DREIZEHN
Der Prediger saß im Arbeitszimmer seines Hauses in Marka und dachte über seinen Gegner nach. Er war nicht dumm; er wusste, dass er da draußen einen hatte. Die gefälschte Predigt auf seiner Website, die sein Ansehen so gut wie vernichtet hatte, war der Beweis dafür.
Zehn Jahre lang hatte er sich absichtlich zum schemenhaftesten aller al-Qaida-Terroristen gemacht. Er war in den Bergen von Nord- und Südwasiristan von einem sicheren Versteck ins andere gezogen. Er hatte seinen Namen und sein Aussehen geändert, und er hatte keine Kamera in seine Nähe gelassen.
Anders als mindestens ein Dutzend andere, die jetzt alle tot waren, hatte er nie ein Mobiltelefon benutzt, denn er kannte das ganze Ausmaß der amerikanischen Fähigkeit, noch das leiseste Wispern aus dem Äther zu fischen, es in die kleinste Hütte zurückzuverfolgen und Gebäude und Insassen zu Asche zu verbrennen.
Mit einer einzigen Ausnahme, die er jetzt bitter bereute, hatte er nie eine E-Mail aus dem Haus verschickt, in dem er wohnte. Seine Hasspredigten waren immer meilenweit von seinem Wohnort entfernt versandt worden.
Und doch war jemand zu ihm durchgedrungen. Der Schauspieler in dem gefälschten Video hatte zu viel Ähnlichkeit mit ihm. Der Mann, der aussah und sprach wie er, hatte seinen wahren Namen und das Pseudonym, das er als Henker bei den Chorasan benutzt hatte, in die Welt hinausposaunt.
Er wusste nicht, wer ihn verraten hatte, er wusste nicht, wie und warum, aber er musste davon ausgehen, dass sein Verfolger die echte IP-Adresse seines Computers in Kismaju aufgespürt hatte. Er wusste nicht, wie das hatte passieren können, denn der Troll hatte ihm versichert, es sei unmöglich. Aber der Troll war tot.
Der Prediger wusste, was Drohnen waren. Er hatte alles über sie gelesen, was im Westen gedruckt worden war, und wusste, wozu sie fähig waren. Trotzdem gab es sicher noch Details, die selbst in technischen Publikationen nie enthüllt worden waren. Er musste annehmen, man habe ihn aufgespürt und dass hoch über seinem Kopf, unsichtbar und unhörbar, eine Maschine kreiste, die diese Stadt und sogar sein Haus beobachtete.
All das hatte ihn zu der Auffassung gebracht, er müsse sämtliche Kontakte zu seinem jetzigen Leben abbrechen und wieder verschwinden. Doch dann kam Dschamma aus Kismaju mit einer Nachricht für den Prediger von seinem Freund Mustafa in London, die alles änderte. Darin ging es um fünfzig Millionen Dollar. Er ließ seinen ehemaligen Sekretär, den Nachfolger des Trolls, zu sich kommen.
»Dschamma, mein Bruder, du bist müde. Es war eine lange Fahrt. Ruh dich aus, schlafe, iss gut. Du fährst nicht zurück nach Kismaju. Wir geben es auf. Aber du musst eine andere Reise machen. Morgen, vielleicht übermorgen.«
Gray Fox war verwirrt. Man hörte es an seiner Stimme, die über die abhörsichere Verbindung aus dem TOSA-Hauptquartier zum Einsatzraum des Spürhunds in der amerikanischen Botschaft am Grosvenor Square gelangte.
»Spürhund, sind Sie auf dem Laufenden bei der Korrespondenz zwischen dem Helfer in London und seinem Freund in Marka?«
»Absolut. Warum?«
»Na, was er da an den Prediger geschrieben hat. Er habe es auf einer Party in Belgravia von einem halbgescheiten Anwalt aufgeschnappt.«
Der Spürhund überlegte, was er antworten solle. Zwischen einer Lüge und dem, was ein ehemaliger britischer Kabinettssekretär einmal als »ökonomischen Umgang mit der Wahrheit« bezeichnet hat, gibt es einen subtilen Unterschied.
»Das behauptet Dardari anscheinend.«
»Und was glauben die Briten?«
»Die Briten«, antwortete der Spürhund wahrheitsgemäß, »die Briten glauben, der Mistkerl sitzt in seinem Townhouse in London und versorgt seinen Freund im Süden mit Klatsch und Tratsch. Ach, übrigens – wird mein Antrag immer noch von oben abgelehnt?«
Er wollte das Thema wechseln und nicht länger darüber reden, dass Mustafa Dardari E-Mails aus London verschickte, während er von drei ehemaligen Kommandosoldaten bewacht in Caithness in den Regen hinausstarrte.
»Absolut, Spürhund. Wegen des Agenten Opal keine Raketen und kein Landungsunternehmen von See her. Und keine Hubschraubereinsätze von unserer Basis in Mogadischu aus. Da braucht einer nur eine Rakete von der Schulter in einen schwebenden Hubschrauber voller Delta-Boys zu jagen, und schon haben wir eine neue somalische Katastrophe. Sie müssen eine andere Möglichkeit finden.
»Jawohl, Boss«, sagte der Spürhund und legte auf.
Der Prediger hatte recht mit seiner Annahme, der Computer in Kismaju sei unbrauchbar für geheime Sendungen. Aber er wusste nicht, dass sein Verbündeter in London, sein Kindheitsfreund und heimlicher Unterstützer, ebenfalls enttarnt worden war und man seine verschlüsselten Mitteilungen, die in den Obst- und Gemüsepreisen versteckt waren, dechiffriert hatte. Daher beging er einen neuen Verstoß gegen die Sicherheitsvorschriften und mailte aus Marka eine Bitte an Dardari. Sie wurde abgefangen und entschlüsselt.
»Colonel Jackson?«
»Ja, Ariel?«
»Da läuft etwas Schräges zwischen Marka und London.«
»Das weißt du doch, Ariel. Du schreibst in Dardaris Namen.«
»Ja, aber Marka hat eben geantwortet. Er bittet seinen Freund, ihm eine Million Dollar zu leihen.«
Das hätte er voraussehen sollen. Der Etat würde es sicher aushalten. Es war ein Bruchteil dessen, was eine einzige Rakete kostete. Doch warum Steuergelder verschwenden?
»Sagt er, wie ihm das Geld überwiesen werden soll?«
»Da gibt es etwas, das heißt Dahabshiil.«
Der Spürhund saß allein in seinem Londoner Büro und nickte. Er wusste davon. Raffiniert, sicher und fast nicht nachzuverfolgen. Geschaffen nach der jahrhundertealten Gestalt des Hundi Man.
Terrorismus kostet Geld, eine Menge Geld. Hinter den Bomben werfenden Handlangern, die oft kaum mehr als Kinder sind, steht die Führungsebene, überwiegend erwachsene Männer, die nicht die Absicht haben zu sterben. Irgendwo dahinter stehen die Rädelsführer und dahinter die Finanziers, die oft ein scheinbar achtbares Leben führen.
Für die Anti-Terror-Behörden haben sich die Finanzquellen des Terrorismus als fruchtbares Feld erwiesen, auf dem sich die Papierspur des Geldes vom operativen Konto bis zum Ursprung zurückverfolgen lässt. Denn jede Geldbewegung hinterlässt eine Spur aus Papier. Der Hundi Man dagegen nicht. Im Nahen Osten und am Horn von Afrika ist dieses System jahrhundertealt.
Es wurde gegründet, weil es damals zu gefährlich war, ohne eine kleine Armee Reichtümer durch Gegenden zu bewegen, in denen es von Banditen wimmelte. Also nimmt der Hundi Man das Geld in Land A in Empfang und autorisiert seinen Cousin in Land B, den gleichen Betrag abzüglich einer Kommission an den Empfänger auszuzahlen. Nicht eine Münze überschreitet eine Grenze, nur ein verschlüsselter Anruf oder eine E-Mail.
Dahabshiil wurde 1970 in Burco, Somalia, gegründet und hat seine Zentrale heute in Dubai. Der somalische Name bedeutet »Goldschmelze«, und das Unternehmen dient hauptsächlich dazu, das Geld, das Hunderttausende somalische Gastarbeiter im Ausland an ihre Familien in der Heimat schicken, auszuzahlen. Eine große Zahl von Somalis arbeitet in Großbritannien, und das erklärt die blühende Niederlassung in London.
»Kannst du in Dardaris Finanzverwaltung hinein?«, fragte der Spürhund.
»Warum nicht, Colonel. Geben Sie mir einen Tag Zeit.«
Ariel wandte sich seinem leuchtenden Monitor zu, dem siebenten Himmel. Er vertiefte sich in die Investitionen des pakistanischen Unternehmers und fand heraus, wie er die Mittel dazu beschaffte, was ihn zu seinen Offshore-Konten führte, deren wichtigstes auf Grand Cayman geführt und von komplexen und hoch entwickelten Firewalls geschützt wurde. Der Teenager mit dem Asperger-Syndrom auf dem Dachboden in Virginia überwand sie innerhalb von zehn Stunden, überwies eine Million Dollar auf Dardaris persönliches Konto in London und verschwand wieder, ohne eine Spur zu hinterlassen außer der Bestätigung, dass Dardari die Transaktion selbst veranlasst hatte.
Die Überweisung von der Londoner Bank an die Londoner Dahabshiil-Niederlassung war reine Formsache, ebenso die Angaben zum Empfänger, die der Prediger in der von Ariel abgefangenen und entschlüsselten E-Mail aufgeführt hatte. Die somalische Finanzmaklerfirma gab zu bedenken, dass es bis zu drei Tage dauern könne, in Somalia eine solche Summe zusammenzubringen. Und, jawohl, sie hatten eine Filiale in Marka.
Fort Meade und Cheltenham verfolgten die Kommunikation des Londoner Computers, aber sie hatten keine anderen Informationen als die, dass Dardari dort Sender und Empfänger war. Und ihr Auftrag war die Überwachung. Von Eingreifen war nicht die Rede.
»Dschamma, ich habe eine äußerst delikate Aufgabe für dich. Sie kann nur von einem Somali übernommen werden, denn dabei geht es um Leute, die keine andere Sprache sprechen.«
So hoch entwickelt die westliche Technologie auch sein mag, sie kann den persönlichen Gesandten nur selten abfangen. Zehn Jahre lang kommunizierte Osama bin Laden, der keineswegs in einer Höhle, sondern in einer Reihe von Safe Houses wohnte, weltweit mit seinen Unterstützern, ohne ein einziges Mal ein Funktelefon zu benutzen oder belauscht zu werden. Er benutzte persönliche Boten. Der letzte von denen, al-Kuwaiti, wurde enttarnt und durch die ganze Welt verfolgt, und er führte die Jäger schließlich zu einem Anwesen in der Stadt Abbottabad.
Der Prediger ließ Dschamma vor sich stehen und rezitierte die Nachricht auf Arabisch. Dschamma übersetzte sie im Kopf in Somali und wiederholte sie, bis er sie wortwörtlich auswendig kannte. Begleitet von einem pakistanischen Bodyguard, fuhr er ab.
Er nahm den Pick-up, der ihn zwei Tage zuvor mit der Nachricht aus London aus Kismaju heraufgebracht hatte. Aus großer Höhe beobachteten fremde Augen, wie Plastikkanister voll Benzin auf die Ladefläche gestellt wurden.
In dem Bunker bei Tampa beobachteten sie, wie eine Plane über die Kanister gezogen wurde, doch das war eine normale Vorsichtsmaßnahme. Sie sahen, wie zwei Männer in den Wagen stiegen, aber weder die vermummte Gestalt des Predigers noch der schlanke junge Mann mit der roten Baseballkappe war dabei. Der Pick-up fuhr nach Süden und in Richtung Kismaju. Als er das Gesichtsfeld der Global Hawk verließ, wurde die Drohne angewiesen, die Überwachung des ummauerten Geländes wiederaufzunehmen. Dann machte der Pick-up halt, und die beiden Männer stiegen aus. Sie nahmen die Plane ab und strichen das Dach der Kabine schwarz an. So getarnt, wendeten sie, fuhren im Westen um Marka herum und weiter nach Norden. Als die Sonne unterging, passierten sie den Westrand der Mogadischu-Enklave und fuhren weiter nach Puntland mit seinen zahllosen Piratennestern.
Über Pisten, die zerfurcht und von Schlaglöchern übersät waren, und über scharfkantige Steine quer durch die Wüste, mit Tankstopps und Reifenwechseln, dauerte die Fahrt nach Garacad zwei Tage.
»Mr. Gareth, ich bin’s.«
Ali Abdi rief aus Garacad an, und er klang aufgeregt. Gareth Evans war müde und angespannt. Die endlos mahlende Knochenmühle der Verhandlungen mit Leuten, die nicht den leisesten Begriff von Eile oder auch nur dem Vergehen der Zeit besaßen, war für einen Europäer immer ermüdend. Darum waren erstklassige Geiselunterhändler rar und gut bezahlt.
Auch Harry Andersson setzte ihn unaufhörlich unter Druck. Er rief mindestens einmal am Tag an und wollte wissen, ob es etwas Neues über seinen Sohn gebe. Evans hatte versucht, ihm klarzumachen, die bloße Andeutung von Eile oder gar Verzweiflung aus London werde alles noch zehnmal schlimmer machen, als es schon war. Der schwedische Multimillionär war Geschäftsmann, und das half ihm, diese Argumentation zu verstehen. Aber er war eben auch ein Vater, und deshalb hörten seine Anrufe nicht auf.
»Guten Morgen, mein Freund«, sagte Evans jetzt ruhig. »Was sagt Ihr Auftraggeber an diesem schönen sonnigen Tag?«
»Ich glaube, wir nähern uns einem Abschluss, Mr. Gareth. Wir könnten uns jetzt auf sieben Millionen Dollar einigen.« Dann fügte er hinzu: »Ich tue mein Bestes.«
Selbst wenn ein englischkundiger Somali in al-Afrits Diensten diese Bemerkung mithören sollte, würde sie keinen Anstoß erregen. Evans begriff, dass der Unterhändler in Garacad ihm sagen wollte, er bemühe sich, seine zweite Million Schmiergeld zu verdienen. Doch das Wort »Eile« hat nördlich und südlich des Mittelmeers zwei verschiedene Bedeutungen.
»Das ist sehr gut, Mr. Abdi, aber noch nicht gut genug«, sagte Evans. Al-Afrits vorige Mindestforderung, zwei Tage zuvor, hatte zehn Millionen betragen. Evans hatte drei geboten. Er wusste, Harry Andersson hätte bei zehn Millionen zugegriffen, ohne mit der Wimper zu zucken. Er wusste allerdings auch, dass in Somalia ein ganzer Wald von roten Flaggen in die Höhe geschossen wäre, denn dort wusste man, dass vier bis fünf Millionen angemessen wären.
Ein plötzliches Einknicken der Europäer hätte auf Panik schließen lassen und den Preis wahrscheinlich wieder auf fünfzehn hochgetrieben.
»Hören Sie, Mr. Abdi, ich habe fast die ganze Nacht mit Stockholm telefoniert, und meine Auftraggeber haben sich mit größtem Widerwillen bereit erklärt, innerhalb von einer Stunde vier Millionen Dollar auf das internationale Konto Ihres Auftraggebers zu überweisen, wenn die Malmö eine Stunde später den Anker lichtet. Das ist ein sehr gutes Angebot, Mr. Abdi. Ich glaube, das wissen wir beide, und Ihr Auftraggeber sieht es sicher auch so.«
»Ich werde ihm das neue Angebot sofort vorlegen, Mr. Gareth.«
Als das Gespräch beendet war, dachte Gareth Evans an die Geschichte der erfolgreichen Deals mit somalischen Piraten. Uneingeweihte staunten immer darüber, dass Geld auf ein Konto überwiesen wurde, bevor ein Schiff freigelassen worden war. Was sollte die Piraten daran hindern, das Geld zu kassieren und die Beute zu behalten?
Aber das war das Merkwürdige. Bei hundertachtzig schriftlichen und per Fax oder E-Mail zwischen den Unterhändlern ausgetauschten Vereinbarungen, die am Ende alle ordnungsgemäß unterschrieben worden waren, hatten die Somalis nur in drei Fällen ihr Wort gebrochen.
Den Piraten in ganz Puntland war klar, dass sie ihr Geschäft nur des Geldes wegen betrieben. Sie brauchten und wollten weder die Schiffe noch die Ladungen, noch die Gefangenen. Hätten sie immer wieder gegen Absprachen verstoßen, hätten sie damit ihr Gewerbe ruiniert. Sie mochten verschlagen und skrupellos sein, doch Eigennutz war Eigennutz, und er stand über allem.
Normalerweise. Aber dieser Fall war nicht normal. Von den drei genannten Fällen war zweimal al-Afrit im Spiel gewesen. Er war so berüchtigt wie sein ganzer Clan. Er gehörte zu den Sacad, einem Clan des Habar-Gidir-Stammes. Farrah Aidid, der brutale Warlord, der die Hilfslieferungen für die hungernde Bevölkerung gestohlen und damit die Amerikaner ins Land geholt, der den Blackhawk abgeschossen, die US-Ranger abgeschlachtet und ihre Leichen durch die Straßen geschleift hatte – Farrah Aidid war ein Sacad gewesen.
In ihren Geheimgesprächen per Satellitentelefon hatten Ali Abdi und Gareth Evans vereinbart, sich auf fünf Millionen Dollar zu einigen, sofern das alte Monstrum in seiner Lehmfestung einverstanden wäre und nicht auf den Gedanken käme, sein Unterhändler habe sich kaufen lassen. So oder so waren fünf Millionen eine für beide Seiten absolut akzeptable Summe. Harry Anderssons zusätzliches Schmiergeld von zwei Millionen Dollar für Mr. Abdi diente nur dazu, die Wartezeit auf ein Zehntel zu reduzieren, falls das möglich war.
Draußen auf der Malmö unter der sengenden Sonne begann es zu stinken. Die europäische Verpflegung war zu Ende gegangen – entweder verspeist oder verfault, als die Tiefkühlung abgeschaltet wurde, um Treibstoff zu sparen. Die somalischen Wächter brachten lebende Ziegen an Bord und schlachteten sie draußen an Deck.
Kapitän Eklund hätte die Decks abspritzen lassen, nur wurden die elektrischen Wasserpumpen genau wie die Kühlung mit Öl betrieben. Also musste die Crew Wasser mit Eimern aus dem Meer schöpfen und Schrubber benutzen.
Zum Glück wimmelte es ringsherum von Fischen, angelockt von den Ziegenabfällen, die über Bord geworfen wurden. Europäer und Filipinos schätzten den frischen Fisch, aber die Ernährung damit wurde auch bald eintönig.
Sie hatten Waschgelegenheiten mit Salzwasser eingerichtet, als die elektrisch betriebenen Duschen abgeschaltet worden waren. Süßwasser wurde zu flüssigem Gold und war nur noch zum Trinken da, doch die Wasserreinigungstabletten ließen es abscheulich schmecken. Kapitän Eklund war immerhin froh, dass es bis jetzt noch keine ernsthafte Erkrankung gegeben hatte, von gelegentlichen Durchfällen abgesehen.
Aber er war nicht sicher, wie lange es noch so bleiben würde. Die Somalis machten sich oft nicht einmal die Mühe, den Hintern über die Reling zu hängen, wenn sie Stuhlgang hatten. Die wütenden Filipinos mussten den Kot in der drückenden, zermürbenden Hitze mit ihren Schrubbern durch die Speigatten entsorgen.
Kapitän Eklund konnte nicht einmal mehr mit Stockholm telefonieren. Auf Befehl des Mannes, den er »den kleinen Drecksack im Anzug« nannte, war sein Satellitentelefon abgeschaltet worden. Ali Abdi wollte nicht, dass Amateure sich in seine heiklen Verhandlungen mit der Kanzlei Chauncey Reynolds einmischten.
All das ging dem schwedischen Skipper durch den Kopf, als sein ukrainischer Stellvertreter herüberrief, ein Boot sei zum Schiff unterwegs. Durch das Fernglas erkannte er die Dhau mit der adretten kleinen Gestalt im Safarianzug, die im Heck saß. Der Besuch war ihm willkommen. Er würde sich noch einmal erkundigen können, wie es dem Kadetten der Handelsmarine namens Carlsson gehe. Eklund war weit und breit der Einzige, der wusste, wer der Junge in Wirklichkeit war.
Dass der Junge geschlagen worden war, wusste er nicht. Abdi würde ihm sagen, Ove Carlsson sei wohlauf, und man halte ihn in der Festung bloß gefangen, um das gute Benehmen der Mannschaft an Bord sicherzustellen. Kapitän Eklund bat vergebens darum, ihn zurückzubringen.
Während Mr. Abdi an Bord der Malmö war, fuhr ein staubiger Pick-up in den Hof der Festung hinter dem Dorf. Darin saßen ein großer, massiger Pakistani, der weder Englisch noch Somali sprach, und ein zweiter Mann.
Der Pakistani blieb bei dem Truck, und der andere Mann wurde zu al-Afrit geführt, der sah, dass er zum Harti-Darod-Clan gehörte und somit aus Kismaju kam. Der Sacad-Warlord mochte die Harti nicht, aber er mochte überhaupt niemanden aus dem Süden.
Formal war al-Afrit zwar Muslim, ging jedoch praktisch nie in die Moschee und sprach nur selten seine Gebete. In seinen Augen waren die Leute im Süden allesamt al-Schabaab. Wahnsinnige. Sie folterten für Allah, er zum Vergnügen.
Der Besucher stellte sich als Dschamma vor und bezeugte die Ehrerbietungen, die einem Scheich zukommen. Er komme, sagte er dann, als persönlicher Abgesandter eines Scheichs in Marka mit einem Vorschlag, der nur für die Ohren des Warlords von Garacad bestimmt sei.
Al-Afrit hatte noch nie von einem dschihadistischen Prediger namens Abu Azzam gehört. Er hatte einen Computer, mit dem nur die jüngeren unter seinen Leuten wirklich umgehen konnten, doch selbst wenn er dessen Funktionen beherrscht hätte, wäre er im Traum nicht auf die Idee gekommen, eine dschihadistische Website zu besuchen. Dennoch hörte er jetzt mit wachsendem Interesse zu.
Dschamma stand vor ihm und rezitierte die Botschaft, die er auswendig gelernt hatte. Er begann mit den üblichen überschwenglichen Begrüßungsfloskeln und kam dann zum Kern der Nachricht. Als er schwieg, starrte der alte Sacad ihn eine Weile am.
»Er will ihn umbringen? Ihm die Kehle durchschneiden? Vor der Kamera? Und es dann der Welt zeigen?«
»Jawohl, Scheich.«
»Und mir bezahlt er eine Million Dollar? In bar?«
»Jawohl, Scheich.«
Al-Afrit dachte darüber nach. Den weißen Ungläubigen umzubringen, das verstand er. Aber der westlichen Welt zu zeigen, was er getan hatte, das war Wahnsinn. Sie, die Ungläubigen, die kuffar, würden kommen und sich rächen, und sie hatten viele Gewehre. Er, al-Afrit, nahm ihre Schiffe und ihr Geld, doch er war nicht verrückt genug, um eine Blutfehde zwischen sich selbst und der gesamten kuffar-Welt zu entfesseln.
Schließlich entschied er, die Entscheidung aufzuschieben. Er ließ seine Gäste in Zimmer führen, in denen sie sich ausruhen konnten, und bot ihnen Essen und Wasser an. Als Dschamma weggebracht worden war, befahl er, keiner der beiden Männer dürfe die Schlüssel zu ihrem Wagen behalten, und auch keine Waffen, die sie vielleicht bei sich hatten, und kein Telefon. Er selbst trug einen krummen dschambija-Dolch in seiner Schärpe, hatte aber nicht gern andere Waffen in seiner Nähe.
Ali Abdi kam eine Stunde später von der Malmö zurück. Er hatte nicht gesehen, wie der Truck aus dem Norden ankam, und auch die beiden Männer nicht, von denen einer eine so bizarre Nachricht überbracht hatte.
Er kannte die vereinbarten Zeiten für seine Telefonate mit Gareth Evans. Weil London drei Zeitzonen weit westlich des Horns von Afrika lag, war es in Garacad spät am Vormittag, wenn sie stattfanden. Deshalb hatte er am nächsten Tag keinen Grund, sein Zimmer frühzeitig zu verlassen.
Er war nicht dabei, als al-Afrit kurz nach Tagesanbruch einen seiner engsten Vertrauten, einen einäugigen Wilden namens Yusuf, mit ausführlichen Anweisungen ausstattete, und er sah auch den Pick-up mit dem schwarzen Dach nicht, der eine Stunde später zum Hoftor hinausfuhr.
Gerüchtweise hatte Abdi von einem dschihadistischen Fanatiker gehört, der Predigten voller Aufforderungen zu Mordanschlägen und Hass ins World Wide Web hinausschickte, doch dass der Mann in Misskredit geraten war, hatte er nicht gehört, und er wusste auch nichts von dessen Onlinebeteuerungen, das Ganze sei eine Verschwörung der kuffar, und er sei schändlich diffamiert worden. Aber wie al-Afrit – wenn auch aus anderen Gründen – verachtete er Salafisten und Dschihadisten und alle anderen extremistischen Irren, und er praktizierte den Islam gerade so eifrig, wie es unbedingt nötig war.
Er war überrascht und erfreut, seinen Auftraggeber bei halbwegs guter Laune anzutreffen, als er zu ihrer morgendlichen Besprechung erschien. So konnte er es wagen, den Vorschlag zu machen, ihre Forderung von sieben auf sechs Millionen Dollar zu reduzieren und die Verhandlungen damit wohl zum Abschluss zu bringen. Der Clanchef war einverstanden.
Als Abdi mit Gareth Evans sprach, strahlte er große Selbstzufriedenheit aus. Er fühlte sich sehr versucht zu sagen: »Wir sind fast so weit«, aber ihm war klar, dass diese Bemerkung nur bedeuten konnte, sie beide arbeiteten heimlich gemeinsam auf einen längst verabredeten Preis hin. Bei sich dachte er: Noch eine Woche, vielleicht auch nur noch fünf Tage, und das Monster wird die Malmö fahren lassen.
Mit der zweiten Million, die seine Lebensersparnisse ergänzen würde, schimmerte ein komfortabler Ruhestand in einer zivilisierten Umgebung am Horizont.
Allmählich machte der Spürhund sich Sorgen. Um es in der Anglersprache auszudrücken: Er hatte einen Haken mit einem fetten Köder ins Wasser gehängt und wartete jetzt darauf, dass ein Monster anbiss. Doch der Schwimmer verharrte reglos an der Oberfläche. Er dümpelte nicht mal.
Von seinem Büro in der Botschaft hatte er eine Echtzeitverbindung zu dem Bunker bei Tampa, wo ein erfahrener Unteroffizier der Air Force schweigend dasaß, den Steuerknüppel in der Hand hielt und eine Global Hawk hoch über einem Gelände in Marka »flog«. Er sah, was der Master Sergeant sah: drei stille Häuser hinter einer Mauer an einer engen, vollgestopften Gasse, an deren Ende sich ein Obstmarkt befand.
Innerhalb der Mauern war kein Lebenszeichen zu entdecken. Niemand ging, niemand kam. Die Drohne schaute nicht nur zu, sie lauschte auch. Sie würde das leiseste elektronische Wispern hören, das aus der Anlage käme. Wenn dort auch nur ein paar Silben geäußert würden, am Computer oder am Handy, würde sie sie aus dem Äther fischen. Und die National Security Agency in Fort Meade mit ihren Satelliten im All würde das Gleiche tun.
Aber die ganze Hochtechnologie blieb erfolglos. Der Spürhund hatte nicht gesehen, wie der von Dschamma gefahrene Pick-up sein Aussehen durch die schwarze Farbe auf dem Dach veränderte, wendete und nach Norden statt nach Süden fuhr. Er wusste auch nicht, dass der Pick-up jetzt auf dem Rückweg war. Der Spürhund konnte nicht wissen, dass sein Köder geschluckt worden und es jetzt eine Abmachung zwischen einem sadistischen Sacad in Garacad und einem verzweifelten Pakistani in Marka gab. Nach Donald Rumsfelds ungewöhnlicher Philosophie hatte er es mit etwas unbekanntem Unbekanntem zu tun.
Er konnte nur Vermutungen anstellen, und er vermutete, dass er dabei war zu verlieren, überlistet von Barbaren, die raffinierter waren als er. Das abhörsichere Telefon klingelte.
Es war Master Sergeant Orde aus Tampa. »Colonel, Sir, da nähert sich ein Technical dem Ziel.« Der Spürhund schaute wieder auf seinen Monitor. Das beobachtete Gelände lag genau in der Mitte und nahm etwa ein Viertel des Bildschirms in Anspruch. Am Tor stand ein Pick-up mit schwarzem Kabinendach. Er erkannte den Wagen nicht.
Eine Gestalt im weißen Dischdasch kam aus dem seitlichen Haus, überquerte den sandigen Hof und öffnete das Tor. Der Pick-up fuhr hindurch. Das Tor wurde geschlossen. Drei kleine Gestalten stiegen aus und betraten das Haupthaus. Der Prediger bekam Besuch.
Er empfing das Trio in seinem Arbeitszimmer. Der Leibwächter wurde hinausgeschickt. Opal stellte den Abgesandten aus dem Norden vor. Der Sacad Yusuf funkelte ihn mit seinem einen gesunden Auge an. Auch er hatte seinen Auftrag auswendig gelernt. Mit einer Geste gab der Prediger ihm zu verstehen, er solle anfangen. Al-Afrits Bedingungen waren knapp und klar.
Er sei bereit, seinen schwedischen Gefangenen gegen eine Million Dollar abzugeben. Sein Diener Yusuf solle das Geld sehen und zählen und seinem Herrn mitteilen, er habe es gesehen.
Im Übrigen würde al-Afrit das al-Schabaab-Territorium nicht betreten. Der Austausch würde an der Grenze stattfinden. Yusuf kannte die Stelle und würde die Fahrzeuge mit dem Geld und den Wachen hindirigieren. Die Delegation aus dem Norden würde mit dem Gefangenen zum Treffpunkt kommen.
»Und wo ist dieser Treffpunkt?«, fragte der Prediger. Yusuf starrte ihn nur an und schüttelte den Kopf.
Der Prediger hatte Stammesangehörige wie ihn in den pakistanischen Grenzregionen gesehen, bei den Paschtunen. Er könnte dem Mann sämtliche Zehen- und Fingernägel herausreißen, und er würde sterben, bevor er redete. Der Prediger nickte lächelnd.
Er wusste, dass es zwischen dem Norden und dem Süden auf keiner Karte eine richtige Grenze gab. Aber Karten waren etwas für die kuffar. Die Stämme hatten ihre Karten im Kopf. Sie wussten genau, wo eine Generation zuvor Clan gegen Clan um ein Kamel gekämpft hatte und wo Männer gestorben waren. Dieser Punkt markierte den Anfang der Vendetta. Sie wussten, wenn ein Mann vom falschen Clan diese Linie überschritt, würde er sterben. Dazu brauchten sie die Karte der Weißen nicht.
Der Prediger wusste auch, dass man ihm einen Hinterhalt legen konnte, um ihm das Geld abzunehmen. Aber wozu? Der Clanchef aus Garacad würde sein Geld ja bekommen. Was nutzte ihm der schwedische Junge? Nur er, der Prediger, kannte den wahren, atemberaubenden Wert des Handelsmarinekadetten aus Stockholm, denn sein guter Freund in London hatte ihn darüber informiert. Und diese immense Summe würde sein Ansehen wiederherstellen, sogar unter den angeblich so frommen Schabaab. Ob Norden oder Süden, Geld regierte die Welt. Überall.
Es klopfte an der Tür.
Ein neues Fahrzeug stand vor dem Tor, ein kleiner Personenwagen diesmal. In fünfzigtausend Fuß Höhe kreiste die Global Hawk und schaute zu und lauschte. Die gleiche weiß gekleidete Gestalt kam quer über den Sandboden heran und sprach mit dem Fahrer. In Tampa und in London schauten Amerikaner zu.
Der Wagen fuhr nicht in den Hof. Ein großer Attachékoffer wurde übergeben und mit einer Unterschrift quittiert. Die Gestalt in Weiß ging auf das Hauptgebäude zu.
»Folgen Sie dem Wagen«, sagte der Spürhund. Die Umrisse des ummauerten Grundstücks rutschten aus dem Bild, als die Kamera hoch oben in der Stratosphäre dem Wagen folgte. Er fuhr nicht weit – weniger als eine Meile. Dann hielt er vor einem kleinen Büroblock.
»Zoomen Sie heran. Lassen Sie mich das Gebäude sehen.«
Der Büroblock rückte näher und näher heran. Die Sonne in Marka stand senkrecht am Himmel, deshalb gab es keine Schatten. Sie würden kommen, lang und schwarz, wenn die Sonne über der Wüste im Westen unterging. Er sah es, hellgrün und dunkelgrün, ein Logo und ein Wort, das mit D anfing, in lateinischer Schrift. Dahabshiil. Das Geld war gekommen und ausgezahlt worden. Das Auge am Himmel richtete sich wieder auf das Anwesen des Predigers.
Hundert-Dollar-Scheine, Block für Block, wurden aus dem Koffer gehoben und auf den langen, blank polierten Tisch gelegt. Der Prediger mochte viele Meilen weit von seiner Heimat Rawalpindi entfernt sein, aber er schätzte immer noch die traditionellen Möbel.
Yusuf hatte bereits angekündigt, er müsse das Geld zählen. Dschamma übersetzte zwischen Arabisch und Somali, der einzigen Sprache, die Yusuf sprach. Opal, der den Attachékoffer gebracht hatte, blieb in seiner Rolle als einer von zwei Privatsekretären da, für den Fall, dass er noch gebraucht wurde. Als er sah, wie Yusuf mit den Geldbündeln herumfummelte, fragte er ihn auf Somali: »Kann ich dir helfen?«
»Äthiopischer Hund«, fauchte der Sacad. »Ich erledige das.«
Er brauchte zwei Stunden. Schließlich grunzte er.
»Ich muss anrufen«, sagte er, und Dschamma übersetzte es. Der Prediger nickte. Yusuf zog ein Handy aus seinen Gewändern und versuchte anzurufen, aber innerhalb der dicken Mauern des Gebäudes hatte er keinen Netzkontakt. Er wurde in den offenen Hof hinausgeführt.
»Da ist ein Kerl mit einem Mobiltelefon im Hof«, sagte MS Orde in Tampa.
»Hören Sie ihn ab. Ich muss Bescheid wissen«, befahl der Spürhund.
Ein Telefon klingelte in einer Lehmziegelfestung in Garacad und wurde abgenommen. Das Gespräch war äußerst kurz. Vier Worte aus Marka, zwei zur Antwort, dann wurde die Verbindung wieder getrennt.
»Und?«, fragte der Spürhund.
»Das war Somali.«
»Fragen Sie die NSA.«
Fast tausend Meilen weit nördlich in Maryland nahm ein amerikanischer Somali den Kopfhörer ab.
»Der eine Mann hat gesagt: ›Die Dollars sind da‹, und der andere: ›Morgen Abend.‹«
Tampa rief den Spürhund in London an.
»Wir haben das Gespräch mitgeschnitten«, sagten die Leute von der Kommunikationsüberwachung. »Sie haben ein lokales Mobilfunknetz namens Hormud benutzt. Wir wissen, wo der eine Sprecher war: in Marka. Aber wo der andere sitzt, wissen wir nicht.«
Keine Sorge, dachte der Spürhund. Ich weiß es.