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Eine traurige Geschichte

Wo gehst du hin?« fragte Anita Soltersbusch.

Er ließ sich Zeit, bevor er antwortete.

»Raus.«

Den Vormittag dieses Feiertagsmittwochs hatte sie im Bett verbracht, während ihr Mann die Zeitung von gestern las und mehrmals auf den Balkon hinausging, ohne daß ihr klar wurde, warum. Danach hatte sie ein Bad genommen. In dieser Zeit klingelte zweimal das Telefon, und sie hörte ihren Mann flüstern. Jetzt saß sie in der Küche, trank Kaffee und blätterte in einer Fernsehzeitschrift.

Rupert Soltersbusch hatte seinen grauen Ausgehmantel angezogen, darunter trug er ein frischgewaschenes, braunrotkariertes Hemd mit Bügelfalten. Er stand in der Tür und trat von einem Fuß auf den anderen.

»Dann geh halt endlich«, sagte Anita Soltersbusch. »Du bringst Unruhe rein.«

»Ich geh ins Stüberl«, sagte er.

Mit einem Kugelschreiber kreuzte sie eine bestimmte Sendung an. »Ich dachte, die Kneipe hat sonn- und feiertags geschlossen.«

»Nicht am Tag der Deutschen Einheit.«

»Warum denn nicht?«

»Frag die Maria.«

Nach einem Schweigen, in dem keiner von beiden – wie abgesprochen – sich von der Stelle rührte, sagte sie: »Ich komm vielleicht nach.«

Soltersbusch sah auf seine Uhr und dann zur Wohnungstür.

»Von mir aus«, sagte er und ging los. »Aber nicht, daß es wieder so ausschaut, als würdst du mich abholen. Zieh deinen Mantel in der Kneipe aus und verbreite keine Hektik.«

Sie hörte die Tür schlagen und blätterte um.

Im Treppenhaus zögerte Soltersbusch einen Moment. Dann stieg er ins Parterre hinunter, von wo aus er noch einmal nach oben blickte, bevor er auf die Straße trat.

Auf dem Bürgersteig gegenüber stand Walter Madaira, reglos dem Haus zugewandt, mit einer braunen Wildlederjacke, die er nicht zugeknöpft hatte, und einem dunkelblauen Hut.

Soltersbusch nickte ihm zu und überquerte die Anhalter Straße.

»Sehr freundlich, daß Sie vorhin zurückgerufen haben, Herr Madaira. Und ich hab auch noch mal mit meinem Stellvertreter beim AMM gesprochen. Wie geht’s Ihnen?«

»Ihr Anruf gestern kam sehr überraschend.« Madairas Stimme klang, als habe er eine Erkältung. »Es geht mir wahrscheinlich gut, ich weiß nicht genau.«

Solche Antworten verkomplizierten die Sache für Soltersbusch unnötig. Mit launiger Geste zeigte er auf das Hemd seines Gegenübers. »Wir haben beide dasselbe Muster aus dem Schrank gezogen. Heut ist der Tag der Karierten. Ich wollte persönlich bei Ihnen um Nachsicht bitten, Herr Madaira.«

Soltersbusch warf einen schnellen Blick zum Balkon im ersten Stock. Aber seine Frau war nicht zu sehen. »Wir haben Sie damals beschuldigt, das heißt, beschuldigt haben wir Sie nicht, wir haben Sie einem Verdacht ausgesetzt …«

»Sie haben mich fast denunziert«, sagte Madaira und steckte die Hände in die Jackentaschen. Etwas in ihm wog heute weniger schwer, etwas ermutigte ihn, mit offener Jacke durch den Tag zu schlendern.

»Dafür möchte ich im Namen des AMM um Nachsicht bitten. Das war übereilt und nicht gerecht, was wir getan haben.« Sein Gesicht blieb ausdruckslos und bleich, kein Zeichen von Erregung oder Anteilnahme. Dafür fixierte er Madaira mit forderndem Blick.

Der Schauspieler bewegte die Hände in den Taschen, holte tief Luft, zog die Stirn in Falten und lächelte ein paar Sekunden. »Das ist lange her«, sagte er. »Und die Begegnung mit dem Kommissar möchte ich nicht missen. Machen Sie sich keine Gedanken.«

»Das erleichtert mich sehr«, sagte Soltersbusch mit einem erneuten Blitzblick zum Balkon. »Ich würd Ihnen gern ein Bier ausgeben. Kommen Sie mit ins Marienstüberl? Das war wirklich nett.«

»Nein, danke, ich trinke selten Bier.«

»Ausnahmsweise, aus besonderem Anlaß.«

»Vielleicht ein andermal. Ich danke Ihnen. Grüßen Sie bitte Ihre Frau von mir.«

»Sie können auch einen Schoppen Wein trinken.«

Madaira schüttelte den Kopf.

Soltersbusch wußte nicht, was er noch sagen sollte, also hob er die Hand, tappte zweimal in die Luft wie gegen eine Wand und nahm den Arm erst wieder herunter, als Madaira schon einige Meter von ihm weggegangen war.

»Das wär erledigt«, sagte er und stöhnte.

Vom Fenster aus beobachtete ihn seine Frau. Aber vor lauter Erleichterung über die Sache mit seinem Nachbarn bemerkte er sie nicht.

 

Die alte Frau zeigte mit ihrem Krückstock auf das eingeschossige Haus in der Levelingstraße. Dann stützte sie sich auf den Stock und verharrte. In ihrem Rücken, nur wenige Meter entfernt, stand eine andere Frau, erschrocken, daß sie nicht allein im Hinterhof war. Umkehren konnte sie nicht mehr. In dem Moment, als sie entschied, unauffällig zu verschwinden, drehte sich die alte Frau in dem grünen Lodenmantel zu ihr um. Nach einem kurzen Zögern ging Karin Mora, die jüngere der beiden, auf die andere zu.

»Grüß Gott.«

»Grüß Gott«, sagte die achtzigjährige Trude Severin. Nachdem sie wieder eine Weile das Haus mit den heruntergelassenen Rollos betrachtet hatte, sagte sie: »Wir waren mal Nachbarn, beruflich, vor Urzeiten. In der Innenstadt. Kannten Sie Clarissa Weberknecht?«

»Nein.«

»Sind Sie eine Nachbarin?«

»Ja«, log Karin Mora.

»Clarissa und Dinah. Die beiden saßen oft bei mir in der Lederstubn, so hieß meine Bar, und haben geredet und geredet. Über das Leben, über die Männer, über was sonst. Ich hab dann zusperren müssen, die Herren aus der Stadtverwaltung wollten den Schmuddelschuppen loswerden. Clarissa und Dinah haben sich nicht unterkriegen lassen. Obwohl sie sich auch oft gestritten haben, wie ein Ehepaar, wie ein Liebespaar. Vielleicht waren sie eines, aber darüber soll man nicht sprechen. Ich war bei Clarissas Prozeß, sie kam vor Gericht, weil in ihrem Club ein Kunde gestorben ist. Erinnern Sie sich daran?«

»Nein«, sagte Karin Mora. Unmerklich trat sie einen Schritt zurück, weil sie nicht wollte, daß ihr die alte Frau in die Augen sah.

»Clarissa mußte nicht ins Gefängnis, es war ein Unfall. Ich glaube das auch, was sollte es sonst gewesen sein?«

»Warum machen Männer das?« fragte Karin Mora und wischte sich hastig über die Wange. »Warum betrügen Männer ihre Frauen und gehen in so Häuser wie dieses hier?«

Erst schien es, als habe Trude Severin nicht zugehört. Doch dann zeigte sie wieder mit dem Stock auf das Haus. »Weil es ihrer Natur entspricht. Sie können nicht anders. Deswegen kommen sie hierher, immer wieder, wie fernbestimmt.«

»Sie meinen, man kann diese Männer nicht einmal verurteilen.«

Schneller, als Karin Mora es für möglich gehalten hätte, drehte die Alte den Kopf und sah ihr in die Augen.

»Verzeihen Sie«, sagte Trude Severin. »Wir kennen uns gar nicht. Bestimmt sind Sie glücklich verheiratet und malen sich jetzt ungute Dinge aus, nur weil ich so daherrede. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.«

»Alles in Ordnung. Alles in Ordnung.«

»Sind Sie verheiratet?«

»Ja.«

»Ich war es nie. Heute leb ich bei meiner Schwester in Pasing, schon viele Jahre. Einige Männer haben mir natürlich Anträge gemacht, die gleichen, die mir später das Geschäft geschlossen haben. Deswegen habe ich es auch nicht fertiggebracht, zur Eröffnung herzukommen. Clarissa hat mir eine Einladung geschickt, aber ich konnte einfach nicht. Ich kam mir so gescheitert vor. Das war sehr egoistisch von mir. Und auch dumm. Und es tut mir leid jetzt, wo sie tot ist. Ich habe die beiden immer bewundert, Clarissa und Dinah. Dann ist Dinah gestorben, und Clarissa war allein. Und sie hat sich durchgebissen. Und dann bringt sie zwei Menschen um, und niemand weiß genau, warum. Und dann erhängt sie sich, und alles ist vorbei. Ich dachte, heut am Feiertag mach ich mich mal auf den Weg, ich war noch nie hier.« Sie blickte zur Tür. Erst jetzt bemerkte Karin Mora den Strauß roter Rosen, der auf der Schwelle lag.

»Sie haben Blumen mitgebracht.«

»Wie Sie sehen, bin ich die einzige«, sagte Trude Severin.

»Eine traurige Geschichte.«

Dann schwiegen sie. Dann bekreuzigte sich die alte Frau. Erstaunt hob Karin Mora den Kopf.

»Auf Wiedersehen«, sagte die Alte und berührte im Vorbeigehen mit ihrer Hand die der anderen Frau und humpelte über den Hinterhof und verschwand, ohne sich noch einmal umzudrehen, hinter der Tormauer. Das tockende Geräusch des Stocks verstummte allmählich.

Von jeglichem Willen beraubt, sank Karin Mora auf die Knie. Sie stützte sich mit den Fäusten auf dem kalten harten Parkplatz ab, legte sich auf die Seite, zog die Beine an den Körper, drückte die Stirn auf ihren Ellenbogen und weinte auf den Asphalt. Und weinte und weinte, und der Zug ihrer Tränen hörte nicht auf.

 

Denkt an das Wort, das ich euch gesagt habe: Der Sklave ist nicht größer als sein Herr. Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen …

Er feuerte die Bibel, die er extra bestellt hatte, auf den Boden und empfand nichts als Ekel, wenn er an seine Feigheit dachte. Und er dachte dauernd daran. Er dachte, daß er zu feige gewesen war, das Mädchen umzubringen, er war sogar zu feige, mit ihr das zu tun, was er sich tagelang, nächtelang vorgenommen hatte.

Auf und ab schlurfend spuckte Arthur Fallnik in seiner Zelle aus, schlug gegen das Stockbett, in dem er allein schlief, und steigerte sich in einen Schwur hinein.

Nach seiner Freilassung würde er sie ein zweites Mal holen und dann.

Sie würden ihn freilassen müssen, er hatte ihr nichts angetan. Das war ja das Lächerliche. Sie hatte ihn lächerlich gemacht. In seinen eigenen vier Wänden. Das würde sie bereuen. Er würde sie ein zweites Mal in seine Wohnung bringen und dann.

Aber bevor er sie umbrachte, würde sie um Vergebung winseln. Diesmal würde er sich von ihr nicht zum Affen machen lassen. Nie wieder. Heulen würde sie und über den Roden kriechen wie die anderen Frauen, die dachten, sie könnten an ihm herumfummeln wie an einem Puffkunden.

Er bohrte mit dem kleinen Finger in sein Ohr und spuckte wieder aus. Wie lang hatte sich das Ding bei ihm eingenistet? Ein halbes Jahr? Länger. Und er hatte es geduldet. Er war in die Arbeit gegangen, viermal in der Woche, wie gewöhnlich, niemand hatte Verdacht geschöpft. Im Marienstüberl redeten die anderen über ihn, ohne zu wissen, daß sie ihn meinten. Und derweil hockt das Ding bei ihm und macht sich breit und behandelt ihn dreckig.

Am Tag seiner Freilassung, schwor er, würde er auf sie warten. Und dann.

Entscheidend war die Taktik. Reue mußte er zeigen, nicht zuviel, damit er sich im Gerichtssaal nicht vor Selbstverachtung übergeben mußte. Etwas Reue, und dazu brauchte er eine angemessene Stimme. Er mußte gelassener sprechen, nicht gleichgültig, herablassend, weniger direkt als üblich. Üblicherweise sprach er die Dinge direkt aus, das wußten alle, die ihn kannten.

Du mußt dich zügeln, dachte er, denk an das Ding und daran, was passieren wird.

Die Bibel, dachte er. Er würde einige Stellen auswendig lernen und sie bei Gelegenheit einfließen lassen. Unaufdringlich, nicht devot, auf keinen Fall kriecherisch und bigott. Das würde er schaffen.

Er trat gegen die Zellenwand. Und weil er gerade bei Laune war, noch ein zweites und drittes Mal.

Zwei, drei Monate, schätzte er, müßte er Geduld aufbringen, dann würde der Prozeß beginnen. Und das Ding würde gegen ihn aussagen, aber nur, was die Entführung betraf, die war nicht zu leugnen. Und wenn sie ansonsten bei der Wahrheit blieb, dann.

Er hob das kleine schwarze Buch vom Steinboden auf und setzte sich auf das untere Bett. In dem nach Waschpulver riechenden, frisch gewaschenen elastischen Blaumann fühlte Arthur Fallnik sich mit seinem Übergewicht besonders wohl.

Sie werden euch aus der Synagoge ausstoßen, las er, ja, es kommt die Stunde, in der jeder, der euch tötet, meint, Gott einen heiligen Dienst zu leisten. Das werden sie tun, weil sie weder den Vater noch mich erkannt haben. Ich habe es euch gesagt, damit ihr, wenn deren Stunde kommt, euch an meine Worte erinnert …

 

Lieber Lindafinder, in der Zeitung habe ich gelesen, daß Sie ein ehemaliger Mönch sind. Jetzt wundere ich mich nicht mehr, daß Sie mich gefunden haben. Einsame Menschen haben einen Blick für andere einsame Menschen. Aber ich weiß gar nicht, ob ich wirklich einsam bin. Oder Sie. Vielleicht sind wir einfach nur am meisten am Leben, wenn wir für uns sind.

Meine Eltern fragen mich immer noch unaufhörlich aus, und was ich auch antworte, sie glauben mir nicht. Weil sie mich nicht verstehen. Das macht nichts. Gibt es Eltern, die ihre Kinder verstehen? Und ist das überhaupt notwendig?

Mit Ihnen würde ich mich gern noch einmal unterhalten, Sie haben versprochen, mich zu besuchen, und darüber würde ich mich freuen. Aber ich glaube, wir sollten uns nicht bei mir zu Hause treffen, da sind meine Eltern und mischen sich ein und schütten Sie mit Fragen zu und stehlen uns die Luft. Mit Ihnen wäre ich lieber woanders.

Wie wäre es, wenn Sie mal an einem Freitag oder Samstag in den Jennerwein kämen? Da könnten wir uns ans Fenster setzen und uns unterhalten. Oder nur dasitzen und schweigen, was noch schöner wäre. Natürlich würden Sie den Altersdurchschnitt ziemlich anheben, und die anderen werden Sie wahrscheinlich etwas seltsam anschauen. Nur am Anfang, das verspreche ich Ihnen, die Leute da sind nicht aufdringlich oder stellen dämliche Fragen. Hoffentlich ist Ihnen die Musik nicht zu laut, Ihr Musikgeschmack ist bestimmt komplett anders. Was halten Sie von der Idee?

Außerdem wollte ich Ihnen noch sagen, daß ich froh bin, daß Sie mich nicht am Wegrand liegen gelassen haben. Das wollte ich Ihnen schon vorgestern im Verhör in Ihrem Kommissariat sagen, aber da waren Ihre Kollegen dabei, und da habe ich mich nicht getraut. Wenn Sie nicht gekommen wären, würde ich immer noch bei Arthur wohnen, und das wäre dann auch richtig. Trotzdem fühle ich mich jetzt ichiger als vorher. Im eigenen Zimmer zu sein ist besser als in einem fremden.

Leider muß ich mein Zimmer dauernd verlassen, wegen meiner Eltern und wegen der Schule, in die ich ab nächster Woche wieder gehe. Das wird ein Geschrei geben. Ich werde allen Sprechverbot erteilen, vor allem Stefanie. Es müßte eine Regelung im Leben geben wie im Straßenverkehr: Wer zu oft falsch spricht, bekommt die Stimme entzogen wie einen Führerschein, und je nachdem, wie falsch das Falsche war, das er gesprochen hat, desto höher die Strafe, desto länger muß er die Stimme abgeben.

Ich weiß schon, jetzt lachen Sie mich aus. Lachen Sie überhaupt? Sie haben so etwas Ernstes, fast Feierliches in Ihrem Wesen, das kommt wahrscheinlich noch vom Kloster.

Lieber Herr Polonius, wenn Ihre Zeit und Ihre Funktion es erlauben, würde ich mich sehr freuen, wenn Sie in den Jennerwein kämen, um mit mir ein Bier zu trinken. Ich bin jeden Freitag- und Samstagabend dort, und damit Sie nicht erst einen Stadtplan suchen müssen: Das Lokal liegt an der Ecke Clemens- und Belgradstraße.

Ich erwarte nichts von Ihnen, ich möchte Sie nur gern treffen, weil Sie so unmaskiert mit mir gesprochen haben, Sie hätten auch etwas ganz anderes sagen oder mich beschimpfen oder verurteilen können. Vielleicht sind Sie der erste Mensch, der mich nicht verurteilt hat, bloß weil ich so bin.

Und noch etwas: Vorhin habe ich aus dem Fenster geschaut, weil ich die Sterne sehen wollte. Es waren keine da, aber ich habe sofort gedacht: Ich aber schon!

Ist das nicht eigenartig? Ich bin da, habe ich gedacht, und das war eigentlich ein Unding. Aber ich habe es mehrmals gedacht, vier- oder fünfmal hintereinander. Können Sie mir erklären, warum?

Es grüßt Sie sehr herzlich: Linda, Erdbewohnerin.