ELF
Am Morgen seiner Märtyrerschaft stand Tarik »Terry« Hussein lange vor Tagesanbruch auf. Hinter geschlossenen Vorhängen reinigte er seinen Körper nach den alten Ritualen, setzte sich vor das Laken, das er an die Schlafzimmerwand gehängt und mit passenden Koranversen beschrieben hatte, schaltete seinen Camcorder ein und zeichnete seine letzten Worte an die Welt auf. Dann loggte er sich in den Dschihad-Kanal ein und sendete seine Botschaft in die Welt hinaus. Wenn die Behörden sie zur Kenntnis nähmen, wäre es zu spät.
Er fuhr durch einen wunderschönen Sommersonnenaufgang und mischte sich unter die ersten Pendler des Morgens. Einige kamen aus Maryland nach Virginia, andere fuhren in die entgegengesetzte Richtung, und viele wollten in den District of Columbia. Er hatte es nicht eilig. Ihm kam es auf den richtigen Zeitpunkt an.
Auf der rechten Spur einer Hauptstraße des Berufsverkehrs würde er nicht lange anhalten können. Käme er zu früh, würden die Autofahrer, die sich hinter ihm stauten, anfangen zu hupen und damit Aufmerksamkeit erregen. Einer der am Himmel kreisenden Hubschrauber der Verkehrsüberwachung könnte leicht einen Wagen der State Police herbeirufen. Der würde Mühe haben, durch den Stau zu kommen, aber irgendwann würde er aufkreuzen, und zwar mit zwei bewaffneten Polizisten. So wollte Hussein es auch, nur nicht zu früh.
Zu spät konnte bedeuten, dass die Ziele, auf die er es abgesehen hatte, schon vorübergefahren wären, und er würde nicht lange auf die nächsten warten können.
Um zehn nach sieben erreichte er die Key Bridge.
Dieses Washingtoner Wahrzeichen hat acht Bogen. Fünf spannen sich über den Potomac River, die Grenze zwischen Virginia und Georgetown. Zwei weitere auf der Washingtoner Seite überquerten den C und den O Canal und die K Street. Der achte, in Virginia, überwölbt den George Washington Memorial Parkway, eine ebenfalls stark befahrene Pendlerstrecke.
Hussein fuhr auf der U. S. Route 29 auf die Brücke zu und blieb auf der rechten Spur des sechsspurigen Highways. Als er mitten über dem GW Memorial Parkway angekommen war, hatte er seine Panne. Der Kleinwagen rollte langsam aus. Sofort kurvten die nachfolgenden Autos wütend an ihm vorbei. Er stieg aus, ging nach hinten und klappte den Kofferraum auf, nahm zwei rote Warndreiecke heraus und stellte sie auf den Asphalt.
Er öffnete die beiden Türen an der Beifahrerseite, sodass eine Art Nische zwischen Auto und Brückenbrüstung entstand. Dann langte er in den Wagen und nahm das Gewehr heraus. Es war mit vierzig Schuss in zwei vollen Wechselmagazinen geladen. Er beugte sich über die Brüstung und spähte durch das Zielfernrohr auf die Blechkolonnen, die unter ihm vorüberzogen. Wenn jemand, der von hinten herankam, sehen konnte, was der Mann zwischen den beiden offenen Türen tat, traute er entweder seinen Augen nicht oder war zu sehr damit beschäftigt, mit seinem Lenkrad zu kämpfen und über die Schulter nach hinten zu schauen, damit er beim Ausscheren nicht gerammt wurde.
Um diese Zeit, um Viertel nach sieben, ist fast jedes zehnte Fahrzeug, das unter der Brücke vorbeifährt, ein Pendlerbus. Die DC Metro betreibt mehrere; manche sind blau, andere orange. Die orangefarbenen gehören zur Linie 23C, die von der Metrostation Rossley bis hinaus nach Langley, Virginia, fährt. Die Endstation liegt vor dem Einfahrtstor des großen Gebäudekomplexes, der als CIA bekannt ist.
Der Verkehr unter der Brücke staute sich nicht, sondern floss langsam und Stoßstange an Stoßstange. Tarik Husseins Internetrecherche hatte ihm gezeigt, auf welchen Bus er warten musste. Fast hatte er die Hoffnung schon aufgegeben, als er in der Ferne das orangegelbe Dach sah. Ein Hubschrauber kreiste weit hinten über dem Fluss. Jeden Augenblick würde er das Pannenfahrzeug auf der Brücke sehen. Tarik versuchte den Bus mit der Kraft seines Willens näher heranzuholen.
Die ersten vier Kugeln durchschlugen die Frontscheibe und töteten den Fahrer. Der Bus geriet aus der Spur, prallte gegen einen Wagen neben ihm und blieb stehen. Der Mann in der Dienstuniform der Metro lag tot über dem Lenkrad. Die ersten Reaktionen setzten ein.
Der Wagen, der gestreift worden war, blieb ebenfalls stehen. Der Fahrer stieg aus und fing an, den Bus zu beschimpfen. Dann sah er den zusammengesackten Fahrer, vermutete einen Herzanfall und zog sein Handy hervor. Die Autos hinter den beiden stehen gebliebenen Fahrzeugen fingen an zu hupen. Mehrere Fahrer stiegen aus. Einer blickte hoch, sah die Gestalt an der Brüstung und schrie erschrocken auf. Der Hubschrauber drehte über Arlington und kam auf die Key Bridge zu. Hussein feuerte immer wieder durch das Dach des Busses. Nach dem zwanzigsten Schuss traf der Schlagbolzen auf eine leere Kammer. Er nahm das Magazin heraus, drehte es um und schob es wieder ein. Dann schoss er weiter.
Unter ihm war das Chaos ausgebrochen. Es hatte sich herumgesprochen, was passierte. Die Leute sprangen aus ihren Autos und duckten sich dahinter. Mindestens zwei schrien in ihre Handys.
Auf der Brücke schrien weiter hinten zwei Frauen. Das Dach des Busses 23C ging in Fetzen. Der Innenraum verwandelte sich in ein Schlachthaus voller Blut, Leichen und hysterischer Menschen. Dann war auch das zweite Magazin leer.
Nicht der Schütze im Hubschrauber beendete das Drama, sondern ein dienstfreier Streifenpolizist im zehnten Wagen hinter dem Pannenfahrzeug auf der Route 29. Er hatte sein Fenster geöffnet, um den Zigarettenrauch abziehen zu lassen, damit seine Frau später nichts davon riechen würde. Der Polizsit hörte die Schüsse und erkannte den Knall eines schweren Gewehrs. Er stieg aus, zog seine Dienstpistole aus dem Halfter und rannte los, nicht weg von den Schüssen, sondern auf sie zu.
Tarik Hussein bemerkte die Anwesenheit des Polizisten, als das Fenster der offenen Tür neben ihm zersplitterte. Er drehte sich um, sah den rennenden Mann und hob sein Gewehr. Das Magazin war leer. Der Polizist konnte davon nichts wissen. In sechs Metern Abstand blieb er stehen, ging in die Hocke, umfasste seine Pistole mit beiden Händen und feuerte das ganze Magazin in die Autotür und den Mann dahinter.
Später stellte man fest, dass der Schütze von drei Kugeln getroffen wurde. Sie genügten. Als der Polizist den Wagen erreichte, lag der Mann am Straßenrand und rang matt nach Atem. Er starb dreißig Sekunden später.
Den ganzen Tag über herrschte das Chaos auf der Route 29. Sie wurde gesperrt, und Techniker von der Spurensicherung brachten den Toten, die Waffe und schließlich das Auto weg. Aber das war nichts im Vergleich zu dem, was sich auf dem GW Memorial Parkway unter der Brücke abspielte.
Das Innere des Linienbusses Rosslyn–Langley war ein Schlachthaus. Später erfuhr die Öffentlichkeit von sieben Toten und neun lebensgefährlich Verletzten. Fünf größere Amputationen waren notwendig, und zwanzig Fleischwunden mussten versorgt werden. Im Bus hatte es einfach keine Deckung nach oben gegeben.
In Langley war die Nachricht für Tausende Mitarbeiter so schockierend wie eine Kriegserklärung, jedoch von einem Feind, der schon tot war.
Die Virginia State Police und das FBI verschwendeten keine Zeit. Der Wagen des Mörders war über die Zulassungsbehörde leicht zu identifizieren. Ein Spezialeinsatzkommando stürmte das Haus am Rand von Fairfax. Es war leer, und Kriminaltechniker in Overalls zerlegten es bis auf das Holzgerippe – und dann bis auf die Fundamente.
Innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatte sich das Netz der Befragungen über die ganze Region ausgebreitet. Anti-Terror-Experten brüteten über dem Laptop und dem Tagebuch. Die Aufzeichnung der letzten Worte lief vor schweigenden Männern und Frauen im Hoover Building des FBI, und Kopien gingen an die CIA.
Nicht alle, die in dem attackierten Bus gesessen hatten, arbeiteten bei der CIA, denn der Bus hielt auch an anderen Haltestellen. Doch die meisten hatten zur Endstation gewollt: Langley/McLean.
Vor Sonnenuntergang nahm der Direktor der CIA sein Privileg in Anspruch und ging zu einem Vieraugengespräch mit dem Präsidenten ins Oval Office. Mitarbeiter auf dem Korridor berichteten, er sei immer noch bleich vor Wut gewesen.
Es kommt zwar selten vor, dass die Spionagechefs des einen Landes etwas für ihre Gegner übrighaben, aber es kommt vor. Während des Kalten Krieges empfanden viele im Westen wider willen Hochachtung vor dem Mann, der den ostdeutschen Spionagedienst leitete. Markus »Mischa« Wolf hatte einen kleinen Etat und einen großen Feind: Westdeutschland und die NATO. Er versuchte gar nicht erst, die Minister des Bonner Kabinetts umzudrehen. Er nahm die grauen Mäuse aufs Korn, die unsichtbar durch die Büros der Großen und Mächtigen huschten und ohne die kein Büro funktionieren kann: die Privatsekretärinnen, die das Vertrauen der Minister genossen.
Er durchforschte ihr tristes, jüngferliches und oft einsames Leben und schickte ihnen junge, gut aussehende Liebhaber. Diese Romeos machten sich langsam und geduldig an die Arbeit und brachten warme Umarmungen in frostige Leben, die Verheißung ewigen Zusammenseins an sonnigen Orten nach der Pensionierung – und das alles nur für einen kurzen Blick auf diese dummen Unterlagen, die da täglich über den Tisch des Ministers wanderten.
Und sie waren so frei, die Ingrids und die Waltrauds. Sie kopierten alle vertraulichen und geheimen Papiere, die unbeaufsichtigt zurückblieben, wenn der Minister zu seinem viergängigen Mittagessen verschwand. Irgendwann war die Bonner Regierung so sehr von Spionen durchsetzt, dass die NATO-Verbündeten nicht mehr wagten, ihr auch nur die Tageszeit zu verraten, weil sie wussten, dass diese Information binnen eines Tages nach Ostberlin und von dort nach Moskau gehen würde.
Eines Tages erschien die Polizei, der Romeo verschwand, und man sah die Büromaus, zusammengeschrumpft und tränenüberströmt, für einen kurzen Moment zwischen zwei massigen Beamten, ehe sie eine einsame kleine Wohnung gegen eine einsame kleine Gefängniszelle eintauschte.
Er war ein skrupelloser Mistkerl, dieser Mischa Wolf, aber nach dem Zusammenbruch Ostdeutschlands setzte er sich im Westen zur Ruhe und starb eines natürlichen Todes im Bett.
Vierzig Jahre später hätte der britische SIS zu gern mitbekommen, was in den Räumen der Kanzlei Chauncey Reynolds gesagt und getan wurde, doch Julian Reynolds ließ alle seine Räume regelmäßig durch ein hochkarätiges Team von Elektronikmagiern durchsuchen, von denen einige tatsächlich Staatsdiener im Ruhestand waren.
Deshalb besaß der Geheimdienst in diesem Sommer keine hoch entwickelte, in Gareth Evans’ Privatbüro installierte Technologie. Aber er hatte Emily Bulstrode. Sie sah alles, las alles und hörte alles, und niemand bemerkte sie mit ihrem Teetablett.
An dem Tag, als Harry Andersson sich schreiend auf Gareth Evans stürzte, kaufte Mrs. Bulstrode sich wie immer ein Sandwich in dem Deli an der Ecke und ging zu ihrer Lieblingstelefonzelle. Diese modernen Dinger, die die Leute in der Tasche hatten und die in jeder Besprechung losbimmelten, mochte sie nicht. Lieber suchte sie einen der wenigen übrig gebliebenen, rot lackierten Gusseisenkioske auf, wo man Münzen in einen Zähler warf. Als sie Vauxhall Cross erreicht hatte, ließ sie sich verbinden, sagte ein paar Worte und kehrte dann an ihren Schreibtisch zurück.
Nach der Arbeit ging sie zu Fuß in den St. James’s Park, setzte sich auf die vereinbarte Bank und fütterte die Enten mit ein paar Krusten, die sie von ihrem Sandwich übrig behalten hatte, und wartete auf ihren Kontakt. In den alten Zeiten, dachte sie, war ihr geliebter Charlie der Mann in Moskau gewesen, der jeden Tag in den Gorki Park ging und von dem sowjetischen Verräter Oleg Penkowski streng geheime Mikrofilme übernahm. Diese Staatsgeheimnisse gelangten auf Präsident Kennedys Schreibtisch und ermöglichten ihm, Nikita Chruschtschow zu überlisten und die verdammten Raketen im Herbst 1962 von kubanischem Boden entfernen zu lassen.
Ein junger Mann kam heran und setzte sich zu ihr. Die übliche kurze, harmlose Plauderei gab seine wahre Identität zu erkennen. Sie sah ihn an und lächelte. Ein junger Kerl, wahrscheinlich noch in der Probezeit und noch gar nicht auf der Welt, als sie im Auftrag der Firma durch den Eisernen Vorhang nach Ostdeutschland geschlüpft war.
Der junge Mann tat, als läse er den Evening Standard. Er schrieb nichts mit, denn er hatte einen laufenden, aber lautlosen Recorder in der Jackentasche. Auch Emily Bulstrode brauchte keine Notizen zu machen. Sie hatte zwei Vorzüge: ein absolut harmloses Äußeres und ein gusseisernes Gedächtnis.
Sie erzählte dem Aspiranten alles, was an diesem Morgen in der Kanzlei passiert war, Wort für Wort und in allen Einzelheiten. Dann stand sie auf und ging zum Bahnhof, um mit dem Vorortzug zu ihrem kleinen Haus in Coulsdon zu fahren. Allein saß sie auf ihrem Fensterplatz und sah zu, wie die südlichen Vororte vorüberzogen. Früher einmal hatte sie die gefürchtete Stasi überlistet. Jetzt war sie fünfundsiebzig und kochte Kaffee für ein paar Anwälte.
Der junge Mann kehrte in der Abenddämmerung zurück nach Vauxhall Cross und reichte seinen Bericht ein. Er bemerkte eine Markierung, die besagte, der Chief habe vereinbart, Neuigkeiten zu Somalia an die Kollegen in der US-Botschaft weiterzureichen. Er wusste zwar nicht, was ein brutaler Warlord in Garacad mit der Jagd nach dem Prediger zu tun haben sollte, aber ein Dauerbefehl ist ein Dauerbefehl. Also adressierte er eine Kopie an die CIA.
In seinem Safe House, eine halbe Meile weit von der Botschaft entfernt, war der Spürhund fast fertig mit dem Packen, als sein BlackBerry diskret vibrierte. Er sah die Nachricht an, las sie bis zum Ende, schaltete ab und dachte eine Zeit lang nach. Dann packte er wieder aus. Eine wohlwollende Gottheit hatte ihm soeben seinen Köder geliefert.
Gareth Evans verlangte am nächsten Morgen eine Besprechung mit Mr. Ali Abdi. Als der Somalier sich meldete, klang er bedrückt.
»Mr. Abdi, mein Freund, ich habe Sie immer für einen zivilisierten Mann gehalten«, begann Gareth.
»Das bin ich auch, Mr. Gareth, das bin ich«, antwortete der Unterhändler in Garacad. Evans hörte die Anspannung in seiner Stimme. Die Bestürzung war vermutlich echt. Aber natürlich konnte man nie hundertprozentig sicher sein. Abdi und al-Afrit gehörten schließlich zum selben Stamm, den Habar Gidir, denn sonst hätte man ihm den Posten des Unterhändlers niemals anvertraut.
Evans erinnerte sich an den Ratschlag, den er vor Jahren bekommen hatte, als er bei der Zollbehörde gearbeitet hatte und am Horn von Afrika stationiert war. Sein Mentor war ein alter, pergamenthäutiger Koloniallallah gewesen, die Augen gelb von Malaria. Die Somalis, hatte Evans erfahren, hatten sechs Prioritäten, die sich niemals änderten.
Zuoberst stand das Ich. Dann kam die Familie, dann der Clan, dann der Stamm. Unten stand der Staat, und schließlich kam die Religion. Aber auf die beiden Letzten beriefen sie sich nur im Kampf gegen die Ausländer. Sich selbst überlassen, kämpften sie einfach gegeneinander und wechselten ständig Bündnisse und Loyalitäten, je nachdem, was sie als ihren Vorteil wahrnahmen, oder um sich für eine eingebildete Kränkung zu rächen.
Das Letzte, was er dem jungen Gareth Evans verraten hatte, bevor er sich das Hirn aus dem Schädel pustete, als der Colonial Service ihn ins regnerische England zurückversetzen wollte, war dies: »Man kann die Loyalität eines Somali nicht kaufen. Doch meistens kann man sie mieten.«
An diesem Spätsommermorgen in Mayfair hatte Gareth Evans einen Gedanken im Hinterkopf, nämlich die Frage, ob Ali Abdis Loyalität gegen seinen Stammesgenossen stärker war als die Loyalität gegen sich selbst.
»Was da mit einem Gefangenen Ihres Auftraggebers passiert ist, war schändlich und inakzeptabel. Das könnte unsere gesamte Verhandlung entgleisen lassen. Und ich muss sagen, bis dahin war ich froh, dass diese Sache zwischen uns beiden verhandelt wird, weil ich dachte, wir wären beide ehrenhafte Männer.«
»Aber das denke ich auch, Mr. Gareth.«
Evans wusste nicht, wie abhörsicher die Verbindung war. Dabei dachte er nicht an Fort Meade oder Cheltenham – er wusste, die Frage war überflüssig –, sondern an Gehilfen des Warlords, die gut genug Englisch konnten. Dennoch musste er darauf setzen, dass Abdi ein bestimmtes Wort genau verstand.
»Sehen Sie, mein Freund, ich glaube, wir haben vielleicht den Augenblick für Thuraya erreicht.«
Lange blieb es still. Evans setzte darauf, dass ein weniger gebildeter Somali, der hier lauschte, nicht wissen würde, wovon er sprach, wohl aber Abdi.
Schließlich ließ Abdi sich wieder hören.
»Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen, Mr. Gareth.«
Das Thuraya-Telefon kommuniziert über Satelliten. Vier Mobilfunkgesellschaften beherrschen das Telefongeschäft in Somalia: Nation Link, Hormud, Semafone und France Telecom. Sie alle haben Funkmasten. Thuraya benötigt nur die amerikanischen Satelliten, die langsam im All kreisen.
Evans wollte Abdi mitteilen, er solle, falls er ein Thuraya-Telefon habe oder bekommen könne, damit allein in die Wüste fahren, sich hinter einem Felsen verstecken und ihn anrufen, damit sie völlig unbelauscht miteinander reden könnten. Die Antwort deutete an, Abdi habe verstanden und werde es versuchen.
Die beiden Unterhändler konferierten noch zwanzig Minuten, das Lösegeld reduzierte sich auf achtzehn Millionen Dollar, und jeder versprach, sich mit seinem jeweiligen Auftraggeber zu beraten und sich dann wieder zu melden.
Der Lunch ging auf Kosten der amerikanischen Regierung, darauf hatte der Spürhund bestanden. Aber sein SIS-Kontakt Adrian Herbert hatte das Restaurant gebucht. Er hatte sich für das Shepherd’s in der Marsham Street entschieden und eine Nische verlangt, in der sie ungestört sein würden.
Das Essen verlief liebenswürdig und freundlich, doch beiden Männern war klar, dass der Sinn des Ganzen bei Kaffee und Pfefferminz zur Sprache kommen würde. Als der Amerikaner sein Anliegen vorbrachte, stellte Herbert überrascht seine Tasse ab.
»Was meinen Sie mit ›hochnehmen‹?«
»›Hochnehmen‹ wie ›aufgreifen‹, ›kassieren‹, ›schnappen‹.«
»Sie meinen ›kidnappen‹. Von der Straße weg, in London? Ohne Haftbefehl, ohne Anklage?«
»Er unterstützt einen bekannten Terroristen, der zu vier Morden in Ihrem Land angestiftet hat, Adrian.«
»Ja, aber eine gewaltsame Freiheitsberaubung würde verheerende Wirkung haben, wenn sie je bekannt würde. Wir würden eine Autorisierung dazu brauchen, und die müsste die Unterschrift der Innenministerin tragen. Sie würde Juristen befragen. Die würden eine formelle Anklage verlangen.«
»Sie waren uns schon öfter mit außerordentlichen Überstellungen behilflich, Adrian.«
»Ja, doch das war in Gegenden, die sowieso schon völlig gesetzlos waren. Knightsbridge ist nicht Karatschi, wissen Sie. Dardari ist nach außen hin ein achtbarer Geschäftsmann.«
»Sie und ich wissen, dass das nicht stimmt.«
»Ja, das wissen wir. Aber nur, weil wir in sein Haus eingebrochen sind, Wanzen angebracht und seinen Computer durchsucht haben. Das würde wundervoll aussehen, wenn es vor Gericht herauskäme. Bedaure, Spürhund. Wir helfen gern, doch hier ist eine Grenze für uns erreicht.«
Er überlegte kurz und starrte zur Decke.
»Nein, es geht einfach nicht, alter Junge. Wir müssten wie Trojaner arbeiten, um für so etwas die Erlaubnis zu bekommen.«
Sie zahlten und gingen in verschiedene Richtungen auseinander. Adrian Herbert musste zurück in sein Büro in Vauxhall. Der Spürhund winkte sich ein Taxi heran. Auf dem Rücksitz grübelte er über den letzten Satz nach.
Was um alles in der Welt hatte diese Anspielung auf die antike Sage mit der Sache zu tun? Als er in seinem Haus war, befragte er das Internet. Es dauerte ein Weilchen, aber da war es: Trojan Horse Outcomes, ein kleines Nischenunternehmen der Sicherheitsbranche am Rande von Hamworthy in Dorset.
Das lag, wie er wusste, auf dem Territorium der Royal Marines. Sie hatten ihren großen Stützpunkt im nahe gelegenen Poole, und oft lassen sich Männer, die ihr Arbeitsleben bei den Special Forces verbracht haben, nach der Pensionierung in der Nähe ihrer alten Basis nieder. Nicht selten trommelten sie dann ein paar Kameraden zusammen und gründeten eine private Sicherheitsfirma mit dem üblichen Angebot: Personen- und Objektschutz und Beschattungen. Wenn das Betriebskapital knapp war, arbeiteten sie von zu Hause aus. Weitere Recherchen ergaben, dass Trojan Horse Outcomes seinen Sitz in einem Wohnviertel hatte.
Der Spürhund rief die angegebene Nummer an und vereinbarte einen Termin für den nächsten Vormittag. Dann rief er eine Autovermietung in Mayfair an und reservierte einen VW Golf, den er drei Stunden vorher abholen würde. Er gab sich als amerikanischen Touristen namens Jackson aus. Er habe einen gültigen US-Führerschein und brauche den Wagen für einen Tag, um einen Freund an der Südküste zu besuchen.
Als er aufgelegt hatte, vibrierte sein BlackBerry. Eine abfangsichere SMS von TOSA, und als Absender war Gray Fox angegeben. Allerdings ging nicht daraus hervor, dass der Vier-Sterne-General, der J-SOC befehligte, soeben das Oval Office mit neuen Befehlen verlassen hatte.
Gray Fox hatte keine Zeit verschwendet. Für seine Nachricht brauchte er nur vier Worte. Sie lauteten: »Der Prediger. Keine Gefangenen.«