DREI

Ungefähr die einzige unkonventionelle oder waghalsige Tat, die Lieutenant Colonel Muscharraf Ali Schah von der pakistanischen Armee je vollbracht hatte, war seine Heirat. Nicht wegen der Ehe an sich, sondern wegen des Mädchens, das er heiratete.

Mit fünfundzwanzig und noch ledig war er 1979 für kurze Zeit am Siachen-Gletscher stationiert gewesen, in einer trostlosen Wildnis im hohen Norden seines Landes, kurz vor der Grenze zu Pakistans Todfeind Indien. Später, zwischen 1984 und 1999, sollte es einen unterschwellig schwärenden Grenzkrieg am Siachen geben, aber damals war es dort nur kalt und trist, ein sogenannter Härteposten.

Ali Schah, zu der Zeit noch Lieutenant, war Pandschabi wie die Mehrheit der Pakistani, und wie seine Eltern nahm er an, er werde »gut« heiraten, vielleicht die Tochter eines höheren Offiziers, was seine Karriere befördern würde, oder die eines reichen Kaufmanns, was gut für sein Konto wäre.

So oder so könnte er von Glück sagen, denn ein aufregender Mann war er nicht. Er war einer von denen, die Befehle buchstabengetreu befolgen – konventionell, orthodox und mit der Fantasie eines chapati. Doch in diesen zerklüfteten Bergen begegnete er einem einheimischen Mädchen von berückender Schönheit namens Soraya, und er verliebte sich in sie und heiratete sie ohne die Erlaubnis oder den Segen seiner Familie.

Ihre Familie war hocherfreut, denn sie nahm an, die Verbindung mit einem Armeeoffizier werde den Aufstieg bringen, die Umsiedlung in eine der großen Städte in der Ebene, vielleicht ein großes Haus in Rawalpindi oder sogar in Islamabad. Doch leider war Muscharraf Ali Schahs Leben eine Ochsentour. Im Laufe von dreißig Jahren stapfte er bis hinauf zum Rang eines Lieutenant Colonel, und es war klar, dass er höher nicht kommen würde. 1980 wurde ein Junge geboren und Zulfikar getauft.

Lieutenant Ali Schah gehörte zu den Panzergrenadieren, und als er 1976 Offizier wurde, war er einundzwanzig. Nach seinem ersten Einsatz am Siachen kehrte er mit einer hochschwangeren Frau zurück und wurde zum Captain befördert. Er bekam ein sehr bescheidenes Haus im Offiziersquartier in Rawalpindi zugeteilt, dem wenige Meilen außerhalb der Hauptstadt Islamabad gelegenen Militärkomplex.

Weiteres schockierendes Verhalten gab es nicht. Wie alle Offiziere in der pakistanischen Armee wurde er alle zwei oder drei Jahre wieder versetzt, und die Posten wurden nach »harten« und »weichen« unterschieden. Die Stationierung in einer Stadt wie Rawalpindi, Lahore oder Karatschi galt als »weich« und »mit Familie«. Die Abkommandierung in die Garnison von Multan, Kharian oder Peschawar am Schlund des Khaiberpasses nach Afghanistan oder in das Taliban-verseuchte Swat-Tal galt als »hart«, und die Offiziere wurden nicht von ihrer Familie begleitet. Der Junge Zulfikar besuchte die jeweiligen Schulen.

In jeder pakistanischen Garnisonsstadt gibt es Schulen für die Kinder der Offiziere, doch es gibt sie auf drei verschiedenen Ebenen. Auf der untersten Ebene sind die staatlichen Schulen, dann kommen die öffentlichen Schulen des Militärs, und für diejenigen, deren Familien über die nötigen Mittel verfügen, gibt es die privaten Eliteschulen. Von seinem sehr bescheidenen Sold abgesehen, hatte Ali Schahs Familie kein Geld, und Zulfikar ging auf die Schulen der Armee. Sie gelten als gut geführt, viele Offiziersfrauen arbeiten dort als Lehrerinnen, und sie kosten nichts.

Der Junge beendete die Schule mit fünfzehn und ging auf das College der Armee, wo er auf Anordnung seines Vaters ein Ingenieursstudium aufnahm. Mit so einer Ausbildung würde er automatisch Aufnahme in der Armee finden und Offizier werden. Das war 1996. Im dritten Studienjahr bemerkten die Eltern, dass mit ihrem Sohn eine Veränderung vorging.

Ali Schah, inzwischen Major, war natürlich Muslim, praktizierend, aber nicht leidenschaftlich fromm. Es wäre undenkbar gewesen, nicht jeden Freitag in die Moschee zu gehen oder an den rituellen Gebeten teilzunehmen, wenn und wie es gefordert wurde. Doch das war alles. Aus Prestigegründen trug er gewohnheitsmäßig seine Uniform, aber wenn er Zivil tragen musste, war es die Landestracht der Männer – eine enge Hose und eine lange, vorn geknöpfte Jacke, die zusammen als Salwar Kamiz bezeichnet werden.

Er bemerkte, dass sein Sohn sich einen zotteligen Bart wachsen ließ und die gehäkelte Schädelkappe der Frommen trug. Zulfikar kniete die erforderlichen fünfmal am Tag zum Gebet, und wenn sein Vater einen Whisky trank, das Getränk des Offizierscorps, zeigte er sein Missfallen, indem er aus dem Zimmer stürmte. Seine Eltern hielten diese Frömmigkeit und die intensive Religiosität für eine vorübergehende Phase.

Zulfikar fing an, sich in Schriften über Kaschmir zu vertiefen, das umstrittene Grenzgebiet, das die Beziehungen zwischen Indien und Pakistan seit 1947 vergiftet, und er neigte zunehmend zum gewalttätigen Extremismus der Laschkar e-Taiba, der terroristischen Vereinigung, die später für das Massaker von Mumbai verantwortlich sein würde.

Sein Vater versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, dass sein Sohn in einem Jahr sein Examen ablegen und dann entweder zur Armee gehen oder einen guten Job als qualifizierter, in Pakistan stets gesuchter Ingenieur finden würde. Aber im Sommer 2000 fiel er durch die Prüfung. Sein Vater schrieb diese Katastrophe dem Umstand zu, dass Zulfikar, statt seine Hausaufgaben zu machen, über dem Koran gebrütet und Arabisch gelernt hatte, die einzige Sprache, in welcher der Koran studiert werden darf.

Dieses Ereignis führte zur ersten einer ganzen Reihe von hitzigen Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn. Major Ali Schah ließ seine Beziehungen spielen und erklärte, sein Sohn habe sich unwohl gefühlt und verdiene die Chance, die Prüfung zu wiederholen. Dann kam Nine/Eleven.

Wie praktisch alle auf der Welt, die einen Fernseher besaßen, schaute die Familie entsetzt zu, wie die Flugzeuge in die Twin Towers rasten. Nur nicht der Sohn Zulfikar. Er war entzückt und jubelte laut, als der Sender das Spektakel endlos wiederholte. Jetzt erkannten seine Eltern, dass ihr Sohn neben seiner extremen religiösen Frömmigkeit, der ständigen Lektüre der Schriften des ursprünglichen Dschihad-Propagandisten Sayyid Qutb und dessen Schülers Azzam sowie dem Abscheu gegen Indien auch einen tiefen Hass gegen Amerika und den Westen entwickelt hatte.

In jenem Winter marschierten die USA in Afghanistan ein, und innerhalb von sechs Wochen hatte die Nordallianz mit massiver Unterstützung durch die U. S. Special Forces und die amerikanische Luftwaffe die Talibanregierung gestürzt. Osama bin Laden, der Gast der Taliban gewesen war, flüchtete über die Grenze nach Pakistan in die eine Richtung, während der einäugige, bizarre Talibanführer Mullah Omar sich in die andere Richtung absetzte, in die pakistanische Provinz Balutschistan, wo er sich mit seinem Hohen Rat, der Schura, in der Stadt Quetta niederließ.

Für Pakistan war das alles andere als ein akademisches Problem. Die pakistanische Armee, wie die Streitkräfte des Landes überhaupt, steht letzten Endes unter der Aufsicht des militärischen Nachrichtendienstes, des Inter-Services Intelligence Department oder kurz ISI. Jeder, der in Pakistan eine Uniform trägt, lebt in ständiger Angst vor dem ISI. Und der ISI hatte die Taliban überhaupt erst erschaffen.

Außerdem gehörte ein ungewöhnlich hoher Prozentsatz der ISI-Offiziere zum extremistischen Flügel des Islam, und sie hatten nicht vor, ihre Schöpfung, die Taliban, oder ihre Gäste von al-Qaida im Stich zu lassen und den USA Treue zu schwören, auch wenn sie diesen Anschein würden erwecken müssen. So entstand das eitrige Geschwür, das seitdem auf den amerikanisch-pakistanischen Beziehungen schwärt. Die führenden Offiziere des ISI wussten nicht nur, dass Bin Laden sich in dem ummauerten Anwesen in Abbottabad aufhielt, sie hatten es sogar für ihn gebaut.

In den ersten Frühlingstagen des Jahres 2002 begab sich eine hochrangige ISI-Delegation nach Quetta zu einem Gespräch mit Mullah Omar und seiner Schura. Normalerweise hätten sie sich nicht herabgelassen, den kleinen Major Ali Schah als Begleiter mitzunehmen, aber die beiden ISI-Generäle sprachen kein Paschtu, und der Mullah und seine paschtunischen Gefolgsleute konnten kein Urdu. Major Ali Schah sprach zwar auch kein Paschtu, doch er hatte einen Sohn, der es konnte.

Ali Schahs Frau war eine Paschtunin aus den wilden Bergen des Nordens. Ihre Muttersprache war Paschtu, und ihr Sohn beherrschte beide Sprachen. Berauscht von so viel Ehre, begleitete er die Delegation. Bei der Rückkehr nach Islamabad hatte er den letzten wütenden Streit mit seinem ultrakonventionellen Vater, der stocksteif aus dem Fenster starrte, als sein Sohn hinausstürmte. Seine Eltern sahen ihn nie wieder.

Die Gestalt, die Mr. Kendrick senior vor sich sah, als er die Haustür öffnete, trug Uniform. Keine Ausgehuniform, aber den sauber gebügelten Tarnanzug mit dem Abzeichen der Einheit, Rangabzeichen und Auszeichnungen. Er sah, dass sein Besucher ein Colonel der Marines war, und er war beeindruckt.

Das war der Sinn der Sache. Im Dienst bei TOSA trug der Spürhund kaum jemals Uniform, denn sie erregte Aufmerksamkeit, und in seiner neuen Umgebung war Aufmerksamkeit etwas, das er unter allen Umständen vermied. Mr. Jimmy Kendrick war jedoch Hausmeister an einer Schule in der Nähe. Er beaufsichtigte die Zentralheizungsanlage und fegte die Korridore. An Marine Colonels vor seiner Haustür war er nicht gewöhnt, und er hatte großen Respekt.

»Mr. Kendrick?«

»Ja.«

»Colonel Jackson. Ist Roger zu Hause?« James Jackson war ein Deckname, den der Spürhund häufig benutzte.

Natürlich war Roger zu Hause. Er ging niemals weg. Jimmy Kendricks einziger Sohn war eine traurige Enttäuschung für ihn. Der Junge litt an akuter Agoraphobie und hatte schreckliche Angst davor, die vertraute Umgebung seines Dachbodenverstecks und die Gesellschaft seiner Mutter zu verlassen.

»Ja, er ist oben.«

»Kann ich ihn sprechen? Bitte?«

Kendrick führte den uniformierten Marine nach oben. Das Haus war nicht groß – zwei Zimmer unten, zwei oben, und eine Aluminiumleiter, die auf den Dachboden führte. Der Vater rief in die Leere hinauf.

»Roger, Besuch für dich. Komm herunter.«

Nach einigem Scharren erschien ein Gesicht in der Öffnung über der Leiter. Es war blass wie das eines an Zwielicht gewöhnten Nachtgeschöpfs, jung, verletzlich, ängstlich. Achtzehn oder neunzehn Jahre alt, nervös, mit ausweichendem Blick. Anscheinend hielt er den Blick nur auf den Teppichläufer zwischen den beiden Männern unter ihm gerichtet.

»Hallo, Roger. Ich bin Jamie Jackson. Ich brauche einen Rat von dir. Können wir uns unterhalten?«

Der Junge dachte über dieses Ersuchen ernsthaft nach. Er schien nicht neugierig zu sein, aber er akzeptierte den fremden Besucher und seine Bitte.

»Okay«, sagte er. »Wollen Sie heraufkommen?«

»Da oben ist kein Platz«, sagte sein Vater aus dem Mundwinkel und fuhr dann lauter fort: »Komm herunter, Junge.« Er sah den Spürhund an. »Sprechen Sie in seinem Zimmer mit ihm. Ins Wohnzimmer kommt er nicht gern, wenn seine Mom nicht da ist. Sie arbeitet im Supermarkt an der Kasse.«

Roger Kendrick kam die Leiter herunter und ging mit dem Spürhund in sein Zimmer. Er setzte sich auf die Bettkante und starrte zu Boden. Der Spürhund nahm auf einem Stuhl Platz. Abgesehen von einem kleinen Schrank und einer Kommode war dies das gesamte Mobiliar. Sein eigentliches Leben führte der Junge oben unter dem Dach. Der Spürhund warf dem Vater einen Blick zu, und dieser zuckte die Achseln.

»Asperger-Syndrom«, sagte er hilflos. Offenbar konnte er mit diesem Zustand nichts anfangen. Andere Männer hatten Söhne, die mit Mädchen ausgehen und eine Lehre als Autoschlosser machen konnten. Der Spürhund nickte. Die Bedeutung war klar.

»Betty kommt jeden Augenblick«, sagte Mr. Kendrick. »Sie wird uns Kaffee machen.« Dann verschwand er.

Der Mann aus Fort Meade hatte das Wort »eigenartig« benutzt, allerdings ohne konkreter zu werden. Bevor der Spürhund hergekommen war, hatte er sich über das Asperger-Syndrom und über Agoraphobie, die Angst vor freien Flächen, informiert.

Wie das Downsyndrom und spastische Lähmungen konnten auch diese beiden Erkrankungen in leichter und in schwerer Form auftreten. Nachdem er mit Roger Kendrick ein paar Minuten lang über allgemeine Dinge gesprochen hatte, war jedoch klar, dass es keinen Grund gab, ihn wie ein Kind zu behandeln oder in Babysprache mit ihm zu verhandeln.

Der junge Mann empfand extreme Schüchternheit im direkten Umgang, und die Angst vor der Welt außerhalb seines Elternhauses verstärkte sie noch. Aber der Spürhund vermutete, wenn er das Gespräch in die Komfortzone des Teenagers zurücksteuerte – in den Cyberspace –, dann würde er dort eine ganz andere Persönlichkeit vorfinden. Und er hatte recht.

Er erinnerte sich an den Fall des britischen Cyberhackers Gary McKinnon. Als die amerikanische Regierung ihn vor Gericht stellen wollte, erklärte London, er sei zu schwach zum Reisen und erst recht für das Gefängnis. Und doch war er ins Allerheiligste der NASA und des Pentagons eingedrungen und dabei durch ein paar der kompliziertesten Firewalls geglitten wie ein Messer durch Butter.

»Roger, da draußen gibt es einen Mann, der sich im Cyberspace versteckt. Er hasst unser Land, und man nennt ihn den Prediger. Er predigt online, in englischer Sprache. Er fordert die Menschen auf, sich zu seiner Denkweise zu bekehren und Amerikaner zu ermorden. Ich habe die Aufgabe, ihn zu finden, damit er aufhört. Aber ich kann es nicht. Da draußen ist er cleverer als ich. Er hält sich für den Cleversten im ganzen Cyberspace.«

Der Junge scharrte nicht mehr mit den Füßen, sondern hob zum ersten Mal den Kopf und schaute ihm in die Augen. Er dachte an die einzige Welt, die eine grausame Natur ihm zugedacht hatte. Der Spürhund öffnete seine Tasche und nahm einen Speicherstick heraus.

»Er sendet, Roger, aber er hält seine IP-Adresse sehr geheim, sodass niemand weiß, wo er ist. Wenn wir es wüssten, könnten wir dafür sorgen, dass er aufhört.«

Der Teenager nahm den Stick und drehte ihn in den Fingern.

»Ich bin hier, Roger, weil ich dich fragen wollte, ob du uns helfen willst, ihn zu finden.«

»Ich könnte es versuchen.«

»Sag mir, Roger, was für eine Ausrüstung hast du hier oben?«

Der Teenager sagte es ihm. Es war nicht das Schlechteste auf dem Markt, aber doch gängige Kaufhausware.

»Wenn jemand käme und dich fragte, was du wirklich haben möchtest? Was wäre deine Traummaschine, Roger?«

Roger wurde lebhaft. Begeisterung erfüllte sein Gesicht, und wieder schaute er dem Spürhund in die Augen.

»Am liebsten hätte ich einen Dual-Six-Core-Prozessor mit 32 Gigabyte RAM unter Red-Hat-Enterprise-Linux, Version 6 oder höher.«

Der Spürhund brauchte sich nichts zu notieren. Das winzige Mikrofon zwischen seinen Orden zeichnete alles auf. Das war auch gut so; er hatte keine Ahnung, wovon der Junge da redete. Die Eierköpfe würden das schon wissen.

»Ich will sehen, was ich tun kann«, sagte er und stand auf. »Sieh dir das Material an. Kann sein, dass du es nicht knacken kannst. Aber danke, dass du es versuchst.«

Innerhalb von zwei Tagen hielt ein Van mit drei Männern und einer sehr teuren Computerausrüstung vor dem kleinen Haus in der kleinen Straße von Centreville. Die Männer krochen auf dem Dachboden herum, bis sie alles installiert hatten. Als sie verschwunden waren, saß ein verletzlich aussehender Neunzehnjähriger vor seinem Monitor und glaubte sich in den Himmel entrückt. Er sah sich ein Dutzend Predigten auf der dschihadistischen Website an und fing an zu tippen.

Der Killer beugte sich tief über seinen Motorroller und tat, als schraubte er am Motor herum, als der Senator weiter unten in der Straße aus seinem Haus kam, seine Golfschläger in den Kofferraum warf und sich ans Steuer setzte. Es war kurz nach sieben an einem strahlenden Morgen im Frühsommer. Den Mann auf dem Roller hinter ihm bemerkte er nicht.

Der Killer brauchte ihm nicht dicht auf den Fersen zu bleiben, denn er hatte die Fahrt schon zweimal gemacht, nicht gekleidet wie jetzt, sondern sehr viel weniger auffällig. Er folgte dem Wagen des Senators die fünf Meilen durch Virginia Beach bis zum Golfplatz und sah zu, wie der Senator parkte, seine Schläger aus dem Kofferraum nahm und im Klubhaus verschwand.

Der Killer fuhr an der Einfahrt des Golfklubs vorbei, bog links in den Linkhorn Drive und fuhr in den Wald. Nach zweihundert Metern bog er noch einmal links ab in den Willow Drive. Ein einzelnes Auto kam ihm entgegen, aber der Fahrer beachtete ihn trotz seiner Kleidung nicht.

Er war vom Hals bis zu den Knöcheln in ein schneeweißes Dischdasch gekleidet und trug eine gehäkelte weiße Schädelkappe auf dem geschorenen Kopf. Vorbei an mehreren ländlichen Häusern am Willow Drive, kam er zwischen den Bäumen hervor in die Morgensonne, wo der Abschlag zum fünften Loch, bekannt als Cascade, den Willow Drive überquert. Hier fuhr er von der Straße herunter und schob seinen Roller in das dichte Unterholz neben dem Fairway des vierten Lochs, das den Namen Bald Cypress trägt.

Bei den anderen Löchern waren schon ein paar Golfer unterwegs, doch sie waren in ihr Spiel vertieft und nahmen keine Notiz von ihm. Der junge Mann in Weiß ging gelassen am Bald-Cypress-Fairway entlang, bis er kurz vor der Brücke war, die über den Bach führte. Dort versteckte er sich im Gebüsch und wartete. Von früheren Beobachtungen wusste er, dass jeder, der hier eine Runde spielte, auf dem vierten Fairway heraufkommen und über die Brücke gehen musste.

Während der nächsten halben Stunde beendeten zweimal zwei Spieler das Bald-Cypress-Fairway und gingen zum Tee. Er beobachtete sie aus seinem Versteck und ließ sie vorbei. Dann sah er den Senator. Der Mann spielte mit einem gleichaltrigen Gegner zusammen. Im Klubhaus hatte er eine grüne Windjacke angezogen, und der andere Mann war ähnlich gekleidet.

Als die beiden älteren Männer über die Brücke gingen, kam der Killer aus dem Gebüsch. Keiner der beiden Golfspieler verlangsamte seinen Schritt, aber sie schauten mit flüchtigem Interesse zu ihm hinüber. Das lag an seiner Kleidung, und vielleicht auch an der unbeteiligten Ruhe, mit der er den Amerikanern entgegenkam. Als er noch zehn Schritte entfernt war, fragte der eine: »Können wir Ihnen helfen, junger Mann?«

Daraufhin zog er die rechte Hand unter dem Dischdasch hervor und streckte sie ihnen entgegen, als wollte er ihnen etwas anbieten. Das »Etwas« war eine Pistole. Keiner der beiden Golfspieler hatte Gelegenheit zu protestieren, bevor der Mann schoss. Die ähnlichen Baseballkappen mit den langen Schirmen und die grünen Windjacken verwirrten ihn ein wenig, und er schoss aus nächster Nähe zweimal auf beide Männer.

Eine Kugel ging völlig daneben und wurde nie gefunden. Zwei trafen den Senator in Brust und Kehle und töteten ihn auf der Stelle. Die vierte fuhr dem anderen Mann mitten in die Brust, und beide Männer sackten nacheinander zu Boden. Der Schütze hob den Blick in den klaren blauen Morgenhimmel, murmelte »Allahu akbar«, schob sich den Lauf der Pistole in den Mund und drückte ab.

Die anderen vier Spieler waren dabei, das Green des vierten Lochs zu verlassen. Später sagten sie aus, sie hätten sich alle umgedreht, als sie die ersten Schüsse hörten, und gesehen, wie der Kopf des Mörders blutig in den Himmel zerspritzte und der Mann zu Boden fiel. Zwei liefen auf den Schauplatz zu, ein dritter saß schon auf dem Golfwagen und ließ den lautlosen Elektromotor auf Hochtouren laufen, um ebenfalls an den Tatort zu fahren. Der vierte stand ein paar Sekunden mit offenem Mund da, zog dann ein Handy heraus und rief die Polizei.

Der Anruf wurde in der Kommunikationszentrale hinter dem Polizeirevier an der Princess Anne Road entgegengenommen. Der diensthabende Telefonist notierte die groben Details und alarmierte das Revier auf der anderen Seite des Geländes und den medizinischen Rettungsdienst. An beiden Stellen saßen erfahrene Leute aus der Gegend, die keine Wegbeschreibung zum Queen Anne Golf Club brauchten.

Ein Streifenwagen, der auf der 54. Street unterwegs gewesen war, erreichte den Tatort als Erster. Schon vom Linkhorn Drive aus sahen die Polizisten die zunehmende Menschenansammlung am vierten Fairway und fuhren ohne irgendwelche Umstände über den geheiligten Rasen zum Ort des Verbrechens. Detective Ray Hall vom Polizeirevier erschien zehn Minuten später und übernahm das Kommando. Die uniformierten Polizisten hatten den Tatort bereits abgesperrt, als der Krankenwagen vom drei Meilen weit entfernten Pinehurst Centre am Viking Drive eintraf.

Detective Hall hatte schon festgestellt, dass zwei Männer eindeutig tot waren. Den Senator erkannte er von den gelegentlich in der Zeitung abgedruckten Fotos und von einer Preisverleihung bei der Polizei vor einem halben Jahr.

Der junge Mann mit dem buschigen schwarzen Bart, den die vier entsetzten Golfspieler als Mörder identifiziert hatten, war ebenfalls tot. Er lag fünf Schritte weit von den Opfern entfernt und hielt die Pistole noch in der rechten Hand. Der zweite Golfspieler war anscheinend schwer verletzt. Er hatte eine Schusswunde mitten in der Brust, aber er atmete noch. Die Sanitäter machten sich an die Arbeit.

Sie hatten auf einen Blick gesehen, dass nur eine der drei Gestalten auf dem taufeuchten Rasen noch ihre Hilfe brauchte. Die beiden anderen konnten auf den Transport ins Leichenschauhaus warten. Es gab auch keinen Grund, die Zeit mit Wiederbelebungsversuchen zu verschwenden, wie man es bei Halbertrunkenen oder Gasvergifteten tat. Das hier war ein Fall von »rein und los«, wie die Sanitäter sagten.

Der Wagen war mit lebenserhaltenden Systemen ausgerüstet, und die würden sie brauchen, um den Verletzen auf der Drei-Meilen-Tour zum Virginia Beach General Hospital zu stabilisieren. Sie luden ihn ein und rasten mit heulender Sirene davon.

Die Strecke bis zur First Colonial Road legten sie in weniger als fünf Minuten zurück. So früh am Morgen war wenig Verkehr, und am Wochenende waren keine Pendler unterwegs. Die Sirene ließ die wenigen Fahrzeuge am Straßenrand halten, und der Fahrer konnte die ganze Zeit Vollgas geben.

Hinten im Wagen stabilisierten zwei Sanitäter den halb toten Mann, so gut sie konnten, während der dritte per Funk so viele Details wie möglich an die Notaufnahme durchgab, wo sich bereits ein größeres Traumateam versammelte.

Eine OP wurde vorbereitet, und die Chirurgen zogen sich an. Der Herzspezialist Alex McCrae ließ sein Frühstück in der Kantine stehen und eilte in die Notaufnahme.

Am Fairway des vierten Lochs blieb Detective Hall mit zwei Leichen, einem Auflauf von verwirrten und verschreckten Nachbarn aus Virginia Beach und einer Handvoll Rätsel zurück. Seine Partnerin Lindy Mills nahm Namen und Adressen auf. Bis jetzt hatte er zweierlei in der Hand. Alle Augenzeugen beharrten entschieden darauf, es habe nur einen Täter gegeben, der sich unmittelbar nach dem Doppelmord selbst erschossen habe. Offensichtlich gab es keinen Anlass, nach einem Komplizen zu fahnden. Im Gebüsch weiter oben am Fairway war ein einsitziger Motorroller gefunden worden.

Das zweite »Plus« bestand darin, dass die Zeugen allesamt vernünftige Erwachsene waren, nüchterne Leute, deren Aussagen wahrscheinlich brauchbar und verlässlich sein würden. Doch dann fingen die Rätsel an, und die erste Frage war: Was, zum Teufel, war hier passiert, und warum war es passiert?

Was immer es sein mochte, nichts Vergleichbares war in diesem stillen, ruhigen, gesetzestreuen Virginia Beach je passiert. Wer war der Mörder und wer der Mann, der jetzt um sein Leben kämpfte?

Detective Hall nahm sich die zweite Frage zuerst vor. Wer immer der Verletzte war, er würde vermutlich irgendwo wohnen, er würde Frau und Kinder haben, die auf ihn warteten, oder anderswo vielleicht irgendwelche Verwandte. Angesichts der Brustverletzung, die Hall gesehen hatte, würden diese Verwandten bis zum Abend wahrscheinlich dringend gebraucht werden.

Niemand außerhalb der Flatterbandabsperrung schien zu wissen, wer der Golfpartner des Senators gewesen war. Wenn seine Brieftasche nicht im Klubhaus war, hatte der Rettungswagen sie abtransportiert. Ray Hall überließ es Lindy Mills und den beiden Uniformierten, routinemäßig die Personalien aufzunehmen, und er selbst ließ sich von einem Golfwagen zum Klubhaus fahren. Dort löste der graugesichtige Manager eines von Halls Problemen. Der Partner des toten Senators war ein pensionierter General. Er war Witwer und lebte ein paar Meilen weit von hier allein in einer abgesicherten Pensionärssiedlung. Sekunden später hatte Hall die Adresse aus dem Mitgliederverzeichnis.

Er rief Lindy auf dem Handy an. Der eine Uniformierte solle bei ihr bleiben, der andere solle mit dem Streifenwagen zu ihm kommen.

Unterwegs sprach Detective Hall über den Polizeifunk mit seinem Captain. Das Revier würde sich um die Journalisten kümmern, die schon da waren und tausend Fragen stellten, auf die niemand eine Antwort hatte. Das Revier würde auch die elende Aufgabe übernehmen, die Frau des ermordeten Senators zu informieren, bevor sie es aus dem Radio erfuhr.

Er erfuhr, dass ein zweiter, einfacher ausgerüsteter Rettungswagen zum Golfplatz unterwegs war, der die beiden Toten ins Leichenschauhaus bringen würde, wo der Rechtsmediziner sich schon vorbereitete.

»Behandeln Sie den Killer bitte mit Vorrang, Captain«, sagte Hall in sein Mikrofon. »Was er da anhat, sieht aus wie die Kleidung eines muslimischen Fundamentalisten. Er hat allein gearbeitet, aber vielleicht waren noch welche im Hintergrund. Wir müssen wissen, was er war – ein Einzeltäter oder Mitglied einer Gruppe.«

Während er zum Haus des Generals fuhr, sollte man die Fingerabdrücke des Mörders nehmen und durch das AFIS – das Automatische Fingerabdruck-Identifizierungssystem – laufen lassen, und die staatliche Kraftfahrzeugzulassungsbehörde von Virginia sollte den Motorroller überprüfen. Ja, es sei Wochenende, man werde Leute anrufen und zum Dienst beordern müssen. Er trennte die Verbindung.

In der umzäunten Wohnsiedlung, deren Adresse in den Golfklubunterlagen verzeichnet war, hatte noch niemand etwas von den Ereignissen auf dem Fairway des vierten Lochs – alias Bald Cypress – gehört. Ungefähr vierzig Pensionärsbungalows standen auf einem Gelände mit Rasenflächen, Bäumen und einem kleinen See in der Mitte.

Der Siedlungsmanager hatte spät gefrühstückt und wollte gerade seinen Rasen mähen. Er wurde weiß wie ein Laken, ließ sich schwer auf einen Gartenstuhl fallen und murmelte ein halbes Dutzend Mal: »O mein Gott.« Schließlich nahm er einen Schlüssel von einem Brett in seiner Diele und führte Detective Hall zum Bungalow des Generals.

Sauber und ordentlich stand er auf tausend Quadratmetern kurz gemähtem Rasen mit ein paar blühenden Büschen in Tontöpfen – geschmackvoll, aber nicht allzu arbeitsintensiv. Drinnen war alles tipptopp aufgeräumt. Es sah aus wie die Behausung eines Mannes, der an Ordnung und Disziplin gewöhnt ist. Hall machte sich an die scheußliche Aufgabe, in den privaten Dingen eines anderen Menschen herumzuwühlen. Der Manager half ihm, so gut er konnte.

Der General des Marine Corps war ungefähr fünf Jahre zuvor in die Siedlung gekommen, nachdem er seine Frau durch eine Krebserkrankung verloren hatte. Verwandte?, fragte Hall. Er durchsuchte den Schreibtisch nach Briefen, Versicherungspolicen, irgendetwas, das auf Verwandte hingewiesen hätte. Aber anscheinend gehörte der General zu denen, die ihre privaten Unterlagen zum größten Teil bei einem Anwalt oder bei ihrer Bank aufbewahrten. Der Manager rief den besten Freund des Generals in der Nachbarschaft an, einen pensionierten Architekten, der mit seiner Frau hier wohnte und den General oft zu einem hausgemachten Essen einlud.

Der Architekt nahm den Anruf entgegen und hörte erschrocken und entsetzt zu. Er wollte sofort zum Krankenhaus fahren, aber Detective Hall übernahm das Telefon und überredete ihn, es nicht zu tun, denn ein Krankenbesuch komme zurzeit sicher nicht infrage. Ob er von irgendwelchen Verwandten wisse? Es gebe zwei Töchter irgendwo im Westen, antwortete der Architekt, und einen Sohn, der Offizier beim Marine Corps sei, ein Lieutenant Colonel, doch er habe keine Ahnung, wo der stationiert sei.

Auf dem Revier traf Hall wieder mit Lindy Mills zusammen. Auch sein eigener unmarkierter Wagen war dort. Und es gab Neuigkeiten. Der Motorroller war identifiziert. Er gehörte einem zweiundzwanzigjährigen Studenten, dessen Name eindeutig arabisch klang. Er war ein amerikanischer Staatsbürger aus Dearborn, Mississippi, studierte zurzeit jedoch fünfzehn Meilen weit südlich von Norfolk an einer technischen Hochschule. Die Zulassungsbehörde hatte ein Foto geschickt.

Darauf trug er keinen buschigen schwarzen Bart, und das Gesicht war intakt – nicht ganz so, wie Ray Hall es auf dem Golfplatzrasen gesehen hatte. Das Gesicht dort hatte zu einem Schädel ohne Hinterkopf gehört und war durch den Druck des berstenden Projektils verzerrt gewesen. Aber es war zu erkennen.

Er meldete ein Telefongespräch mit dem Hauptquartier des U. S. Marine Corps neben dem Arlington-Friedhof an, Washington, D. C., gegenüber auf der anderen Seite des Potomac. Er bestand darauf, in der Leitung zu bleiben, bis er mit einem Major der Öffentlichkeitsabteilung verbunden wurde. Dem erklärte er, wer er war und von wo er anrief, und berichtete kurz, was fünf Stunden zuvor auf dem Princess-Anne-Golfplatz passiert war.

»Nein«, sagte er. »Ich werde nicht bis nach dem Wochenende warten. Es ist mir egal, wo er ist. Ich muss jetzt mit ihm sprechen, Major, jetzt sofort. Wenn sein Vater morgen früh die Sonne aufgehen sieht, ist das ein Wunder.«

Nach einer langen Pause sagte die Stimme schließlich: »Bleiben Sie am Apparat, Detective. Ich oder jemand anders meldet sich gleich wieder.«

Es dauerte fünf Minuten, und es war eine andere Stimme, wieder ein Major, aber jetzt von der Personalabteilung. »Der Offizier, mit dem Sie sprechen wollen, ist nicht zu erreichen«, sagte er.

Hall wurde wütend. »Wenn er sich nicht im Weltraum oder auf dem Grund des Marianengrabens befindet, ist er zu erreichen. Das wissen wir beide. Sie haben meine private Handynummer. Geben Sie sie ihm, und sagen Sie ihm, er soll mich anrufen, und zwar schnell.« Damit legte er auf. Nun lag die Sache bei den Marines.

Er nahm Lindy mit, verließ das Revier und fuhr zum Krankenhaus. Unterwegs besorgte er sich einen Energy-Riegel und einen Softdrink zum Lunch. Gesunde Ernährung sah anders aus. Am First Colonial bog er in eine Nebenstraße namens Will o’ the Wisp Drive ein und fuhr nach hinten zur Rettungswagenzufahrt. Seine erste Station war das Leichenschauhaus, wo der Rechtsmediziner eben seine Arbeit beendete.

Auf den fahrbaren Stahltischen lagen zwei Leichen unter den Laken. Ein Assistent war dabei, sie in den Kühlraum zu bringen. Der Mediziner hielt ihn auf und schlug das eine Laken zurück. Detective Hall starrte auf das Gesicht hinunter. Es war jetzt narbig und verzerrt, aber es war immer noch der junge Mann von dem Foto der Zulassungsbehörde. Der buschige schwarze Bart ragte in die Höhe, die Augen waren geschlossen.

»Wissen Sie schon, wer er ist?«, fragte der Mediziner.

»Yep.«

»Na, da wissen Sie mehr als ich. Aber vielleicht kann ich Sie trotzdem noch überraschen.«

Er zog das Laken bis zu den Füßen herunter.

»Fällt Ihnen was auf?«

Ray Hall schaute lange und aufmerksam hin.

»Er hat keine Körperbehaarung. Nur den Bart.«

Der Arzt zog das Laken wieder hoch und nickte dem Assistenten zu, damit der den Tisch mit seiner Fracht in den Kühlraum schob.

»Mit eigenen Augen habe ich es noch nie gesehen, wohl aber im Film. Vor zwei Jahren, in einem Seminar über islamischen Fundamentalismus. Ein Zeichen der rituellen Reinigung, die Vorbereitung zum Übergang in Allahs Paradies.«

»Ein Selbstmordattentäter?«

»Ein Selbstmordkiller«, sagte der Mediziner. »Vernichte einen wichtigen Staatsbürger des Großen Teufels, und die Pforten der ewigen Glückseligkeit öffnen sich dem Diener, der als schahid hindurchgeht, als Märtyrer. In den Staaten erleben wir es nicht oft, doch im Mittleren Osten, in Pakistan und Afghanistan, ist es sehr verbreitet. Darüber gab es einen Vortrag auf dem Seminar.«

»Aber er ist hier geboren und aufgewachsen«, sagte Detective Hall.

»Na, dann hat ihn jemand gründlich indoktriniert«, sagte der Arzt. »Übrigens haben Ihre Kriminaltechniker seine Fingerabdrücke schon abgeholt. Ansonsten hatte er nichts bei sich. Nur die Waffe, und die ist bereits in der Ballistik, glaube ich.«

Detective Halls nächste Station lag im Obergeschoss. Dr. Alex McCrae saß in seinem Büro bei einem sehr späten Lunch. Er aß ein Thunfischsandwich aus der Kantine.

»Was wollen Sie wissen, Detective?«

»Alles«, sagte Hall. Der Chirurg gab ihm einen vollständigen Bericht.

Als der schwer verletzte General in die Notaufnahme gebracht worden war, hatte Dr. McCrae sofort eine intravenöse Infusion anlegen lassen. Dann hatte er die Vitalzeichen kontrolliert: Sauerstoffsättigung, Puls und Blutdruck.

Sein Anästhesist hatte einen guten Zugang durch die Halsvene gefunden. Durch eine große Kanüle hatte er eine Salzlösung gegeben, unmittelbar gefolgt von zwei Einheiten Blut der Gruppe 0, Rhesus negativ, zur provisorischen Schadensbegrenzung. Schließlich schickte er eine Blutprobe des Patienten zur Bestimmung ins Labor.

Als der Patient vorläufig stabilisiert war, musste Dr. McCrae als Erstes herausfinden, was in seiner Brust los war. Offensichtlich steckte dort eine Kugel fest, denn das Einschussloch war deutlich zu erkennen, aber es gab keine Austrittswunde.

Er überlegte, ob er eine Röntgenaufnahme oder einen CT-Scan machen solle, zog es jedoch vor, den Patienten nicht vom Wagen zu heben, und begnügte sich mit einer Röntgenaufnahme. Er schob die Platte unter den bewusstlosen Körper und machte die Aufnahme von oben.

Dabei zeigte sich, dass der General einen Lungenschuss davongetragen hatte. Die Kugel saß dicht neben dem Hilum, der Lungenwurzel. Damit hatte Dr. McCrae drei riskante Möglichkeiten. Die erste war der operative Einsatz eines kardiopulmonären Bypasses, aber damit würde er die Lunge wahrscheinlich noch weiter schädigen.

Die zweite Möglichkeit bestand in einer sofortigen invasiven Operation zur Entfernung der Kugel. Das wäre ebenfalls hochriskant, weil das volle Ausmaß der Verletzung noch nicht klar war, sodass auch hier ein tödlicher Ausgang möglich war.

Er entschied sich, auf die dritte Möglichkeit zu setzen und vierundzwanzig Stunden gar nichts zu unternehmen. Zwar hatten die Wiederbelebungsversuche die Kräfte des alten Herrn stark beansprucht, aber vielleicht würde er sich auch ohne weitere Wiederbelebungs- und Stabilisierungsanstrengungen weiter erholen, sodass bei der invasiven Operation bessere Überlebenschancen bestünden.

Also wurde der General auf die Intensivstation verlegt, und als der Detective mit dem Chirurgen sprach, lag der alte Herr dort bereits unter einem Girlandengewirr von Schläuchen. Einer kam aus dem zentralen Venenkatheter an der einen Seite des Halses, einer aus der Kanüle an der anderen. Der Schlauch der Nasensonde sorgte für gleichmäßige Sauerstoffzufuhr. Blutdruck und Puls wurden auf einem Monitor neben dem Bett dargestellt, und die Herzfunktionen waren auf einen Blick ablesbar. Eine Thoraxdrainage lag zwischen der fünften und der sechsten Rippe unter der linken Achsel. Sie fing die ständig aus der punktierten Lunge entweichende Luft ab und leitete sie in einen zu einem Drittel mit Wasser gefüllten Glasbehälter auf dem Boden. Die ausdringende Luft verließ den Brustraum unter Wasser und stieg in Blasen an die Oberfläche, konnte dann aber nicht in die Pleuraspalte zurückkehren. Wenn sie es täte, würde die Lunge kollabieren, und der Patient würde sterben. Einstweilen atmete er weiter den Sauerstoff aus der Sonde in den Nasenlöchern.

Als Detective Hall erfuhr, dass nicht die geringste Chance bestand, in den nächsten Tagen mit dem General zu sprechen, ging er wieder. Auf dem Parkplatz an der Rettungswagenzufahrt bat er Lindy zu fahren. Er musste telefonieren.

Sein erster Anruf ging ans Willoughby College, wo der Mörder, Mohammed Barre, studiert hatte. Hall wurde mit der Zulassungsdekanin verbunden. Er bat sie zu bestätigen, dass Mr. Barre Student am Willoughby gewesen war, und sie gab diese Auskunft ohne Zögern. Als er ihr erzählte, was auf dem Princess-Anne-Golfplatz passiert war, schwieg sie entsetzt.

Die Identität des Mörders war noch nicht an die Medien gegeben worden. In zwanzig Minuten werde er im College sein, sagte Hall. Die Dekanin solle dafür sorgen, dass ihm sämtliche Akten zur Verfügung stünden und er Zugang zu den Privatquartieren der Studenten habe. Einstweilen dürfe sie niemanden informieren, auch nicht die Eltern des Studenten in Michigan.

Sein zweiter Anruf ging ans Fingerabdrucklabor. Jawohl, sie hätten einen perfekten Zehnersatz Abdrücke aus dem Leichenschauhaus erhalten und vom AFIS überprüfen lassen – ergebnislos: Der tote Student war nicht im System.

Wenn er ein Ausländer gewesen wäre, hätte die Einwanderungsbehörde Unterlagen über seinen Visumsantrag gehabt. Allmählich war klar, dass Mr. Barre amerikanischer Staatsbürger und Sohn eingewanderter Eltern gewesen war. Aber woher kamen sie? War er ein geborener Muslim gewesen oder ein Konvertit, der seinen Namen geändert hatte?

Als Drittes rief Hall in der Ballistik an. Die Pistole war eine Glock 17 Automatik, ein Schweizer Produkt. Das Magazin war voll gewesen, und fünf Patronen waren abgefeuert worden. Sie versuchten gerade, den registrierten Eigentümer aufzuspüren, dessen Name nicht Barre war und der in der Nähe von Baltimore in Maryland wohnte. Gestohlen? Gekauft? Der Wagen hielt vor dem College.

Der tote Student war von somalischer Abstammung. Seine Bekannten in Willoughby gaben an, vor ungefähr sechs Monaten habe sich seine Persönlichkeit verändert, und aus einem normalen, geselligen, intelligenten Studenten sei ein schweigsamer, verschlossener Einzelgänger geworden. Der Hauptgrund dafür scheine religiöser Natur gewesen zu sein. Auf dem Campus gab es zwei andere muslimische Studenten, doch sie hatten keine derartige Wandlung durchgemacht.

Der Tote hatte angefangen, Jeans und Windjacken gegen lange Gewänder auszutauschen. Er hatte fünfmal am Tag Unterrichtspausen für seine Gebete verlangt, die man ihm ohne Weiteres gewährt hatte. Religiöse Toleranz hatte stets Vorrang. Und er hatte sich einen buschigen schwarzen Bart wachsen lassen.

Zum zweiten Mal an diesem Tag war Ray Hall dabei, die privaten Dinge eines anderen Menschen zu durchwühlen, aber es gab einen fundamentalen Unterschied. Von den ingenieurwissenschaftlichen Lehrbüchern abgesehen fand er nur islamische Texte in arabischer Sprache. Detective Hall konnte kein Wort davon lesen, doch er sammelte alles ein. Entscheidend war der Computer. Bei dem wusste Ray Hall wenigstens, was er zu tun hatte.

Er fand Predigt über Predigt, nicht in arabischer Sprache, sondern in fließendem, eindringlichem Englisch. Ein maskiertes Gesicht, zwei glühende Augen, die Aufforderung zur vollständigen Unterwerfung vor Allah, zur vorbehaltlosen Bereitschaft, Ihm zu dienen, für Ihn zu kämpfen, für Ihn zu sterben. Vor allem aber, für Ihn zu töten.

Detective Hall hatte noch nie vom Prediger gehört, klappte den Computer zu und beschlagnahmte ihn. Er quittierte alles, was er mitnahm, und bevor er das College verließ, gab er die Erlaubnis, die Eltern zu informieren. Man solle ihn aber anrufen, falls sie vorhätten herzukommen und die Sachen ihres Sohnes abzuholen. Unterdessen würde er persönlich die Polizei von Dearborn in Kenntnis setzen. Mit zwei Müllsäcken voller Bücher und Texte und dem Laptop fuhr er zurück zum Revier.

Auf dem Computer fand sich noch Weiteres. Unter anderem war auf Craiglist nach jemandem gesucht worden, der eine Pistole verkaufte. Offensichtlich waren nicht alle Papiere vorgelegt worden, was dem Verkäufer eine schwerwiegende Anklage einbringen würde. Doch das würde später kommen.

Um acht Uhr abends klingelte Halls Handy. Der Mann, der sich meldete, war der Sohn des verletzten Generals. Er sagte nicht, wo er war, sondern nur, dass er die Nachricht erhalten habe und per Hubschrauber unterwegs sei.

Inzwischen war es dunkel geworden. Hinter dem Revier gab es einen freien Platz, aber kein Flutlicht.

»Wo ist der nächste Marinestützpunkt?«, fragte die Telefonstimme.

»In Oceania«, sagte Hall. »Kriegen Sie denn da eine Landeerlaubnis?«

»Die kriege ich«, sagte die Stimme. »Bin in einer Stunde da.«

»Ich hole Sie ab.« Die erste halbe Stunde verbrachte Hall damit, die Polizeiakten landesweit nach ähnlichen Anschlägen in letzter Zeit zu durchsuchen. Zu seiner Überraschung fand er vier. Der Mord auf dem Golfplatz war Fall Nummer fünf. In zwei der vier vorherigen Fälle hatten die Mörder unverzüglich Selbstmord begangen. Die beiden anderen waren lebend gefasst worden und würden jetzt wegen Mordes vor Gericht gestellt werden. Alle hatten allein gearbeitet. Alle waren durch Online-predigten zum Ultraextremismus bekehrt worden.

Um neun holte er den Sohn des Generals in Oceania ab und fuhr ihn zum Virginia Beach General Hospital. Unterwegs berichtete er, was seit halb acht an diesem Morgen geschehen war.

Sein Gast befragte ihn eingehend nach dem, was er in Mohammed Barres Wohnheimzimmer gefunden habe. Dann murmelte er: »Der Prediger.« Detective Hall nahm an, er meine einen Beruf, nicht einen Codenamen.

»Vermutlich«, sagte er. Schweigend hielten sie vor dem Haupteingang des Krankenhauses.

Der Empfang informierte jemanden darüber, der Sohn des Patienten auf der Intensivstation sei eingetroffen, und Alex McCrae kam aus seinem Büro herunter. Auf der Fahrt hinauf zur Intensivstation beschrieb er die Schwere der Verletzung, die eine Operation ausgeschlossen habe.

»Ich kann Ihnen nur wenig Hoffnung machen«, sagte er. »Es steht auf Messers Schneide.«

Der Sohn betrat das Zimmer, zog sich einen Stuhl heran und betrachtete im matten Licht das zerfurchte alte Gesicht, das, in sich verschlossen, nur von Apparaten am Leben erhalten wurde. Die ganze Nacht saß er so da und hielt die Hände des Bewusstlosen.

Kurz vor vier Uhr früh öffneten sich die Augen, und der Herzschlag beschleunigte sich. Was der Sohn nicht sah, war der Glasbehälter auf dem Boden neben dem Bett, der sich schnell mit hellrotem Arterialblut füllte. Irgendwo tief im Brustraum war ein größeres Gefäß geplatzt. Der General verblutete so schnell, dass Rettung nicht mehr möglich war.

Der Sohn spürte den kaum merklichen Druck der Hände, die er hielt. Sein Vater starrte an die Decke, und seine Lippen bewegten sich.

»Semper fi, mein Junge«, murmelte er.

»Semper fi, Dad«, erwiderte der Sohn den lateinischen Wahlspruch des U. S. Marine Corps: Immer treu.

Die steilen Spitzen der Anzeige auf dem Monitor verwandelten sich in eine waagerechte Linie. Der rhythmische Piepton wurde zu einer schrillen Alarmsirene. Ein Notfallteam erschien in der Tür. Alex McCrae war dabei. Er stürmte am Sohn des Generals vorbei und warf einen Blick auf den Glasbehälter am Bett. Dann hob er die Hand, hielt das Notfallteam zurück und schüttelte müde den Kopf. Das Team zog sich zurück.

Nach einigen Augenblicken stand der Sohn auf und ging hinaus. Er nickte dem Chirurgen nur wortlos zu. Auf der Intensivstation zog eine Schwester ein Laken über das Gesicht des Verstorbenen. Der Sohn ging zu Fuß die vier Treppen zum Parkplatz hinunter.

Detective Hall saß zwanzig Schritte weit entfernt in seinem Wagen. Er spürte etwas und erwachte aus einem leichten Schlaf. Der Sohn des Generals kam über den Parkplatz, blieb stehen und schaute hoch. Bis zum Morgengrauen waren es noch zwei Stunden. Der Himmel war schwarz, denn der Mond war untergegangen. Hoch oben glitzerten die Sterne, hart, hell, ewig.

Dieselben Sterne würden in diesem Augenblick unsichtbar im hellblauen Himmel auf einen anderen Mann hinunterschauen, in einer Wildnis aus Sand, wo niemand ihn sah.

Der Mann auf dem Parkplatz blickte zu den Sternen hinauf und sagte etwas, das der Detective aus Virginia nicht verstand. Was der Spürhund sagte, war: »Soeben hast du es zu einer sehr persönlichen Sache gemacht, Prediger.«