-ups aus nördlicher Richtung angekommen. Sie enthielten acht Personen, und eine davon musste von zwei anderen halb mitgeschleift werden. Der Gefangene hatte anscheinend blondes Haar. Ein paar Sekunden später war es dunkel, und einer der Männer aus dem Süden schloss sich der Gruppe aus dem Norden an. Der blonde Gefangene blieb ebenfalls bei der Nordgruppe. Nach den Infrarot-Wärmesignaturen wurden sie in zwei Gebäude einquartiert, zu beiden Seiten des zentralen Platzes, auf dem die drei Fahrzeuge parken. Die warmen Motoren haben sich abgekühlt und sind im Dunkeln nicht mehr zu sehen. Anscheinend ist auch keiner mehr aus den Häusern gekommen. Die einzigen Wärmesignaturen kommen von einem Ziegenpferch auf der einen Seite des Platzes, und ein paar kleinere wandern umher, vermutlich Hunde.«
Der Spürhund dankte ihr und wandte sich dem Monitor zu. Er sah das Dorf, das in Realzeit von einer neuen Global Hawk – die vorige war ebenfalls abgelöst worden – beobachtet wurde. Sie hatte noch fünfunddreißig Stunden Flugzeit vor sich, mehr als genug also, und mit ihrem Synthetic Aperture Radar und der elektrooptischen Infrarotkamera würde sie alles sehen, was sich dort unten bewegte.
Einen Moment lang beobachtete der Spürhund die roten Kleckse der Straßenköter, die zwischen den dunklen Vierecken der Häuser zu sehen waren.
»Haben Sie irgendein Mittel gegen Wachhunde, David?«
»Wir schießen sie ab.«
»Zu laut.«
»Wir schießen nicht daneben.«
»Es braucht nur einer zu japsen, und die andern rennen kläffend auseinander.«
Er wandte sich an den Master Sergeant.
»Schicken Sie jemandem zum Lazarett. Fragen Sie nach dem stärksten und am schnellsten wirksamen oralen Betäubungsmittel, das sie haben. Und besorgen Sie aus der Kantine ein paar Pakete rohes Beefsteak.«
Der Sergeant hängte sich ans Telefon. Die Pathfinder wechselten kurze Blicke. Der Spürhund ging zu den Fotos an der Wand, den letzten, die noch bei Tageslicht aufgenommen worden waren.
Das Dorf war verkrustet vom Wüstensand, und weil der Sandstein der Umgebung, aus dem es gebaut war, die gleiche Farbe hatte, war es beinahe unsichtbar. Ein paar struppige Bäume umgaben es, und in der Mitte des Platzes lag der lebensnotwendige Brunnen.
Die untergehende Sonne warf lange schwarze Schatten von Westen nach Osten. Die drei Technicals waren noch deutlich zu erkennen. Sie parkten in einer Reihe neben dem Brunnen. Ein paar Gestalten umgaben sie, aber keine sechzehn. Einige mussten in den Häusern verschwunden sein. Acht Fotos aus verschiedenen Blickwinkeln, doch alle erzählten die gleiche Geschichte. Das brauchbarste, was man den Bildern entnehmen konnte, war die Richtung, aus der ein Angriff kommen musste: von Süden.
Das Haus, in dem die Gruppe aus Marka sich aufhielt, stand auf dieser Seite, und eine Gasse führte von dem Haus in die Wüste. Der Spürhund ging zu einer Landkarte in großem Maßstab, die neben den Fotos an der Wand hing. Jemand hatte ein hilfreiches rotes Kreuzchen auf die Stelle in der Wüste gemalt, wo sie abspringen würden. Er versammelte die sechs Pathfinder um sich herum und verbrachte dreißig Minuten damit, ihnen seine Schlussfolgerungen zu erläutern. Das meiste hatten sie schon selbst gesehen, bevor er gekommen war.
Doch ihm war klar, sie würden Details, deren Studium Tage dauern konnte, innerhalb von drei Stunden absorbieren müssen. Er sah auf die Uhr. Es war einundzwanzig Uhr. Vor Mitternacht mussten sie in der Luft sein.
»Ich schlage vor, wir versuchen, fünf Klicks südlich des Ziels abzuspringen, und erledigen den Rest des Weges im Tab.«
Er kannte ein wenig britischen Militärslang und benutzte ihn jetzt: »Klicks« waren Kilometer, und »Tab« war ein Gewaltmarsch. Der Captain zog eine Braue hoch.
»Sie haben ›wir‹ gesagt, Jamie.«
»Ganz recht. Ich bin ja nicht hergeflogen, nur um Sie zu briefen. Sie haben das Kommando, aber ich springe mit.«
»Wir springen normalerweise nicht mit Passagieren. Und wenn, dann höchstens im Tandem, wobei der Passagier an Barry geschnallt wird.«
Der Spürhund sah den Riesen an, der vor ihm aufragte. Keine reizvolle Vorstellung, an dieses Mammut geschnallt fünf Meilen tief durch eisige Finsternis zu fallen.
»David, ich bin kein Passagier. Ich bin Aufklärer beim U. S. Marine Corps. Ich war im Gefechtseinsatz im Irak und in Afghanistan. Ich habe Tiefseegerätetauchen und Freifallschirmspringen gemacht. Sie können mir jeden beliebigen Platz in der Sprunggruppe zuteilen, aber ich springe mit meinem eigenen Schirm. Ist das klar?«
»Jawohl.«
»In welcher Höhe wollen Sie aussteigen?«
»Bei fünfundzwanzigtausend.«
Das leuchtete ein. Aus dieser Höhe würde man die vier dröhnenden Allison-Turbopropmotoren kaum noch hören können, und für jeden wachsamen Lauscher würden sie sich nach einer vorüberfliegenden Linienmaschine anhören. Halb so hoch, und die Alarmglocken würden schrillen. Sein höchster Absprung war einer aus fünfzehntausend Fuß Höhe gewesen, und das war etwas anderes. Bei fünfzehntausend brauchte man weder Thermokleidung noch Sauerstoff, bei fünfundzwanzigtausend jedoch schon.
»Tja, das wär’s dann.«
David schickte Tim, den Jüngsten, hinaus zur Hercules, aus der er diverse Ausrüstungsgegenstände holen sollte. Sie hatten immer Ersatzmaterial dabei, und weil sie sich nach vierzehn Tagen in Oman auf dem Heimflug befanden, war die Transportmaschine mit Sachen vollgepackt, die normalerweise am Boden geblieben wären. Nach ein paar Minuten kam Tim mit drei weiteren Männern in Arbeitsoveralls zurück. Einer schleppte einen BT80, das französische Fallschirmmodell, auf dessen Verwendung die Pathfinder bestanden. Wie alle britischen Special Forces hatten sie das Privileg, sich ihre Ausrüstung aus dem internationalen Angebot selbst auszusuchen.
So hatten sie neben dem französischen Fallschirm das amerikanische M4-Sturmgewehr, die dreizehnschüssige belgische Browning und das Kampfmesser des britischen SAS, das K-Bar.
Dai, der Funker, würde das amerikanische TacSat-(Taktische Satelliten-)Funkgerät PRC 152 und den optischen Video-Downlink-Sensor vom britischen Typ Firestorm bei sich tragen.
Noch zwei Stunden bis zum Start. Im Operationszentrum zogen die sieben Männer Stück für Stück eine Schutzkleidung an, in der sie sich schließlich wie die mittelalterlichen Ritter in ihrer Rüstung kaum noch ohne Hilfe würden bewegen können.
Man stöberte ein Paar Springerstiefel für den Spürhund auf. Zum Glück war er von durchschnittlichem Körperbau, sodass ihm der Rest der Kleidung problemlos angepasst werden konnte. Zum Schluss kam der Bergen-Rucksack mit Nachtsichtgeräten, Wasser, Munition, Pistole und anderen Dingen.
Die drei neu dazugekommenen Männer assistierten ihnen, vor allem dem Spürhund. Wie die Knappen in alten Zeiten würden sie ihre Pathfinder bis an den Rand der Luke geleiten, eingeklinkt in Halteseile für den Fall, dass sie stolperten, und dabei sein, wenn sie ins Leere hinaussprangen.
In einem Probelauf schnallten sie ihnen den BT80 und den Bergen um, den einen vorn, den anderen hinten, und die Gurte an beiden so festgezurrt, dass es wehtat. Dann kamen die Gewehre mit abwärts gerichtetem Lauf, die Handschuhe, Sauerstoffflaschen und Helme. Der Spürhund sah überrascht, wie viel Ähnlichkeit der Pathfinder-Helm mit seinem Motorradhelm hatte – abgesehen natürlich von der Sauerstoffmaske aus schwarzem Gummi, die daran baumelte, und der Schutzbrille, die eher zum Tauchen gepasst hätte. Dann legten sie alles wieder ab.
Es war halb elf. Spätestens um Mitternacht mussten sie in der Luft sein, denn von Dschibuti zu dem Flecken in der somalischen Wüste, den sie angreifen würden, lagen ziemlich genau fünfhundert Meilen. Zwei Stunden Flugzeit, hatte der Spürhund ausgerechnet, und zwei Stunden Marsch bis zum Ziel. Um vier Uhr morgens sollten ihre Feinde im Tiefschlaf liegen und nur träge reagieren können. Er gab seinen sechs Kameraden ein letztes Einsatzbriefing.
»Dieser Mann ist die Zielperson«, sagte er und reichte ein postkartengroßes Porträt herum. Alle studierten das Gesicht und prägten es sich ein. Sie wussten, dass sie es womöglich in sechs Stunden in einer stinkenden somalischen Hütte durch den grünen Schimmer ihrer Nachtsichtbrillen sehen würden. Das Gesicht, das ihnen von der Karte entgegenschaute, gehörte Tony Suarez, der vermutlich elf Zeitzonen weiter westlich gerade die kalifornische Sonne genoss. Aber etwas Besseres hatte er nicht.
»Er ist ein sehr hochkarätiges al-Qaida-Ziel, ein erfahrener Killer mit einem leidenschaftlichen Hass auf unsere beiden Länder.«
Der Spürhund ging hinüber zu den Fotos an der Wand.
»Er ist aus Marka gekommen, aus der al-Schabaab-Region im Süden, mit einem einzelnen Pick-up, einem Technical. Mit dem da. Er hatte sieben Mann bei sich, darunter einen Führer, der sich jetzt wieder seiner eigenen Gruppe angeschlossen hat. Darüber später mehr. Das heißt, die Gruppe der Zielperson besteht noch aus sieben Mann. Einer davon wird nicht kämpfen, denn er ist ein Agent, der für uns arbeitet. Er wird so aussehen.«
Der Spürhund holte ein neues, größeres Foto heraus, eine vergrößerte Aufnahme von Opals Gesicht, das in den Himmel schaute, in die Kamera der Global Hawk. Auf dem Kopf trug er die rote Baseballkappe.
»Mit etwas Glück wird er die Schießerei hören und in Deckung gehen, und ich hoffe, er wird daran denken, die rote Kappe aufzusetzen, die Sie hier sehen. Er wird nicht gegen uns kämpfen. Sie dürfen unter keinen Umständen auf ihn schießen. Damit bleiben noch sechs, und die werden kämpfen.«
Die Pathfinder schauten das schwarze äthiopische Gesicht an und prägten es sich ein.
»Was ist mit der anderen Gruppe, Boss?«, fragte der kahle Curly, der Autospezialist.
»Ach ja. Die Drohne hat beobachtet, wie unsere Zielperson und ihr Team dieses Haus hier bezogen hat, am Südrand des Dorfplatzes. Auf der anderen Seite ist die Gruppe, mit der sie sich hier getroffen haben. Das sind Piraten aus dem Norden, aus dem Sacad-Clan. Sie haben eine Geisel mitgebracht, einen jungen Kadetten der schwedischen Handelsmarine. Den hier.«
Der Spürhund zeigte sein letztes Foto. Er hatte es von Adrian Herbert vom SIS, und der hatte es von Mrs. Bulstrode bekommen. Es stammte vom Antragsformular für den Marineausweis, und sein Vater, Harry Andersson, hatte es beschafft. Das Foto zeigte einen gut aussehenden blonden Jungen in einer Reederei-uniform, der unschuldsvoll in die Kamera schaute.
»Was macht der da?«, fragte David.
»Er ist der Köder, mit dem die Zielperson hierhergelockt wurde. Die Zielperson will den Jungen kaufen und hat zu diesem Zweck eine Million Dollar mitgebracht. Vielleicht hat der Austausch schon stattgefunden; dann wird der Junge sich im Haus der Zielperson befinden, und die Million ist auf der anderen Seite des Platzes. Vielleicht ist der Austausch auch erst für morgen früh geplant und soll vor der Abfahrt stattfinden. So oder so, halten Sie Ausschau nach einem blonden Jungen, und schießen Sie nicht auf ihn.«
»Was will die Zielperson mit einem schwedischen Kadetten?« Die Frage kam von Barry, dem Riesen. Der Spürhund formulierte seine Antwort sorgfältig. Grund zum Lügen gab es nicht, aber es galt die Regel »Kenntnis nur bei Bedarf«.
»Den Sacads aus dem Norden, die ihn vor ein paar Wochen auf See gefangen genommen haben, hat man gesagt, die Zielperson habe die Absicht, dem Jungen vor laufender Kamera die Kehle durchzuschneiden. Ein kleines Geschenk für uns im Westen.«
Im Raum wurde es still.
»Und diese Piraten – werden die auch kämpfen?«, fragte David, der Captain.
»Unbedingt. Aber ich nehme an, wenn die Schießerei sie weckt, sind sie benebelt von den Nachwirkungen ihres Khat. Wir wissen, dass dieser Stoff sie entweder tranig oder ultragewalttätig macht. Aber wenn wir ihnen einen langen Feuerstoß durch das Fenster jagen, werden die ja nicht annehmen, da sei ein Trupp Fallschirmjäger aus dem Westen gekommen, sondern ihre Geschäftspartner würden sie angreifen, weil sie ihr Geld zurückholen oder den Jungen umsonst bekommen wollen. Ich möchte sie quer über den freien Platz stürmen sehen.«
»Wie viele sind es, Boss? Die Piraten?«
»Wir haben acht gezählt, die kurz vor Sonnenuntergang aus diesen beiden Technicals gestiegen sind.«
»Also vierzehn Gegner, alles in allem?«
»Ja, und ich hätte gern, dass die Hälfte tot ist, bevor sie in die Senkrechte kommen konnte. Wir machen keine Gefangenen.«
Die sechs Briten versammelten sich um Porträts, Fotos und Landkarten und berieten sich leise. Der Spürhund hörte Ausdrücke wie »Hohlladung« und »Frag«. Er verstand genug von allem, um zu wissen, dass das eine eine Sprengladung zum Durchschlagen eines schweren Türschlosses war, das andere eine hoch fragmentierende Splittergranate. Finger tippten auf verschiedene Stellen des vergrößerten Fotos von dem Dorf im Abendlicht. Nach zehn Minuten waren sie fertig, und der junge Captain kam grinsend herüber.
»Alles klar«, sagte er. »Machen wir uns fertig.«
Der Spürhund begriff, dass die Pathfinder soeben ihr Einverständnis zu einer Operation gegeben hatten, um das der Präsident der Vereinigten Staaten gebeten und das ihr eigener Premierminister autorisiert hatte.
»Na prima«, war alles, was ihm dazu einfiel. Sie gingen hinaus. Die Luft war immer noch mild. Während sie die Mission durchgesprochen hatten, waren die drei Assistenten fleißig gewesen. Im Licht, das aus dem offenen Tor des Hangars fiel, lagen sieben Ausrüstungsstapel in einer Reihe. In dieser Reihenfolge würden sie in den Bauch der Hercules steigen, und in umgekehrter Reihenfolge würden sie sich in fünfundzwanzigtausend Fuß Höhe in die Nacht hinausstürzen.
Mithilfe ihrer Assistenten stiegen sie in ihre Ausrüstung. Der Chefassistent, ein altgedienter Sergeant, den alle nur als Jonah kannten, kümmerte sich im besonderen Maß um den Spürhund.
Der Spürhund, der in der Tropenuniform eines Colonels der Marines gekommen war – er hatte sich im Grumman umgezogen –, musste in den wüstentarnfarbenen Springeroverall steigen, den die anderen sechs schon trugen. Dann kamen die schweren Sachen, Stück für Stück.
Jonah wuchtete ihm die dreißig Kilo Fallschirm auf den Rücken und schnallte das Geflecht der breiten Leinengurte fest, das alles an Ort und Stelle hielt. Anschließend zog er die Gurte so stramm, dass der Spürhund glaubte, er wolle ihn zerquetschen. Zwei der Gurte führten rechts und links durch den Schritt.
»Halten Sie Ihre Eier da raus«, riet Jonah leise. »Ein Springer, der den Familienschmuck unter diese Gurte geklemmt hat, findet das Leben nicht mehr sehr komisch, wenn der Schirm aufgeht.«
»Ich werde darauf achten«, sagte der Spürhund und tastete seine Lendengegend ab, um sicher zu sein, dass die Gurte nirgends drückten.
Als Nächstes kam der Bergen-Rucksack vor die Brust. Er wog vierzig Kilo, sodass der Spürhund vorgebeugt dastand. Auch diese Gurte wurden so stramm gezogen, dass es ihm die Brust einschnürte. Aber aus seinem Fallschirmtraining bei den Marines wusste er, dass das seinen Sinn hatte.
Mit dem Rucksack vor sich würde der Springer mit der Brust voran fallen. Wenn der Schirm schließlich aufginge, würde er hinter und über ihm hinaufschießen. Ein Springer, der rücklings fiel, konnte direkt in den aufgehenden Schirm hineinfallen, der ihn einhüllen würde wie ein Leichentuch, wenn er unten auf dem Boden starb.
Das Gewicht des Rucksacks setzte sich hauptsächlich aus Proviant, Wasser und Munition zusammen; die Munition wiederum bestand aus Magazinen für das Gewehr und aus Granaten. Außerdem waren noch seine Pistole und die Nachtsichtbrille dabei. Die Brille beim Sprung zu tragen, kam nicht infrage. Der Wind würde sie wegreißen.
Jonah befestigte die Sauerstoffflasche und die Schläuche, die das lebenspendende Gas zu der Maske vor dem Gesicht leiteten.
Schließlich bekam er seinen Helm mit dem dicht abschließenden Visier, das seine Augen davor schützte, vom Luftstrom herausgerissen zu werden, der mit hundertfünfzig Meilen pro Stunde an ihm vorbeirauschen würde. Schließlich nahmen sie die Rucksäcke bis zum Sprung wieder ab.
Die sieben Männer sahen aus, als hätte eine Special-Effects-Abteilung sie in Außerirdische verwandelt. Sie gingen nicht, sie watschelten, langsam und vorsichtig. David, der Captain, nickte einmal, woraufhin sie das Vorfeld zum Heck der Hercules überquerten, das sie mit offener Luke und herabgelassener Rampe erwartete.
Der Captain hatte die Reihenfolge des Absprungs festgelegt. Der Erste würde Barry, der Riese sein, einfach weil er die meiste Erfahrung besaß. Dann käme der Spürhund und dicht hinter ihm der Captain. Der Letzte der vier Übrigen würde der zweite Sergeant sein, Curly, ebenfalls ein Veteran, der hinter sich keinen Aufpasser nötig hatte.
Einer nach dem anderen stolperten die sieben Springer, unterstützt von den drei Assistenten, die Rampe hinauf und in den Rumpf der C-130.
Zwanzig vor Mitternacht.
Sie saßen nebeneinander auf den roten Segeltuchsitzen entlang der Seitenwand, und die Assistenten setzten die verschiedenen Kontrollen fort. Jonah kümmerte sich persönlich um den Captain und den Spürhund.
Jetzt war es viel dunkler in der Maschine. Nur noch das reflektierte Licht der Bogenlampen über dem Portal des Hangars schien herein, und der Spürhund wusste, wenn die Rampe hochgezogen würde, säßen sie im Stockfinstern. Er sah die Kisten mit der restlichen Ausrüstung der Einheit, festgezurrt für den Rückflug nach England, und die beiden schattenhaften Gestalten an der Wand zwischen Laderaum und Cockpit, die beiden Fallschirmpacker, die die Einheit überallhin begleiteten und ihre Schirme einpackten. Der Spürhund hoffte, dass der Mann, der den Schirm verpackt hatte, den er jetzt auf dem Rücken trug, genau wusste, was er tat. Unter Fallschirmjägern gibt es eine alte Redensart: Streite nie mit deinem Packer.
Jonah langte über ihn hinweg, klappte den Fallschirmrucksack auf und vergewisserte sich, dass die beiden von roter Baumwolle umhüllten Drähte einwandfrei waren. Plomben intakt. Der altgediente RAF-Sergeant hängte die Atemmaske an die Sauerstoffversorgung des Flugzeugs und nickte. Der Spürhund prüfte den luftdichten Sitz seiner eigenen Maske und atmete ein.
Fast reiner Sauerstoff durchflutete ihn. Sie würden ihn atmen, bis sie ihre Zielhöhe erreicht hätten, um die letzten Stickstoffreste aus ihrem Blut zu spülen. Dadurch wurde die Dekompressionskrankheit verhindert, das Blasenwerfen des Stickstoffs im Blut, wenn sie durch die Druckzonen zurück zur Erde rasten. Jonah stellte den Sauerstoff ab und ging weiter zum Captain, um dort das Gleiche zu tun.
Von draußen kam das hohe Sirren, als die Startermotoren die vier Allison-Triebwerke drehten, bis sie hustend zum Leben erwachten. Jonah kam noch einmal zurück und schloss die Gurtschnalle über den Knien des Spürhunds. Als Letztes verband er die Atemmaske wieder mit der Sauerstoffversorgung der Hercules.
Der Motorenlärm schwoll zu einem Tosen an, die Heckrampe hob sich, verdunkelte den letzten Lichtschimmer der Basis Dschibuti und schloss sich mit metallischem Dröhnen luftdicht. Im Bauch der Maschine war es jetzt stockdunkel. Jonah knickte Cyalume-Leuchtstäbe, damit er und seine beiden Kollegen zu ihren Sitzen fanden, mit dem Rücken zur Wand, als die Hercules zu rollen anfing.
Die Männer lehnten sich an ihre Fallschirme, hielten ihre Vierzig-Kilo-Rucksäcke auf dem Schoß und schienen zu schlafen, während um sie herum ein Albtraum von dröhnendem Lärm losbrach, durchzogen vom Surren der Hydraulik, als die Cockpitbesatzung die Klappen testete, und vom Kreischen der Treibstoffeinspritzung.
Sie sahen es nicht, aber sie fühlten es, als das viermotorige Arbeitspferd auf die Startbahn einbog, stoppte, sich duckte und dann vorwärtsschoss. Ihre Massigkeit täuschte; die Hercules beschleunigte schnell, hob die Nase und verließ die Startbahn nach fünfhundert Metern. Dann stieg sie steil in die Höhe.
Selbst vollkommen schnörkellose Maschinen sind mit dem Inneren einer C-130 nicht zu vergleichen. Es gibt keine Schalldämmung, keine Heizung, keinen Druckausgleich und keinen Kabinenservice. Der Spürhund wusste, dass es nicht ruhiger werden würde, sondern auch noch bitterkalt, wenn die Luft dünner wurde. Hundertprozentig dicht ist es hinten auch nicht. Trotz der Sauerstoffmaske vor seinem Gesicht konnte er den Gestank von Treibstoff und Öl riechen.
Der Captain neben ihm nahm den Helm ab und setzte sich einen Kopfhörer auf. Ein Zweiter hing an derselben Buchse, und er machte den Spürhund darauf aufmerksam.
Jonah, der an der vorderen Wand lehnte, trug bereits einen Kopfhörer. Er musste die Cockpitgespräche hören, damit er rechtzeitig mit den Vorbereitungen für »P-Hour«, den Augenblick des Absprungs, anfangen konnte. Auch der Spürhund und der Captain hörten jetzt die Kommentare aus dem Cockpit, die Stimme des britischen Staffelführers, eines Veteranen des 47. Geschwaders, der mit diesem »Vogel« schon auf einigen der holprigsten und gefährlichsten Pisten gelandet war.
»Zehntausend und steigen weiter«, sagte er. »P-Hour minus einhundert.« Also noch eine Stunde und vierzig Minuten bis zum Sprung. Kurze Zeit später hörten sie: »Erreichen fünfundzwanzigtausend.« Noch achtzig Minuten.
Die Kopfhörer dämpften den Motorenlärm, aber die Temperatur war auf fast null Grad gesunken. Jonah schnallte sich los und kam heran. Er hielt sich an einer Stange fest, die an der Wand entlangführte. Ein Gespräch war unmöglich; sie waren auf Handzeichen angewiesen.
Vor jedem der sieben Gesichter führte er die gleiche Pantomime auf. Die rechte Hand erhoben, Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis geformt. Wie beim Gerätetauchen. »Alles okay?« Die Pathfinder antworteten mit der gleichen Geste. Dann die Faust erhoben, darauf geblasen, um sie zu öffnen, und fünf Finger erhoben. Windgeschwindigkeit am Landungsort geschätzte fünf Knoten. Schließlich fünf gespreizte Finger viermal hochgestreckt: zwanzig Minuten bis P-Hour.
Bevor er seine Odyssee beendet hatte, packte David ihn beim Arm und drückte ihm ein flaches Päckchen in die Hand. Jonah nickte und grinste. Er nahm das Päckchen und verschwand im Cockpit. Als er zurückkam und seinen Platz einnahm, grinste er im Dunkeln immer noch.
Zehn Minuten später machte er erneut seine Runde. Diesmal hielt er vor jedem der sieben Männer zehn Finger hoch. Sieben Köpfe nickten. Alle standen auf, stellten die Rucksäcke auf den Sitz, hoben sie an die Brust und schnallten sie fest.
Jonah kam nach vorn und half dem Spürhund. Er zog die Gurte fest, bis der Amerikaner dachte, seine Rippen würden zerquetscht. Aber die Fallgeschwindigkeit würde bis zu hundertfünfzig Meilen pro Stunde betragen, und da durfte nichts verrutschen. Schließlich schaltete er von der bordinternen Sauerstoffversorgung auf die individuellen Flaschen um.
In diesem Augenblick hörte der Spürhund ein neues Geräusch. Über dem Motorendonner dröhnte Musik aus dem Lautsprechersystem, und zwar fortissimo. Sie kam von einer CD. Durch den Bauch der C-130 hallten die gellenden Fanfaren von Wagners Ritt der Walküren. Der Beginn der persönlichen Musik des Captains war das Signal: noch drei Minuten bis P-Hour.
Die sieben Männer standen an der Steuerbordseite der Maschine, als das dumpfe metallische Dröhnen anzeigte, dass die Rampe heruntergelassen wurde. Jonah und seine beiden Kollegen hatten sich in die Halteseile eingeklinkt, damit sie nicht hinausrutschen konnten.
Die herabsinkende Rampe öffnete ein scheunentorgroßes Loch vor dem Himmel, und ein eiskalter Windstoß fuhr herein. Es stank nach Treibstoff und verbranntem Öl.
Der Spürhund, der als Zweiter hinter Barry, dem Riesen, stand, spähte an ihm vorbei ins Leere. Da war nichts – nur wirbelnde Dunkelheit, eisige Kälte, dröhnender Lärm, und im Rumpf donnerten die wütenden Bässe der Walküren auf ihrem rasenden Ritt nach Walhalla.
Ein letzter Check wurde durchgeführt. Der Spürhund sah, wie Jonah den Mund öffnete, aber er hörte nichts. Am Ende der Reihe kontrollierte Curly noch einmal die Ausrüstung von Tim vor ihm, um sicherzugehen, dass sich an Fallschirm und Sauerstoffversorgung seines Kameraden nichts verheddert hatte. Dann schrie er: »Sieben okay!«
Jonah musste es gehört haben, denn er nickte Tim zu, und der tat das Gleiche bei seinem Vordermann Pete, dem Sanitäter. Die gegenseitigen Kontrollen gingen durch die Reihe. Sein Hintermann klopfte dem Spürhund auf die Schulter, und er tat das Gleiche bei Barry vor ihm.
Jonah stand vor dem Riesen und sah ihn an. Als der Spürhund mit der Kontrolle fertig war, nickte Jonah und trat beiseite. Es gab nichts mehr zu tun. Nach all dem Schieben und Stoßen und Grunzen konnten die sieben Springer sich nur noch fünf Meilen über der somalischen Wüste ins Leere fallen lassen.
Barry machte einen Schritt vorwärts, beugte sich vor und war verschwunden. Sie standen so dicht hintereinander, weil es katastrophale Folgen haben konnte, wenn sie in der Luft weit voneinander getrennt wurden. Ein Drei-Sekunden-Abstand, und zwei Springer würden so weit voneinander entfernt sein, dass sie sich nie wiederfanden. Weisungsgemäß sprang der Spürhund eine Sekunde nach Barry.
Sofort war alles anders. Nach einer halben Sekunde war der Lärm verschwunden – das Dröhnen der vier Allisons der C-130, die Wagner-Musik, alles vorbei. Die Stille der Nacht umgab ihn, unterlegt nur vom sanft anschwellenden Rauschen des Windes, als sein fallender Körper über hundert Meilen pro Stunde hinaus beschleunigte.
Er spürte, wie der Sog der abziehenden Hercules ihn umdrehen wollte, ihm die Füße über den Kopf zog und ihn auf den Rücken drehte, und er wehrte sich dagegen. Der Mond schien nicht, aber die Sterne der Wüste, hart und hell, kalt und beständig, unbeeinträchtigt durch irgendeine Art von Verschmutzung über eine Distanz von zweitausend Meilen, erleuchteten den Himmel mit mattem Licht.
Er schaute hinunter und sah eine dunkle Gestalt tief unter sich. Er wusste, dass David, der Captain, dicht hinter ihm sein würde, während die andern vier eine Kette in den Himmel hinauf bildeten.
David erschien neben ihm, die Arme an den Körper gelegt. Die Pfeilposition sollte seine Geschwindigkeit erhöhen und näher an Barry heranbringen. Der Spürhund machte es ihm nach. Langsam kam die große schwarze Gestalt unter ihnen näher. Barry fiel in Seesternposition, die Fäuste geballt, Arme und Beine halb gespreizt, um die Fallgeschwindigkeit auf hundertzwanzig Meilen zu bremsen. Als sie auf einer Höhe mit ihm waren, nahmen der Spürhund und der Captain die gleiche Haltung ein.
Sie fielen in einer ungefähren Staffelformation, und die anderen vier kamen nacheinander dazu. Er sah, dass der Captain auf den Höhenmesser an seinem Handgelenk schaute, der auf den Umgebungsluftdruck über der Wüste eingestellt war.
Er konnte es nicht sehen, aber der Höhenmesser zeigte an, dass sie unter fünfzehntausend Fuß waren. Bei fünftausend würden sie die Reißleinen ziehen. Als erster Springer hatte Barry die Aufgabe vorauszugleiten und seine Erfahrung und das matte Licht der Sterne zu nutzen, um eine möglichst ebene, steinfreie Landezone auszusuchen. Der Spürhund achtete nur darauf, beim Captain zu bleiben und alles zu tun, was dieser tat.
Auch aus einer Höhe von fünfundzwanzigtausend Fuß dauerte der freie Fall nur neunzig Sekunden. Barry war jetzt ein kleines Stück weit unter ihnen und suchte den Boden ab, der ihnen entgegenrauschte. Die Übrigen hatten eine leicht zueinander versetzte Formation eingenommen und verloren einander nie aus den Augen.
Der Spürhund schob eine Hand in die Tasche seines Fallschirmpacks, um sich zu vergewissern, dass er den Öffnungsmechanismus erreichen konnte. Pathfinder benutzen keinen D-Ring zum Öffnen des Fallschirms. Sie können sich für einen anaeroiden Druckauslösungsmechanismus entscheiden, aber alles Mechanische kann und wird Fehlfunktionen ausgesetzt sein. Wenn man mit hundertzwanzig Meilen pro Stunde auf die Erde zurast, ist das keine gute Gelegenheit, um herauszufinden, dass ein Apparatismus nicht funktioniert. David und die andern bevorzugten die manuelle Öffnung.
Das war es, wonach der Spürhund jetzt tastete – ein fallschirmförmiges Stück Stoff an einer Schnur in einer leicht zugänglichen Tasche oben auf dem Fallschirmrucksack. Zieht man es in den Luftstrom hinaus, reißt es den kompletten BT80 aus seiner Verpackung, sodass er sich aufspreizt.
Er sah, wie Barry unter ihm die Fünftausend-Fuß-Marke erreichte und sein Schirm aufblühte. Aus dem Augenwinkel sah er, dass David den kleinen Bremsfallschirm in die Luft schießen ließ und im nächsten Augenblick über ihm verschwand.
Der Spürhund tat das Gleiche, und sofort spürte er den Ruck, mit dem der große Fallschirm ihn zurück nach oben riss – so fühlte es sich jedenfalls an, aber in Wirklichkeit bremste er nur seinen Fall. Es war, als führe er mit einem schnellen Auto gegen die Wand, und der Airbag bläht sich auf. Doch das Gefühl dauerte nur drei Sekunden. Dann schwebte er.
Der BT80 hat keine Ähnlichkeit mit den kuppelförmigen Schirmen, die Fallschirmjäger im Manöver benutzen. Er ist ein riesiges Rechteck aus Seide, matratzenförmig, ein Fluggerät, das den Springer beim Sprung aus großer Höhe meilenweit hinter die feindlichen Linien tragen konnte, unbemerkt von Radar und menschlichen Augen.
Die Pathfinder schätzen ihn deshalb und noch aus einem anderen Grund. Er öffnet sich lautlos, nicht mit dem Peitschenknall anderer Schirme, der einen Posten am Boden aufmerksam machen kann.
Bei achthundert Fuß löste der Captain seinen Rucksackgurt. Der Bergen fiel an seiner Leine nach unten und baumelte dreieinhalb Meter tief unter ihm. Der Spürhund tat das Gleiche, und auch der Rest der Einheit dicht über ihnen.
Der U. S. Marine sah im Sternenlicht deutlich, wie der Boden ihm entgegenkam, er hörte, wie der Bergen-Rucksack mit dumpfem Schlag im Sand landete, und vollführte das letzte Bremsmanöver. Er hob die Hände, packte die beiden Steuergriffe und zog sie herunter. Sein Schirm breitete sich aus und wurde langsamer, sodass er im Laufschritt Bodenberührung bekam. Der Schirm verlor seine Form, faltete sich ein und wehte in einem wirren Haufen aus Seide und Schnüren zu Boden. Der Spürhund öffnete den Verschluss des Brust- und Beingeschirrs, und der komplette Fallschirmpack fiel von ihm ab. Es hatte seinen Zweck erfüllt. Ringsherum taten sechs Pathfinder das Gleiche.
Er sah auf die Uhr. Vier Minuten nach zwei. Gutes Timing. Aber sie brauchten Zeit, um zusammenzupacken und in Marschformation zu gehen.
Die sieben Fallschirme, die nicht mehr benötigten Helme und die Sauerstoffflaschen mussten eingesammelt werden. Die Pathfinder legten alles auf einen Haufen und bedeckten es mit Steinen.
Sie nahmen ihre Pistolen und Nachtsichtgeräte aus den Rucksäcken. Die Sterne leuchteten so hell, dass sie die Geräte auf dem Marsch nicht brauchen würden, aber sie würden ihnen einen unerreichbaren Vorteil verschaffen, wenn sie das Dorf angriffen, und die pechschwarze Finsternis mit grünem, wässrigem Licht erfüllen.
Dai, der walisische Technikzauberer, hantierte mit seiner Ausrüstung. Dank der modernen Technologie war ihre Aufgabe einfacher, als sie es vor den Zeiten der Drohne gewesen wäre.
Irgendwo über ihnen kreiste eine Global Hawk RQ-4, dirigiert von J-SOC auf dem Luftwaffenstützpunkt MacDill in Tampa. Sie schaute zu ihnen herunter und sah sie und auch das Dorf. Sie konnte jedes Lebewesen an seiner Körperwärme erkennen, die es als hellen Fleck in der Landschaft leuchten ließ.
Das J-SOC-Hauptquartier sendete alles, was Tampa sah, in Bild und Ton an die Kommunikationszentrale in Dschibuti. Dai richtete jetzt seine direkte Funkverbindung mit Dschibuti ein und testete sie, und dann konnte er genau sehen, wo er war, wo das Dorf war, er sah die Marschroute dazwischen und konnte erkennen, ob im Zielgebiet irgendwelche Aktivitäten im Gange waren.
Nach einem leise geführten Gespräch mit Dschibuti erstattete Dai den anderen Bericht. Beide Leitstellen konnten sie als sieben fahle Kleckse in der Wüste sehen. Im Dorf rührte sich nichts. Anscheinend schlief dort alles fest. Außerhalb der Häuser war kein Mensch zu sehen, und drinnen waren sie nicht zu entdecken. Der gesamte Reichtum des Dorfes, eine Ziegenherde, vier Esel und zwei Kamele, waren in einem Pferch oder draußen angepflockt und deutlich zu erkennen.
Ein paar kleinere Punkte bewegten sich – die Straßenköter. Die Entfernung betrug vier Komma acht Kilometer, und die optimale Marschroute gab der Kompass mit genau null-zwei-null an.
Der Captain hatte seinen eigenen Silva-Kompass und ein Sophie-Wärmebildsystem. Sie erstarrten, als auf dem Höhenkamm am Rand der sandigen Mulde, die Barry als Landeplatz ausgesucht hatte, ein kleiner Klecks erschien.
Zu klein für einen Menschen, aber groß genug für den Kopf eines Beobachters. Doch dann verschwand er mit leisem Jaulen. Ein Wüstenschakal.
Um zwei Uhr zweiundzwanzig machten sie sich im Gänsemarsch auf den Weg nach Norden.