ZWEI
Die Schlacht von Schah-i-Kot fing schlecht an und ging dann den Bach hinunter. Major Kit Carson von den U. S. Marines, abgeordnet zur Special Activities Division, hätte auf dem Heimweg sein sollen, als seine Einheit zu Hilfe gerufen wurde.
Er war bereits in Masar-e-Scharif gewesen, wo gefangene Taliban einen Aufstand unternommen und die Usbeken und Tadschiken der Nordallianz sie niedergemäht hatten. Er hatte mit angesehen, wie sein SAD-Kamerad Johnny »Mike« Spann von Taliban gefasst und totgeschlagen wurde. Von der anderen Seite der riesigen Anlage aus hatte er beobachtet, wie die Briten vom Special Boat Service Spanns Partner Dave Tyson vor einem ähnlichen Schicksal gerettet hatten.
Dann kam der Sturm nach Süden. Der alte sowjetische Luftwaffenstützpunkt in Bagram war überrannt, Kabul eingenommen worden. Carson hatte die Kämpfe im Tora-Bora-Massiv versäumt, wo der afghanische Warlord, bezahlt von den Amerikanern, jedoch nicht hoch genug, sie verraten hatte, sodass Osama bin Laden und seine Garde über die Grenze nach Pakistan hatten entkommen können.
Dann berichteten afghanische Quellen von ein paar Hartgesottenen, die sich oben in der Provinz Paktia im Tal von Schah-i-Kot festgesetzt hätten. Wieder einmal erwiesen sich diese Informationen als Müll. Es waren nicht »ein paar«, es waren Hunderte.
Die besiegten Taliban waren Afghanen, die sich in ihre Heimatdörfer zurückziehen konnten. Sie konnten einfach verschwinden. Aber die al-Qaida-Kämpfer waren Araber und Usbeken, und die wildesten waren Tschetschenen. Sie sprachen kein Paschtu, die normalen Afghanen hassten sie, und sie konnten nur kapitulieren oder im Kampf sterben. Fast alle entschieden sich für die zweite Möglichkeit.
Die amerikanische Führung reagierte auf den Hinweis mit einem Projekt im kleinen Maßstab. Es bekam den Namen »Operation Anaconda«, und die Navy SEALs sollten es durchführen. Drei mächtige Chinook-Transporthubschrauber starteten vollbeladen mit SEALs und flogen zu dem Tal, das man für leer hielt.
Der vordere Hubschrauber befand sich im Landeanflug ein paar Fuß hoch über dem Boden, die Nase erhoben, das Heck gesenkt, die Rampenluken geöffnet, als die versteckten al-Qaida-Kämpfer das Feuer eröffneten. Eine raketengetriebene Granate kam aus solcher Nähe, dass sie geradewegs durch den Rumpf flog, ohne zu explodieren. Sie war nicht lange genug in der Luft, um ihren Zünder zu aktivieren, durchschlug die eine Wand, traf niemanden und fuhr zur anderen Seite wieder hinaus. Zurück blieben nur zwei zugige Löcher.
Schaden hingegen richtete die prasselnde Salve aus dem Maschinengewehrnest zwischen den verschneiten Felsen an. Auch sie traf niemanden in der Maschine, aber sie zertrümmerte das Cockpit und zerstörte die Steuerung. Mit genialer Flugkunst zog der Pilot den sterbenden Chinook noch einmal hoch und hielt ihn drei Meilen weit in der Luft, um in sicherem Gelände eine Bruchlandung zu bewerkstelligen. Die beiden anderen folgten ihm.
Aber ein SEAL, Chief Petty Officer Neil Roberts, der sich schon losgeschnallt hatte, glitt in einer Pfütze Hydraulikflüssigkeit aus und rutschte durch die Heckluke aus der Maschine. Er landete unverletzt mitten in einem Trupp von al-Qaida-Kämpfern. SEALs lassen niemals einen Kameraden im Feld zurück, ob tot oder lebendig. Nach der Landung stürmten sie sofort zurück, um CPO Roberts zu holen. Unterwegs forderten sie Hilfe an. Die Schlacht von Schah-i-Kot hatte begonnen. Sie dauerte vier Tage, und sie kostete Neil Roberts und sechs weitere Amerikaner das Leben.
Drei Einheiten waren nah genug, um auf den Hilferuf zu reagieren. Ein Trupp des britischen Special Boat Service kam aus einer Richtung, die Einheit der SAD aus der anderen. Die größte Truppe, die auf den Hilferuf hörte, war ein Bataillon vom 75. Ranger Regiment.
Es war eiskalt, weit unter null Grad. Schneegestöber brannte in den Augen. Wie die Araber den Winter dort oben überstanden hatten, wusste niemand. Doch sie hatten es getan und waren bereit, bis zum letzten Mann zu kämpfen. Sie machten keine Gefangenen und erwarteten auch nicht, gefangen genommen zu werden. Nach späteren Augenzeugenberichten kamen sie aus Felsspalten, unsichtbaren Höhlen und verborgenen Maschinengewehrnestern.
Jeder Veteran wird bestätigen, dass eine Schlacht schnell ins Chaos abgleitet, und in Schah-i-Kot ging es schneller als in den meisten Fällen. Einzelne Einheiten wurden von der Truppe getrennt, und Individuen verloren ihre Einheit. Kit Carson fand sich unversehens allein in Eis und Schneegestöber wieder.
Er sah einen anderen Amerikaner – der Helm unter dem Turban verriet seine Identität – etwa vierzig Meter weit entfernt und ebenfalls allein. Eine Gestalt im langen Gewand kam aus dem Boden herauf und feuerte eine raketengetriebene Granate auf den getarnten Soldaten ab. Diesmal ging sie auch los. Sie traf den Amerikaner jedoch nicht, sondern explodierte vor seinen Füßen, und Carson sah ihn fallen.
Er eliminierte den Granatwerferschützen mit seinem Gewehr. Zwei weitere tauchten auf und stürmten unter »Allahu akbar«-Geschrei auf ihn los. Er schoss beide nieder, den zweiten keine zwei Meter von seiner Mündung entfernt. Der Amerikaner lebte noch, als Carson ihn erreichte, aber es ging ihm schlecht. Ein weiß glühender Splitter des Raketengehäuses hatte seinen linken Fußknöchel durchbohrt und buchstäblich abgetrennt. Der Fuß im Kampfstiefel hing nur noch mit Haut, Sehnen und ein paar Muskelfasern am Bein. Der Knochen war zertrümmert. Der Mann befand sich im ersten, schmerzfreien Schockzustand, der den Höllenqualen vorausgeht.
Die Kleidung der beiden Männer war voller Schnee, doch Carson sah ein Rangerzeichen durchschimmern. Über Funk versuchte er, Hilfe zu rufen, empfing aber nur Rauschen. Er zog dem Verwundeten den Rucksack herunter, nahm die Erste-Hilfe-Tasche heraus und jagte die komplette Dosis Morphium in die freiliegende Wade.
Der Ranger begann den Schmerz zu spüren und knirschte mit den Zähnen. Dann tat das Morphium seine Wirkung, und er sackte halb bewusstlos zusammen. Carson war klar, dass sie beide sterben würden, wenn sie hierblieben. Zwischen den Schneeböen hatte man eine Sichtweite von vielleicht zwanzig Metern. Niemand war zu sehen. Er wuchtete sich den verwundeten Ranger auf die Schultern und marschierte los.
Es war das schlimmste Gelände auf Erden: Fußballgroße glatte Steine lagen versteckt unter einem halben Meter Schnee, und jeder konnte einem das Bein brechen. Carson hatte seine eigenen achtzig Kilo zu tragen, plus seinen dreißig Kilo schweren Rucksack, plus den achtzig Kilo schweren Ranger, dessen Rucksack er immerhin zurückgelassen hatte. Dazu Gewehr, Granaten, Munition und Wasser.
Später hatte er keine Ahnung, wie weit er durch den Schnee gestapft war, um aus dem tödlichen Tal hinauszukommen. Irgendwann ließ die Wirkung des Morphiums nach, und er ließ den Mann zu Boden gleiten und spritzte ihm seine eigene Dosis. Nach einer Ewigkeit hörte er das dumpfe Knattern eines Hubschraubers. Mit gefühllosen Fingern zog er seine Signalfackel heraus, riss sie mit den Zähnen auf und hielt sie in die Höhe, in die Richtung, aus der das Geräusch kam.
Die Crew des Blackhawk-Evakuierungshubschraubers berichtete später, die Fackel habe so dicht an die Kabine herangesprüht, dass sie glaubten, beschossen zu werden. Sie schauten nach unten und sahen zwischen zwei Windböen die beiden Schneemänner unter sich, der eine zusammengesackt, der andere winkend. Bodenkontakt war zu gefährlich. Der Blackhawk schwebte einen halben Meter über dem Schnee, und zwei Corpssoldaten sprangen hinaus, schnallten den verwundeten Ranger auf eine Trage und zogen ihn hoch. Der andere kletterte mit letzter Kraft an Bord und verlor das Bewusstsein.
Der Blackhawk brachte sie nach Kandahar. Heute ist dort ein riesiger amerikanischer Luftwaffenstützpunkt. Damals war es noch eine Baustelle, aber es gab schon ein einfaches Lazarett. Der Ranger wurde zur Triage und dann auf die Intensivstation gebracht. Kit Carson nahm nicht an, dass er ihn noch einmal wiedersehen würde. Am nächsten Tag wurde der Ranger, sediert und in der Waagerechten, auf einen Langstreckenflug zum Luftwaffenstützpunkt Ramstein transportiert, dessen Lazarett zur Weltklasse gehört.
Der Ranger, Lieutenant Colonel Dale Curtis, verlor den linken Fuß. Nach einer glatten Amputation, die eigentlich nur noch vollendete, was die Granate angefangen hatte, blieben ihm ein Stumpf, eine Prothese, ein hinkender Gang, ein Gehstock und die Aussicht auf ein Ende seiner Laufbahn als Ranger. Als er reisefähig war, wurde er nach Hause und ins Walter Reed Hospital in der Nähe von Washington geflogen, wo eine Post-Traumatherapie eingeleitet und ein künstlicher Fuß angepasst wurde. Major Kit Carson sah ihn jahrelang nicht wieder.
Der CIA-Chef in Kandahar erbat Anweisung von oben, und Carson wurde nach Dubai geflogen, wo die CIA eine riesige Niederlassung unterhält. Er war der erste Augenzeuge, der aus Schah-i-Kot entkommen war, und er saß vor einer ganzen Galerie hoher Offiziere des Marine Corps, der Navy und der CIA und wurde befragt.
Im Offiziersklub begegnete er einem Mann in seinem Alter, einem Kommandanten der Navy, der in Dubai stationiert war, wo es auch einen amerikanischen Marinestützpunkt gibt. Der Commander erzählte, er sei beim Navy CIS, dem Criminal Investigation Service der Navy.
»Warum lassen Sie sich nicht zu uns versetzen, wenn Sie nach Hause kommen?«, fragte er.
»Zur Polizei?«, fragte Carson. »Eher nicht. Aber danke.«
»Wir sind größer, als Sie glauben«, sagte der Commander. »Es geht ja nicht nur um Matrosen, die ihren Landurlaub überziehen. Ich rede von Schwerverbrechen, von der Jagd auf Kriminelle, die Millionen gestohlen haben, auf zehn großen Marinestützpunkten im arabischsprachigen Raum. Das wäre eine Herausforderung.«
Dieses Wort genügte, um Carson zu überzeugen. Die Marines sind Teil der U. S. Navy. Er würde also innerhalb seiner Truppengattung bleiben. Nach der Rückkehr in die Staaten würde er vermutlich wieder im Building No. 2 in Langley arabisches Material analysieren. Also bewarb er sich für den NCIS, und dieser griff sofort zu.
So kam er von der CIA los und halbwegs zurück in die Arme des Marine Corps, auf einen Posten in Portsmouth, Newport News, in Virginia, wo sich im großen Marinekrankenhaus bald eine Stellung für Susan fand, sodass sie zu ihm kommen konnte.
Von Portsmouth aus konnte er auch regelmäßig seine Mutter besuchen, die wegen des Brustkrebs in Behandlung war, an dem sie drei Jahre später sterben sollte. Als sein Vater, General Carson, sich im selben Jahr zur Ruhe setzte, in dem er Witwer wurde, konnte er auch in dessen Nähe sein. Der General zog sich in ein Pensionärsdorf außerhalb von Virginia Beach zurück. Dort konnte er seinem geliebten Golfspiel nachgehen und zu Veteranenabenden mit anderen pensionierten Marines gehen, die an diesem Küstenabschnitt wohnten.
Kit Carson blieb vier Jahre beim NCIS und brachte in dieser Zeit zehn größere Kriminelle vor Gericht. 2006 ließ er sich im Rang eines Lieutenant Colonel zum Marine Corps zurückversetzen und erhielt einen Posten in Camp Lejeune, North Carolina. Auf der Autofahrt quer durch Virginia zu ihm kam seine Frau Susan ums Leben, als ein betrunkener Autofahrer die Kontrolle über seinen Wagen verlor und frontal mit ihr zusammenstieß.
HEUTE
Das dritte Attentat in diesem Monat traf einen leitenden Polizeibeamten in Orlando, Florida. An einem strahlenden Frühlingsmorgen verließ er sein Haus und wurde von hinten erstochen, als er sich vorbeugte, um seine Wagentür zu öffnen. Noch im Sterben zog er seine Pistole und schoss zweimal. Der Angreifer war auf der Stelle tot.
Bei den nachfolgenden Ermittlungen identifizierte man den jungen Killer als gebürtigen Somalier, einen Flüchtling, der aus humanitären Gründen Asyl erhalten und bei der Stadtreinigung gearbeitet hatte.
Kollegen sagten aus, er habe sich im Laufe von zwei Monaten verändert, sei verschlossen und abweisend geworden, griesgrämig und kritisch gegen den amerikanischen Lebensstil. Die Besatzung seines Müllwagens habe ihn schließlich geschnitten, weil es schwierig geworden sei, mit ihm zurechtzukommen. Sie hätten seinen Stimmungswandel auf sein Heimweh zurückgeführt.
Aber das war nicht der Grund. Der Grund war, wie eine Hausdurchsuchung ergab, seine Bekehrung zum Ultradschihadismus, die anscheinend durch eine Serie von Onlinepredigten zustande gekommen war. Seine Vermieterin hatte sie durch die Zimmertür hören können. Ein umfassender Bericht ging an das FBI in Orlando und von dort zur Zentrale im Hoover Building in Washington, D. C.
Hier überraschte diese Story niemanden mehr. Die gleiche Geschichte – die Bekehrung nach stundenlangem Genuss der Onlinepredigten eines nahöstlichen Predigers mit tadellosem Englisch und die unvorhersehbare Ermordung eines angesehenen Bürgers in der Umgebung – war in den USA inzwischen viermal und nach den Informationen des FBI zweimal in Großbritannien gemeldet worden.
Man hatte sich bereits mit der CIA, der Terrorismusbekämpfung und dem Ministerium für Heimatsicherheit kurzgeschlossen. Jede amerikanische Behörde, die auch nur im Entferntesten etwas mit dem islamistischen Terrorismus zu tun hatte, war informiert worden und hatte die Akte bekommen, aber niemand konnte mit hilfreichen Erkenntnissen dienen. Wer war dieser Mann? Woher kam er? Wo zeichnete er seine Predigten auf? Er bekam den Namen »der Prediger« und begann, auf der Liste der High-Priority-Ziele nach oben zu klettern.
In der amerikanischen Diaspora leben weit über eine Million Muslime, die entweder selbst oder über Eltern aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie aus Zentralasien stammen. Das war ein gewaltiges Reservoir an potenziellen Konvertiten für die ultraharten dschihadistischen Reden des Predigers mit seiner unablässigen Aufforderung an die Bekehrten, einen Schlag gegen den Großen Teufel zu führen, bevor sie zu Allah in die ewige Seligkeit eingingen.
Schließlich war es so weit, dass der Prediger am Dienstagmorgen in der Besprechung im Oval Office genannt und auf die Todesliste gesetzt wurde.
Die Menschen verarbeiten ihre Trauer auf unterschiedliche Weise. Für manche beweist nur hysterisches Klagen ihre Aufrichtigkeit. Andere reagieren mit einem lautlosen Kollaps und hilflosen Tränenfluten in der Öffentlichkeit. Aber es gibt auch solche, die sich mit ihrem Schmerz ganz zurückziehen wie ein verletztes Tier.
Sie trauern allein, wenn es keinen Verwandten oder Freund gibt, der sie in den Arm nehmen könnte, und sie teilen ihre Tränen mit der Wand. Kit Carson besuchte seinen Vater in dessen Pensionärshaus, doch sein Posten war in Lejeune, und er konnte nicht lange bleiben.
Allein in seinem leeren Haus auf dem Stützpunkt, stürzte er sich in die Arbeit und trieb seinen Körper mit einsamen Querfeldeinläufen und Krafttraining an seine Grenzen, bis der körperliche Schmerz die innere Qual abstumpfte, ja, bis der Arzt des Stützpunkts ihm riet, es ruhiger angehen zu lassen.
Carson gehörte zu den Architekten des Kämpfer-Jäger-Programms, in dem Marines Spurensuche und Menschenjagd im wilden, ländlichen und städtischen Gelände trainierten. Das Ziel dieses Kurses war, niemals zum Gejagten zu werden, immer der Jäger zu bleiben. Aber während er in Portsmouth und Lejeune war, nahmen große Ereignisse ihren Lauf.
Nine/Eleven hatte eine grundlegende Veränderung in der Haltung des amerikanischen Militärs und der Regierung gegenüber allem bewirkt, was auch nur im Entferntesten als vorstellbare Bedrohung der USA gesehen werden konnte. Die nationale Alarmbereitschaft näherte sich Schritt für Schritt der Paranoia, und die Folge war eine explosive Expansion der Welt der »Nachrichtendienste«. Aus den ursprünglich sechzehn Informationen sammelnden Diensten der USA wurden mehr als tausend.
Bis 2012 veranschlagten präzise Schätzungen die Zahl der Amerikaner mit höchster Sicherheitsfreigabe auf 850 000. Mehr als 1200 staatliche Organisationen und 2000 Privatunternehmen arbeiteten an streng geheimen Projekten zur Terrorismusbekämpfung und Heimatsicherheit an mehr als 10 000 Orten im ganzen Land.
Nach dem 11. September 2001 hatte man sich zum Ziel gesetzt, dass sich die fundamentalen Nachrichtendienste nie wieder weigern dürften, ihre Erkenntnisse miteinander zu teilen. Nie wieder sollten neunzehn Fanatiker, die einen Massenmord planten, durch die Maschen schlüpfen. Zehn Jahre später hatte der Preis dafür die Wirtschaft in die Knie gezwungen, doch die Situation war noch weitgehend die gleiche wie 2001. Die Abwehrmaschinerie produzierte schon wegen ihrer ungeheuren Größe und Komplexität rund 50 000 streng geheime Berichte pro Jahr, so viele, dass kein Mensch sie alle lesen, geschweige denn sie verstehen, analysieren, auswerten oder zusammenführen konnte. Also wurden sie einfach zu den Akten gelegt.
Den massivsten Zuwachs erfuhr das Joint Special Ops Command, das gemeinsame Spezialeinsatzkommando, kurz J-SOC. Diese Einheit hatte schon Jahre vor Nine/Eleven existiert, jedoch als unauffällig operierende und prinzipiell defensiv strukturierte Organisation. Zwei Männer sollten sie in die größte, aggressivste und tödlichste Privatarmee der Welt verwandeln.
Das Wort »privat« ist gerechtfertigt, denn es ist das persönliche Instrument des Präsidenten und nichts anderes. Es kann einen verdeckten Krieg führen, ohne die Erlaubnis des Kongresses einzuholen. Sein Multi-Milliarden-Dollar-Etat kommt zustande, ohne dass der Haushaltsausschuss behelligt wird, und es kann jemanden töten, ohne dass die Generalstaatsanwaltschaft mit der Wimper zuckt. Alles daran ist streng geheim.
Der Erste, der das J-SOC umgestaltete, war Verteidigungsminister Donald Rumsfeld. Dieser skrupellose und machtgierige Washingtoner Insider störte sich an der Macht und den Privilegien der CIA. Ihrer Satzung nach war die Agency nur dem Präsidenten verantwortlich, nicht dem Kongress. Mit ihren Special-Activities-Einheiten konnte sie auf Geheiß des Direktors verdeckte und tödliche Operationen im Ausland durchführen. Das war Macht, echte Macht, und Verteidigungsminister Rumsfeld war entschlossen, sie auch zu bekommen, denn das Pentagon ist dem Kongress mit dessen fast grenzenlosen Möglichkeiten der Einmischung weitgehend unterworfen.
Rumsfeld brauchte eine Waffe, die nicht der Aufsicht des Kongresses unterstand, wenn er jemals mit George Tenet, dem Direktor der CIA, konkurrieren wollte. Ein vollständig umgestaltetes J-SOC war diese Waffe.
Präsident George W. Bush gab seine Zustimmung, und J-SOC wuchs und wuchs. Größe, Etat und Macht nahmen immer weiter zu. Es absorbierte sämtliche Spezialeinsatztruppen des Landes. Dazu gehörten Team Six der SEALs (das später Osama bin Laden töten sollte), die DELTA Force oder D-Boys, die aus den Green Berets, den »Ledernacken«, rekrutiert wurden, das 75. Rangerregiment, das Speziallufteinsatzregiment der Air Force (die mit Langstreckenhubschraubern operierenden »Night Stalkers«) und andere. Es verschlang auch TOSA.
Im Sommer 2003, als der Irak noch von einem Ende bis zum anderen brannte und kaum jemand woandershin schaute, geschahen zwei Dinge, die die Neuerfindung des J-SOC vollendeten. Mit General Stanley McChrystal wurde ein neuer Kommandant eingesetzt, und wenn jemand geglaubt hatte, J-SOC werde weiterhin eine bedeutende Rolle hauptsächlich im Inland spielen, war es damit vorbei. Und im September 2003 sicherte sich Verteidigungsminister Rumsfeld die Zustimmung des Präsidenten und unterzeichnete die EXORD.
Die Exekutivorder war ein achtzigseitiges Dokument, und tief in diesen Seiten verborgen steckte so etwas wie eine riesige präsidentiale Verfügung, die höchste Anordnung in den Vereinigten Staaten, unbelastet von spezifischen Bedingungen. Die EXORD besagte buchstäblich: Tun Sie, was Sie wollen.
Etwa um diese Zeit beendete ein humpelnder Ranger namens Dale Curtis seinen einjährigen, bezahlten Verletzungs- und Genesungsurlaub. Die Prothese an seinem linken Beinstumpf beherrschte er inzwischen so meisterhaft, dass man das Humpeln praktisch nicht mehr wahrnehmen konnte. Aber das 75. Rangerregiment war nichts für einen Prothesenträger. Seine militärische Karriere schien zu Ende zu sein.
Doch wie die SEALs lassen auch die Ranger keinen der Ihren im Stich. General McChrystal war ebenfalls ein Ranger aus dem 75. Regiment, und er hörte von Colonel Curtis. Er hatte soeben den Oberbefehl über J-SOC übernommen, und dazu gehörte auch TOSA, deren Kommandant gerade in den Ruhestand ging. Der Posten des Befehlshabers war nicht zwangsläufig mit dem Außendienst verbunden. Es konnte ein Schreibtischjob sein. Das Meeting war sehr kurz, und Colonel Curtis ergriff die Gelegenheit mit beiden Händen.
In der Welt der verdeckten Operationen gibt es eine alte Redensart: Wenn du etwas geheim halten willst, versuch nicht, es zu verbergen, denn irgendein Reptil von der Presse wird es ausgraben. Gib der Sache einen harmlosen Namen und eine absolut langweilige Beschreibung. TOSA steht für Technical Operations Support Activity.
Unterstützende Aktivitäten für technische Operationen. »Aktivitäten« – nicht einmal Dienst, Behörde, Verwaltung. Eine unterstützende Aktivität konnte alles sein, vom Wechseln einer Glühbirne bis zur Ausschaltung eines lästigen Dritte-Welt-Politikers. Hier bedeutet es wahrscheinlich eher Letzteres.
TOSA existierte schon lange vor Nine/Eleven. Unter anderem hat sie den kolumbianischen Kokainbaron Pablo Escobar zur Strecke gebracht. Das ist ihre Aufgabe. Sie ist die Menschenjägerorganisation, die man ruft, wenn niemand mehr weiter weiß. Sie hat nur zweihundertfünfzig Mitarbeiter und residiert auf einem Gelände im nördlichen Virginia, das als Forschungseinrichtung für toxische Chemikalien getarnt ist. Niemand kommt dort zu Besuch.
Damit sie noch geheimer bleibt, ändert sie ständig ihren Namen. Aus der einfachen »Activity« wurde Grantor Shadow, Centra Spike, Torn Victor, Cemetery Wind und Gray Fox, der Graufuchs. Der letzte Name kam so gut an, dass er als Codenamen für den Kommandanten behalten wurde. Bei seinem Dienstantritt verschwand Colonel Dale Curtis und wurde zu Gray Fox. Später wurde es dann zur Intelligence Support Activity, zur »Nachrichtendienstlichen Unterstützungsaktivität«, aber als das Wort »Intelligence« Aufmerksamkeit erregte, wechselte der Name erneut und wurde zu TOSA.
Gray Fox war seit sechs Jahren auf seinem Posten, als 2009 sein oberster Menschenjäger in Pension ging, sich in eine Blockhütte in Montana verzog und Stahlkopfforellen jagte. Colonel Curtis konnte nur von seinem Schreibtisch aus jagen, aber ein Computer mit sämtlichen Zugangscodes im Verteidigungsapparat der Vereinigten Staaten verschafft einem einen ordentlichen Vorsprung. Nach einer Woche erschien ein Gesicht auf seinem Monitor, das ihn aufschreckte: Lieutenant Colonel Christopher »Kit« Carson, der Mann, der ihn aus dem Tal von Schah-i-Kot getragen hatte.
Curtis sah sich die Laufbahnakte an. Gefechtssoldat, Student, Arabist, Sprachkundler, Menschenjäger. Er griff zum Telefon.
Kit Carson wollte das Marine Corps nicht noch einmal verlassen, doch zum zweiten Mal wurde die Diskussion darüber über seinen Kopf hinweg geführt und entschieden.
Eine Woche später betrat er das Büro von Gray Fox in dem flachen Gebäudeblock in der Mitte eines Waldes im nördlichen Virginia. Er sah den Mann, der ihm leicht hinkend entgegenkam, um ihn zu begrüßen, sah den Gehstock in der Ecke und das Rangerabzeichen.
»Erinnern Sie sich an mich?«, fragte der Colonel. Kit Carson erinnerte sich – an den eiskalten Wind, an die verschneiten Steine unter seinen Kampfstiefeln, an das lastende Gewicht auf seinen Schultern, an die Erschöpfung, die ihn am liebsten an Ort und Stelle sterben lassen wollte.
»Ist lange her«, sagte er.
»Ich weiß, Sie wollen nicht weg von den Marines«, sagte Gray Fox, »aber ich brauche Sie. Übrigens, in diesem Gebäude benutzen wir nur Vornamen. Für alle andern hat Lieutenant Colonel Carson aufgehört zu existieren. Für die Welt außerhalb dieses Gebäudes sind Sie einfach nur der SPÜRHUND.«
Im Laufe der Jahre stöberte der Spürhund allein oder als Helfer ein halbes Dutzend der meistgesuchten Feinde seines Landes auf. Baitullah Mehsud, ein pakistanischer Talib, ausgeschaltet durch einen Drohnenangriff auf ein Bauernhaus im südlichen Wasiristan im Jahr 2009. Abu al-Jasid, al-Qaida-Gründer und Finanzier des Nine/Eleven-Anschlags, ausgeschaltet durch einen Drohnenangriff 2010 in Pakistan.
Der Spürhund war es, der al-Kuwaiti als Bin Ladens Abgesandten identifizierte. Spionagedrohnen verfolgten ihn auf seiner letzten langen Reise durch Pakistan, bis er überraschenderweise nicht Kurs auf die Berge nahm, sondern in die andere Richtung fuhr. Als Ziel identifizierte man ein Anwesen in Abbottabad.
Da war der amerikanisch-jemenitische Anwar al-Awlaki, der in englischer Sprache Onlinepredigten hielt. Er wurde gefunden, weil er seinen amerikanischen Landsmann Samir Khan, den Herausgeber der dschihadistischen Zeitschrift Inspire, zu sich in den Nordjemen einlud. Dann al-Quso, der zu seinem Haus im Südjemen verfolgt wurde – eine weitere Drohne schoss eine Hellfire-Rakete durch sein Schlafzimmerfenster.
Die Bäume bekamen erste Knospen, als Gray Fox 2014 mit einer Präsidentialorder erschien, die an diesem Morgen per Kurier aus dem Oval Office gekommen war.
»Noch ein Onlineprediger, Spürhund. Aber ein merkwürdiger. Kein Name, kein Gesicht. Absolut nicht zu greifen. Wenn Sie was brauchen, sagen Sie es einfach. Die Order deckt sämtliche Erfordernisse ab.« Er hinkte hinaus.
Es gab eine Akte, aber sie war dünn. Der Mann war zwei Jahre zuvor mit seiner ersten Predigt online gegangen, kurz nachdem der erste Cyberprediger im September 2011 mit seinen Begleitern am Rande eines Bahngleises im Nordjemen gestorben war. Während Awlaki, der in New Mexico geboren und aufgewachsen war, eindeutig amerikanisches Englisch gesprochen hatte, klang der neue Prediger eher wie ein Brite.
Zwei linguistische Institute hatten versucht, der Stimme eine Herkunft zuzuordnen. Eins befindet sich in Fort Meade, Maryland, in der riesigen Zentrale der National Security Agency NSA. Hier sitzen die Lauscher, die Satzfetzen aus Mobilfunk- und Festnetztelefonübertragungen, gefaxten Briefen, E-Mails oder Radiosendungen herauspflücken. Sie übersetzen aus tausend Sprachen und Dialekten und knacken Codes.
Das andere Linguistiklabor gehört der Army und befindet sich in Fort Huachuca, Arizona. Beide waren weitgehend zum gleichen Ergebnis gekommen. Sie vermuteten einen Pakistani aus einer kultivierten und gebildeten Familie. Die abgehackten Wortenden in der Sprache des Predigers klangen nach kolonialem Englisch. Aber da gab es ein Problem.
Anders als Awlaki, der mit unverhülltem Gesicht in die Kamera geschaut hatte, zeigte der Neue nie sein Gesicht. Er trug ein traditionelles arabisches shemag, zog jedoch die herabhängenden Enden über sein Gesicht und steckte sie links und rechts ein. Man sah nur die glühenden Augen. Möglicherweise, hieß es in der Akte, verzerrte der Stoff die Stimme, sodass man bei der Herkunftsbestimmung noch stärker auf Vermutungen angewiesen sei. Der Computer mit dem Codenamen Echelon, der dazu diente, Akzente aus der ganzen Welt zu identifizieren, war außerstande, kategorische Angaben zur Herkunft des Sprechers zu machen.
Der Spürhund versandte die übliche Bitte um Informationen, seien sie noch so geringfügig, an alle Dienste und Stationen. Diese Anfrage ging an zwanzig internationale Nachrichtendienste, die am Kampf gegen den Dschihadismus beteiligt waren – angefangen mit den Briten. Die Briten standen an vorderster Stelle. Sie hatten einst über Pakistan geherrscht und verfügten immer noch über gute Kontakte dorthin. Ihr Secret Intelligence Service war eine große Organisation in Islamabad und arbeitete Hand in Hand mit dem noch größeren Apparat der CIA. Alle würden seine Nachricht erhalten.
Im zweiten Schritt rief er die komplette Bibliothek der Onlineauftritte des Predigers von der dschihadistischen Website auf. Stundenlang würde er sich anhören, was der Prediger seit fast zwei Jahren in den Cyberspace pumpte.
Seine Botschaft war simpel, und vielleicht fand er deshalb so erfolgreich radikale Konvertiten für seine ultradschihadistische Sache. Um ein guter Muslim zu sein, sagte er der Kamera, müsse man Allah, sein Name sei gepriesen, und seinen Propheten Mohammed, möge er ruhen in Frieden, aufrichtig und aus tiefem Herzen lieben. Worte allein genügten jedoch nicht. Der wahre Gläubige würde den Drang verspüren, seine Worte zu Taten werden zu lassen.
Diese Taten konnten nur darin bestehen, diejenigen zu bestrafen, die Krieg gegen Allah und sein Volk führten, gegen die weltweite umma der Muslime. Und die wichtigsten unter diesen waren der Große Teufel, die USA, und der Kleine Teufel, Großbritannien. Die Bestrafung für das, was sie getan hatten und täglich weiter taten, war das ihnen bestimmte Schicksal und ein göttlicher Auftrag.
Der Prediger ermahnte seine Zuschauer und Zuhörer, sich niemandem anzuvertrauen, auch nicht denen, die vorgaben, genauso zu denken. Denn selbst in der Moschee gebe es Verräter, die bereit seien, den wahren Gläubigen für das Gold der kuffar anzuschwärzen.
Daher solle sich der wahre Gläubige in der Abgeschiedenheit seines Herzens zum wahren Islam bekehren und sich niemandem anvertrauen. Er solle allein beten und nur auf den Prediger hören, der ihm den wahren Weg weisen werde. Dieser Weg verlange, dass jeder Bekehrte einen Schlag gegen die Ungläubigen führe.
Er warnte davor, komplizierte Pläne mit unbekannten Chemikalien und vielen Komplizen zu schmieden, denn jemand könne den Kauf oder die Aufbewahrung der Bestandteile einer Bombe bemerken, oder einer der Mitverschwörer könne zum Verräter werden. Die Gefängnisse der Ungläubigen seien voll von Brüdern, die belauscht, beobachtet, bespitzelt oder von Leuten verraten worden waren, denen sie vertraut hatten.
Die Botschaft des Predigers war ebenso simpel wie tödlich. Jeder wahre Gläubige solle in der Gemeinde, in der er sich befinde, einen herausragenden kaffir auswählen und ihn zur Hölle schicken, während er selbst, gesegnet von Allah, in der Erfüllung der Gewissheit sterben werde, ins ewige Paradies einzugehen.
Es war eine Erweiterung der »Tu es einfach«-Philosophie Awlakis, aber besser formuliert, überzeugender. Sein ultraeinfaches Rezept machte es leichter, sich zu entscheiden und isoliert zu handeln. Und aus der wachsenden Zahl von Mordanschlägen aus heiterem Himmel in beiden Zielländern war klar zu ersehen, dass sie es, selbst wenn seine Botschaft nur bei dem Bruchteil eines Prozents der jungen Muslime Widerhall fand, mit einer Armee von Tausenden zu tun hatten.
Der Spürhund wartete auf Antwort von allen amerikanischen Diensten und ihren britischen Entsprechungen, doch niemand hatte gehört, dass in der islamischen Welt jemand einen »Prediger« erwähnt hatte. Diesen Titel hatte ihm der Westen gegeben, weil man nicht wusste, wie man ihn sonst nennen sollte. Aber er musste irgendwoher gekommen sein. Er musste irgendwo wohnen, irgendwo senden, und er musste einen Namen haben.
Die Antworten, vermutete er, existierten im Netz. Die Computerfachleute oben in Fort Meade waren zwar halbe Genies, doch auch sie hatten sich geschlagen geben müssen. Wer immer diese Predigten ins Netz stellte, sorgte dafür, dass sie nicht zurückverfolgt werden konnten. Er ließ sie aus scheinbar einhundert verschiedenen Quelladressen um die ganze Welt wandern – und alle waren falsch.
Der Spürhund lehnte es ab, jemanden in sein Versteck im Wald kommen zu lassen, mochte seine Sicherheitsfreigabe noch so hoch sein. Der Geheimhaltungsfetisch, der die gesamte Einheit motivierte, hatte auch ihn in Bann geschlagen. Ebenso ungern betrat er die anderen Büros auf Washingtoner Terrain und vermied es, so gut es ging. Er zog es vor, nur von demjenigen gesehen zu werden, mit dem er zu sprechen hatte. Er wusste, dass er zunehmend in dem Ruf stand, unkonventionell zu sein, aber am liebsten waren ihm Raststätten. Gesichtslos und anonym, die Gäste wie auch das Lokal. In so einer Raststätte an der Straße nach Baltimore traf er sich mit dem Internetguru aus Fort Meade.
Die beiden Männer saßen einander gegenüber und rührten in ihrem ungenießbaren Kaffee. Sie kannten einander von früheren Ermittlungen her. Der Mann, der mit dem Spürhund am Tisch saß, galt als der beste Computerdetektiv der NSA, und das wollte etwas heißen.
»Und wieso können Sie ihn nicht finden?«, fragte der Spürhund.
Der Mann von der NSA starrte stirnrunzelnd in seine Kaffeetasse und schüttelte den Kopf, als die Kellnerin erwartungsvoll an den Tisch trat und ihre Kanne zum Nachschenken bereithielt. Sie zog sich zurück. Wer zu ihnen herüberschaute, hätte zwei Männer mittleren Alters gesehen, der eine fit und muskulös, der andere dicklich und mit der Blässe eines Menschen, der in fensterlosen Räumen arbeitete.
»Weil er verflucht clever ist«, sagte der Mann schließlich. Er konnte es nicht ausstehen, ausgetrickst zu werden.
»Erklären Sie’s mir«, bat der Spürhund. »Laienhaft, wenn das möglich ist.«
»Wahrscheinlich zeichnet er seine Predigten auf einem digitalen Camcorder oder einem Laptop auf. Daran ist noch nichts Unheimliches. Er verbreitet sie über eine Website namens Hedschra. So nennt man Mohammeds Flucht von Mekka nach Medina.«
Der Spürhund verzog keine Miene. Den Islam brauchte ihm niemand zu erklären.
»Können Sie Hedschra ausfindig machen?«
»Unnötig. Das ist nur ein Vehikel. Er hat die Website von einer obskuren kleinen Firma in Delhi gekauft, die inzwischen geschlossen wurde. Wenn er eine neue Predigt hat, die er weltweit verbreiten will, setzt er sie auf Hedschra, aber die exakte geografische Position hält er geheim, indem er von Host zu Host um die ganze Welt wandert und sie über hundert Computer weiterleitet, deren Eigentümer sicher nicht mal ahnen, welche Rolle sie dabei spielen. Am Ende kann die Predigt von überallher kommen.«
»Wie verhindert er, dass man die Strecke zurückverfolgt?«
»Mit einem ›Proxy-Server‹, der ein falsches Internetprotokoll produziert. Die IP-Adresse entspricht einer Anschrift mit Postleitzahl. Im Proxy-Server hat er eine Malware oder ein Botnet implementiert, um seine Predigt damit kreuz und quer über die ganze Welt zu schicken.«
»Übersetzen Sie das.«
Der NSA-Mann seufzte. Er redete tagaus, tagein im Netzjargon mit Kollegen, die genau wussten, wovon er sprach.
»Malware. Lateinisch malus – böse oder schlechte Software. Ein Virus. ›Bot‹ ist die Abkürzung von ›Roboter‹ – etwas, das tut, was man sagt, ohne Fragen zu stellen oder zu offenbaren, für wen es arbeitet.«
Der Spürhund überlegte.
»Das heißt, die mächtige NSA muss sich wirklich geschlagen geben?«
Das Computerass der Regierung fühlte sich nicht geschmeichelt, musste aber nicken.
»Natürlich bemühen wir uns weiter.«
»Die Uhr tickt. Kann sein, dass ich es woanders versuchen muss.«
»Von mir aus.«
»Eine Frage. Und halten Sie Ihren verständlichen Ärger im Zaum. Angenommen, Sie wären der Prediger. Wen würden Sie um keinen Preis im Nacken haben wollen? Wer würde Ihnen wirklich verdammte Sorgen machen?«
»Jemand, der besser ist als ich.«
»Gibt es so jemanden?«
Der NSA-Mann seufzte.
»Wahrscheinlich. Irgendwo da draußen. Aus der neuen Generation, würde ich schätzen. Früher oder später werden die Veteranen in allen Bereichen des Lebens von irgendwelchen bartlosen Kids überholt.«
»Kennen Sie irgendwelche bartlosen Kids? Oder ein spezielles bartloses Kid?«
»Hören Sie, ich habe ihn nie gesehen. Aber kürzlich, auf einem Seminar während einer Messe, habe ich von einem Jungen hier in Virginia gehört. Er war nicht auf der Messe, sagte mein Informant, denn er wohnt noch bei seinen Eltern und geht da nie weg. Wirklich nie. Er ist eigenartig. In dieser Welt ist er ein Nervenbündel und spricht kaum ein Wort. Aber in seiner eigenen Welt bewegt er sich wie ein Fliegerass.«
»Und was ist seine Welt?«
»Der Cyberspace.«
»Haben Sie einen Namen? Vielleicht sogar eine Adresse?«
»Ich dachte mir, dass Sie danach fragen würden.« Er zog einen Zettel aus der Tasche und schob ihn hinüber. Dann stand er auf. »Machen Sie mir keinen Vorwurf, wenn er nichts taugt. Es war ein Gerücht. Branchenklatsch unter uns Irren.«
Als er gegangen war, bezahlte der Spürhund für den Kaffee und die Muffins und ging dann. Auf dem Parkplatz warf er einen Blick auf den Zettel. Roger Kendrick. Eine Adresse in Centreville, Virginia, einer der zahllosen kleinen Satellitenstädte, die in den letzten zwei Jahrzehnten aus dem Boden geschossen waren und seit Nine/Eleven vor lauter Pendlern aus allen Nähten platzten.
Jeder Spürhund, jeder Detective, was und wo er auch jagt und wer auch immer die Beute sein mag, braucht einen Glückstreffer. Nur einen. Kit Carson sollte Glück haben. Sogar zweimal.
Einmal mit einem eigenartigen Teenager, der Angst hatte, das Dachzimmer seines Elternhauses in einer Seitenstraße von Centreville, Virginia, zu verlassen, und einmal mit einem alten afghanischen Bauern, dessen Rheuma ihn zwang, das Gewehr niederzulegen und aus den Bergen nach Hause zu kommen.