ZWÖLF
Gareth Evans wohnte jetzt praktisch in der Kanzlei. Man hatte ein Klappbett in die Operationszentrale gestellt. Nebenan hatte er ein Bad mit Dusche, Toilette und Waschbecken. Er ernährte sich von Fertigmahlzeiten vom Lieferservice und Salat aus dem Deli an der Ecke. Das übliche Verfahren, sich zu bestimmten Zeiten mit seinem Gegenüber in Somalia zu verabreden, hatte er aufgegeben. Er wollte in seiner Einsatzzentrale sein, wenn Abdi seinen Rat befolgte und ihn aus der Wüste anrief. Vielleicht würde der Mann nicht lange unbeobachtet bleiben. Kurz vor Mittag klingelte das Telefon. Abdi war dran.
»Mr. Gareth? Ich bin es. Ich habe ein Satphone gefunden. Aber ich habe nicht viel Zeit.«
»Dann sollten wir uns kurzfassen, mein Freund. Was Ihr Auftraggeber mit dem Jungen getan hat, lässt uns eines vermuten: Er will uns unter Druck setzen, damit wir uns schnell einigen. Das ist nicht üblich. Normalerweise haben die Somalis alle Zeit der Welt. Diesmal sind beide Seiten an einem schnellen Abschluss interessiert. Nicht wahr?«
»Ja, ich denke schon«, antwortete die Stimme aus der Wüste.
»Mein Auftraggeber ist der gleichen Ansicht. Nicht wegen des Kadetten. Das war Erpressung, aber so plump, dass sie nichts taugt. Mein Auftraggeber will sein Schiff zurückhaben. Der Schlüssel dazu ist der endgültige Preis für die Freigabe, und in diesem Punkt ist der Rat, den Sie Ihrem Auftraggeber erteilen, von entscheidender Bedeutung.«
Evans war klar, es wäre selbstmörderisch, durchblicken zu lassen, dass der Junge zehnmal so viel wert war wie das Schiff und die Ladung.
»Was bieten Sie an, Mr. Gareth?«
»Eine endgültige Einigung auf fünf Millionen Dollar. Wir wissen beide, das ist außerordentlich fair. Wahrscheinlich hätten wir uns in drei Monaten ohnehin auf diesen Betrag geeinigt. Ich glaube, das ist Ihnen klar.«
Mr. Abdi, der mit dem Telefon am Ohr eine Meile weit von der Festung hinter Garacad entfernt in der Wüste kauerte, gab ihm recht, doch das sagte er nicht. Er spürte, dass da noch etwas für ihn persönlich unterwegs war.
»Ich biete Ihnen Folgendes an. Bei fünf Millionen wäre Ihr Anteil ungefähr eine Million. Ich zahle Ihnen sofort eine Million auf Ihr persönliches Konto, und eine zweite Million, wenn das Schiff in See sticht. Außer Ihnen und mir braucht niemand etwas davon zu wissen. Entscheidend ist ein schnelles Ende. Ich hoffe, das erkaufe ich mir hier.«
Abdi dachte nach. Die dritte Million würde immer noch von al-Afrit kommen. Das Dreifache seines üblichen Honorars. Und es gab noch andere Erwägungen. Er wollte aus dieser Situation entkommen, ungeachtet aller anderen Faktoren.
Die Tage des leicht verdienten Geldes, der schnell kassierten Lösegelder waren vorbei. Die westlichen Seemächte hatten lange gebraucht, um die Kurve zu kriegen, doch jetzt wurden sie zunehmend aggressiv.
Es hatte bereits zwei Landungen westlicher Stoßtrupps vom Meer her gegeben. Ein vor Anker liegendes Schiff war von Marineinfanteristen befreit worden, die sich von einem Hubschrauber abgeseilt hatten. Die somalischen Bewacher hatten sich gewehrt, zwei Soldaten waren gestorben, aber die Somalis auch – alle bis auf zwei, und die saßen jetzt im Gefängnis auf den Seychellen.
Ali Abdi war kein Held, und er hatte auch nicht die leiseste Absicht, einer zu werden. Er wurde blass vor Schrecken bei dem Gedanken, diese schwarz gekleideten Monster mit ihren Nachtsichtbrillen und den Feuer speienden Maschinenpistolen könnten die Lehmziegelfestung stürmen, in der er zurzeit wohnte.
Und außerdem wollte er sich zur Ruhe setzen, mit viel Geld und weit weg von Somalia. Wo man zivilisiert und vor allem in Sicherheit lebte. Er sprach in sein Satphone.
»Abgemacht, Mr. Gareth.« Er nannte eine Kontonummer. »Jetzt arbeite ich für Sir, Mr. Gareth. Doch Sie müssen verstehen, selbst wenn ich auf eine schnelle Einigung bei fünf Millionen Dollar dränge, müssen wir mit vier Wochen rechnen.«
Es dauerte schon vierzehn Tage, dachte Evans. Aber sechs Wochen, das war fast die kürzeste Frist zwischen Kaperung und Freigabe, die bekannt war.
»Danke, mein Freund. Bringen wir diese scheußliche Sache hinter uns und kehren wir zurück in ein zivilisiertes Leben …«
Er legte auf. In weiter Ferne tat Ali Abdi das Gleiche und kehrte zurück in die Festung. Die beiden Männer hatten nicht das somalische Telefonnetz benutzt, doch für Fort Meade und Cheltenham war das gleichgültig. Dort hatte man jedes Wort mitgehört.
Weisungsgemäß gab Fort Meade den Text über die Staatsgrenze weiter an TOSA, und von dort ging eine Kopie an den Spürhund nach London. Ein Monat, dachte er. Die Uhr tickt. Er steckte seinen BlackBerry ein, als die Vororte von Poole in Sicht kamen, und hielt Ausschau nach einem Straßenschild, das ihm den Weg nach Hamworthy zeigte.
»Das ist eine Menge Geld, Boss.«
Trojan Horse Outcomes war offensichtlich ein sehr kleines Unternehmen. Der Spürhund vermutete, der Name verweise auf eins der größten Täuschungsmanöver in der Menschheitsgeschichte. Was der Mann, der ihm da gegenübersaß, aufbringen konnte, war sehr viel weniger als das griechische Heer.
Firmensitz war ein bescheidenes Reihenhaus in einem Vorort, und der Spürhund schätzte die Personalstärke auf zwei oder drei Mann. Ihm gegenüber am Esstisch saß offenbar der Chef. Der Spürhund hielt ihn für einen ehemaligen Unteroffizier der Royal Marines, und wie sich zeigte, hatte er damit recht. Sein Name war Brian Weller.
Was Weller meinte, war ein Klotz aus Fünfzig-Dollar-Scheinen, so dick wie ein Brikett.
»Was genau soll dafür getan werden?«
»Ich möchte, dass ein Mann ohne Aufsehen in London von der Straße geholt, an einem ruhigen und abgelegenen Ort für maximal einen Monat festgehalten und dann wieder dahin zurückgebracht wird, wo er herkam. Keine Grobheiten. Nur ein netter kleiner Urlaub, weit weg von London und jeder Art von Telefon.«
Weller überlegte. Er hatte nicht den leisesten Zweifel daran, dass diese Entführung illegal wäre, aber seine Philosophie war einfach und soldatisch. Es gab die Guten, und es gab die Schlechten, und Letztere konnten sich einfach zu viel erlauben.
Die Todesstrafe war illegal, doch er hatte zwei kleine Töchter, die zur Schule gingen, und wenn irgendein schweinischer »Pädo« sich an sie heranmachen wollte, würde er ihn ohne Zögern in eine andere und vielleicht bessere Welt schicken.
»Wie übel ist der Kerl?«
»Er unterstützt Terroristen. Im Stillen, finanziell. Der, dem er zurzeit behilflich ist, hat vier Briten und fünfzehn Amerikaner umgebracht. Ein Terrorist.«
Weller grunzte. Er hatte drei Diensteinsätze in Helmand, Afghanistan, abgeleistet und hatte dort ein paar gute Kumpel sterben sehen.
»Leibwächter?«
»Nein. Gelegentlich hat er eine gemietete Limousine mit Fahrer. Meistens nimmt er ein schwarzes Taxi von der Straße.«
»Haben Sie was, wo er hinsoll?«
»Noch nicht. Aber ich werde was finden.«
»Ich würde es mir gründlich ansehen wollen, bevor ich mich entscheide.«
»Ich würde sofort gehen, wenn Sie das nicht wollten«, sagte der Spürhund.
Weller wandte den Blick von dem Dollarbrikett auf dem Tisch und musterte den Amerikaner auf der anderen Seite. Sie besprachen nichts weiter. Das war nicht nötig. Er war sicher, dass auch der Yankee Gefechtserfahrung hatte. Der Mann hatte die Kugeln pfeifen hörten und seine Kameraden fallen sehen. Weller nickte.
»Dann fahre ich nach London. Passt es morgen, Boss?«
Der Spürhund unterdrückte ein Lächeln. Er kannte diese Anrede. Soldaten der britischen Special Forces nannten einen Offizier so – ins Gesicht. Was sie hinter seinem Rücken sagten, war eine andere Sache. Meistens »Rupert«, manchmal auch Schlimmeres.
»Morgen passt es mir. Nehmen Sie tausend Dollar für Ihre Spesen. Behalten Sie den Rest, wenn Sie Ja sagen. Geben Sie ihn zurück, wenn Sie nicht wollen.«
»Woher wissen Sie, dass ich es tun werde? Es zurückzahlen?«
Der Spürhund stand auf.
»Mr. Weller, ich glaube, wir beide kennen die Regeln. Wir sind nicht erst seit gestern dabei.«
Als der Spürhund gegangen war – nachdem er eine Zeit und einen Ort, weit weg von der Botschaft, genannt hatte – schaute Brian Weller sich das Brikett genauer an. Fünfundzwanzigtausend Dollar. Fünf würde er ausgeben müssen, und der Yankee sorgte für das Versteck. Er hatte zwei Töchter großzuziehen, eine Frau zu unterhalten, Essen auf den Tisch zu bringen, und seine Fähigkeiten waren nicht so, dass man sie beim Tee im Pfarrhaus vermarkten konnte.
Er kam zum Treffpunkt, brachte einen Kollegen aus seinem alten Kommando mit und nahm den Job eine Woche lang unter die Lupe. Dann sagte er Ja.
Ali Abdi nahm seinen ganzen Mut zusammen und ging zu al-Afrit.
»Die Sache läuft gut«, berichtete er. »Wir werden ein hübsches Lösegeld für die Malmö herausschlagen.«
Dann kam er auf ein anderes Thema zu sprechen.
»Der blonde Junge. Wenn er stirbt, macht das die Angelegenheit kompliziert. Es führt zu Verzögerungen und verringert das Lösegeld.«
Von seinem persönlichen Albtraum, der Aussicht auf europäische Stoßtrupps, die zu einer Rettungsmission den Strand stürmten, erwähnte er nichts. Es könnte den Mann vor ihm provozieren.
»Warum sollte er sterben?«, knurrte der Warlord.
Abdi zuckte die Achseln.
»Ich weiß es nicht. Eine Infektion, eine Blutvergiftung …?«
Er bekam, was er wollte. In Garacad gab es einen Arzt, der Grundkenntnisse in Erster Hilfe besaß. Die Wunden des Kadetten wurden desinfiziert und verbunden. Aber er blieb weiter im Keller eingesperrt. Daran konnte Abdi nichts ändern, und er wagte es auch nicht.
»Das ist ein Revier für die Hirschjagd«, sagte der Mann von der Jagdagentur. »Für die Böcke geht bald die Brunft los, und dann ist Schonzeit.«
Der Spürhund lächelte. Er spielte wieder den harmlosen amerikanischen Touristen.
»Ach, die Böcke haben von mir nichts zu befürchten. Nein, ich will nur mein Buch schreiben, und dazu brauche ich absolute Ruhe und Stille. Kein Telefon, keine Straße, keinen Besuch, keine Störungen. Eine hübsche Hütte abseits der ausgetretenen Pfade, wo ich den großen amerikanischen Roman schreiben kann.«
Der Agent kannte sich mit Schriftstellern ein wenig aus. Sie waren verrückt. Er klapperte auf seiner Tastatur und schaute auf den Monitor.
»Wir haben eine kleine Jagdhütte in unseren Büchern«, erklärte er. »Bis zum Beginn der Jagdsaison ist sie frei.«
Er stand auf und ging zu einer Karte an der Wand, sah im Register nach und tippte auf einen jungfräulichen Bereich abseits von Städten, Dörfern oder Straßen. Nur ein paar spinnwebzarte Wege waren eingezeichnet. Die Gegend lag im nördlichen Caithness, dem letzten schottischen County vor dem wilden Pentland Firth.
»Ich habe ein paar Bilder.«
Er kehrte mit dem Spürhund zu seinem Computer zurück und ließ ein paar Fotos über den Monitor wandern. Ja, es war eine Blockhütte in einem endlos wogenden Meer aus Heidekraut, in einem weiten Glen, umrahmt von hohen Bergen. In so einer Gegend würde ein Großstädter, der von zwei Marines gejagt wurde, nach fünfhundert Metern zusammenbrechen.
Die Hütte hatte zwei Schlafzimmer, ein großes Wohnzimmer, Küche und Dusche, einen riesigen Kamin und einen Brennholzvorrat.
»Ich glaube wirklich, ich habe mein Paradies gefunden«, sagte der Tourist und Schriftsteller. »Ich hatte noch keine Zeit, ein Konto einzurichten. Ist Barzahlung in Dollar okay?«
Dollar in bar waren wundervoll. In ein paar Tagen würde man eine genaue Wegbeschreibung und die Schlüssel zuschicken, und zwar nach Hamworthy.
Mustafa Dardari zog es vor, kein Auto zu besitzen und in London nicht selbst zu fahren. Die Parkplatzsuche war ein dauerhafter Albtraum, auf den er gut verzichten konnte. In seiner Gegend von Knightsbridge waren ständig Taxen unterwegs, brauchbar, wenn auch teuer. Kein Problem. Für ein elegantes Abendprogramm, ein Dinner zum Beispiel, benutzte er einen Limousinenservice – immer dieselbe Firma und meistens denselben Fahrer.
Er hatte eine Meile weit von seinem Haus entfernt bei Freunden zu Abend gegessen, und während er sich verabschiedete, rief er auf seinem Handy den Fahrer an und bestellte ihn vor den Portikus, wo eine doppelte gelbe Linie das Parken Tag und Nacht untersagte. Der Fahrer, der um die Ecke wartete, ließ den Motor an und berührte das Gaspedal mit der Fußspitze. Der Wagen bewegte sich einen Meter weit vorwärts, und dann sackte ein Hinterreifen auf der Felge zusammen.
Der Augenschein ergab, dass irgendein Gauner ein viereckiges, mit einem nadelspitzen Stahlnagel durchbohrtes Stück Sperrholz unter die Lauffläche des Reifens geschoben hatte, während der Fahrer am Steuer döste. Der Fahrer rief seinen Kunden an und erklärte, was passiert war. Er würde das Rad wechseln müssen, aber es war ein großer, schwerer Wagen, und es würde ein Weilchen dauern.
Mr. Dardari stand unter dem Portikus, und die anderen Gäste um ihn herum verschwanden nacheinander, als ein Taxi mit leuchtendem Schild um die Ecke kam. Er hob die Hand. Das Taxi hielt am Straßenrand. Glück gehabt. Er stieg ein und nannte seine Adresse, und das Taxi fuhr tatsächlich in die richtige Richtung.
Taxifahrer in London sind gehalten, die hintere Türverriegelung zu aktivieren, wenn der Fahrgast Platz genommen hat. Das soll verhindern, dass ein Fahrgast verduftet, ohne zu bezahlen, aber auch, dass er von einem Flegel belästigt wird, der sich zu ihm hineinquetschen will. Doch dieser Trottel hatte es anscheinend vergessen.
Der Limousinenfahrer, der sich über seinen Wagenheber beugte, war kaum außer Sicht, als das Taxi am Randstein hielt und eine stämmige Gestalt die Tür aufriss und einstieg. Dardari protestierte: Der Wagen sei besetzt. Die stämmige Gestalt schlug nur die Tür zu und sagte: »Stimmt, Chef. Von mir.«
Ein starker Arm schlang sich um den pakistanischen Geschäftsmann, und eine Faust drückte ihm einen chloroformgetränkten Schwamm auf Mund und Nase. Nach zwanzig Sekunden hörte er auf zu zappeln.
Eine Meile weiter wartete ein Minivan mit einem dritten Ex-Marine am Steuer. Das Taxi, das sie von einem Kumpel geborgt hatten, der sich mit einem Taxibetrieb seinen Lebensunterhalt verdiente, wurde verabredungsgemäß mit den Schlüsseln unter dem Sitz am Straßenrand abgestellt.
Zwei der Männer setzten sich auf die Bank hinter dem Fahrer und hielten ihren dösenden Fahrgast zwischen sich aufrecht, bis sie North London hinter sich gelassen hatten. Dann machten sie es ihm auf einer Koje hinter den Sitzen bequem. Zweimal wollte er aufwachen, und jedes Mal legten sie ihn wieder schlafen.
Die Fahrt war lang, trotzdem schafften sie es mithilfe eines GPS-Navigationssystems verhältnismäßig schnell. Auf dem letzten Stück des Weges kamen sie nur noch mühsam voran, waren jedoch etwa bei Sonnenuntergang angekommen, und Brian Weller tätigte einen Anruf. Funkmasten gab es dort oben nicht, aber er hatte ein Satellitentelefon mitgebracht.
Der Spürhund rief Ariel an und benutzte dazu seine dedizierte, abhörsichere Leitung, auf der nicht einmal Fort Meade oder Cheltenham mithören würden. In Centreville, Virginia, war jetzt Nachmittag.
»Ariel, du erinnerst dich an den Computer in London, den du vor einer Weile ausgeschlachtet hast? Könntest du jetzt E-Mails versenden, die aussehen, als kämen sie von dort?«
»Natürlich, Colonel. Ich habe die Zugangsdaten hier.«
»Und dazu brauchst du Virginia nicht zu verlassen, ja?«
Ariel war verblüfft, dass irgendjemand auf der Welt in Fragen des Cyberspace so naiv sein konnte. Mit dem, was er vor sich hatte, konnte er sich in Mustafa Dardari »verwandeln« und aus Pelham Crescent in London mailen.
»Und erinnerst du dich an den Code auf der Grundlage von Obst- und Gemüsepreisen, den der User benutzt hat? Kannst du einen Text mit demselben Code verschlüsseln?«
»Natürlich, Sir. Ich habe ihn geknackt, ich kann ihn benutzen.«
»Genau so, wie er war? Als säße der alte User an der Tastatur?«
»Genau so. Identisch.«
»Super. Dann möchte ich, dass du eine Nachricht von der IP-Adresse in London an den Empfänger in Kismaju schickst. Hast du Bleistift und Papier?«
»Habe ich was?«
»Ich weiß, es ist altmodisch, aber ich möchte lieber das abhörsichere Telefon benutzen, keine E-Mail. Für alle Fälle.«
Es dauerte einen Augenblick, während Ariel die Leiter hinunterrutschte und mit Ausrüstungsgegenständen zurückkam, deren Verwendung ihm halbwegs fremd war. Der Spürhund diktierte ihm seine Nachricht.
Die Nachricht wurde mit demselben Code verschlüsselt, den Dardari benutzt hätte, dann wurde sie abgeschickt. Wie alles, was zwischen Dardari und Somalia hin- und herging, wurde sie von Fort Meade und Cheltenham abgefangen und entschlüsselt. In beiden Horchposten gingen ein paar Augenbrauen hoch, doch der Befehl lautete zu überwachen, nicht, sich einzumischen. Weisungsgemäß schickte Fort Meade eine Kopie an TOSA. TOSA gab sie an den Spürhund weiter, und der nahm sie entgegen, ohne eine Miene zu verziehen.
Der Empfänger in Kismaju war nicht der inzwischen verstorbene Troll, sondern sein Nachfolger Dschamma, der ehemalige Sekretär. Mithilfe des »Spickzettels«, den der Troll hinterlassen hatte, entschlüsselte er die Mail Wort für Wort. Aber er war kein Experte, und wenn es einen Fehler gegeben hätte, wäre er unbemerkt geblieben. Es gab jedoch keinen Fehler. Sogar die erforderlichen Vertipper waren da.
Weil es mühsam ist, E-Mails auf Urdu oder Arabisch zu versenden, hatten Dardari, der Troll und der Prediger immer auf Englisch miteinander korrespondiert. Auch diese neue Nachricht war in englischer Sprache. Dschamma, ein Somali, verstand diese Sprache – nicht so fließend, doch gut genug, um zu wissen, dass es etwas Wichtiges war und der Prediger unverzüglich in Kenntnis gesetzt werden sollte.
Er war einer der wenigen, die wussten, dass der scheinbare Auftritt des Predigers im Internet, bei dem er alle seine Lehren widerrufen hatte, gefälscht gewesen war, denn sein Herr hatte seit über drei Wochen keine Predigt mehr verbreitet. Er wusste, dass die meisten Fans in der weiten muslimischen Diaspora im Westen empört sein würden. Er hatte die Kommentare gesehen, die sie Stunde um Stunde posteten. Seine eigene Loyalität war ungetrübt. Er würde die Nachricht aus London nehmen und die weite, anstrengende Fahrt nach Marka antreten.
Genau wie Dschamma davon überzeugt war, eine E-Mail von Dardari empfangen zu haben, waren auch Cheltenham und Fort Meade sicher, der Chutneyfabrikant sitze an seinem Schreibtisch in London und unterstütze seinen Freund in Somalia von dort aus.
In Wirklichkeit starrte Dardari trübsinnig in den strömenden Regen der ersten Septembertage hinaus, während hinter ihm vor einem lodernden Feuer drei ehemalige Marine-Kommandosoldaten sich laut lachend in ihren Erinnerungen an gemeinsame Kämpfe ergingen. Graue Wolkenvorhänge wehten durch das Glen und ließen Wasser auf das Dach prasseln.
In der sengenden Hitze von Kismaju tankte der treue Dschamma den Pick-up für die lange Nachtfahrt nach Marka auf.
In London transferierte Gareth Evans die erste von Harry Anderssons Dollarmillionen auf Mr. Abdis geheimes Konto auf den Caymaninseln und schätzte, die Malmö, ihre Ladung und ihre Mannschaft in drei Wochen wieder auf hoher See zu haben, eskortiert von einem NATO-Zerstörer.
In einem Safe House der Londoner Botschaft fragte der Spürhund sich, ob der Fisch wohl anbeißen würde. Als es in Virginia Abend wurde, rief er im TOSA-Hauptquartier an.
»Gray Fox, ich glaube, ich brauche die Grumman. Könnten Sie sie mir nach Northolt zurückschicken?«