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Das ONW-Prinzip

In dem Gebäude aus dem sechzehnten Jahrhundert brannte jeden Tag bis nach Mitternacht Licht. Während nebenan die letzten Besucher eines Konzerts das mittelalterliche, ehemalige Zerwirkgebäude verließen und durch die Altstadt zur U-Bahn am Marienplatz eilten, saßen elf Kommissare und Kommissarinnen an ihren Schreibtischen, über Computerausdrucke, Fotos, Ermittlungsakten gebeugt, und verglichen die Spuren zweier Mordfälle.

Die Fahnder stellten Verbindungen her, die sie noch nicht beweisen konnten. Sie schüttelten den Kopf über widersprüchliche Zeugenaussagen und die unheimliche Gemeinsamkeit der Verbrechen: das große Schweigen im Umkreis der Opfer und – vor allem im Fall Fehring – die Abwesenheit echter Trauer.

Entweder stand – wie bei dem Toten aus dem Müllhäuschen – die Identität noch nicht eindeutig fest und die Tatsache, daß in einem Wohnblock mit mehreren hundert Mietern eine Leiche entdeckt worden war, schien niemanden zu erschüttern. Oder die Freunde – wie bei dem Erstochenen vom Oktoberfest – schoben ihre Erinnerungslücken auf den Alkohol und zuckten mit den Achseln, wenn sie nach ihrer Beziehung zu dem Toten gefragt wurden. Und dessen ehemalige Lebensgefährtin gab sich nicht weniger wortkarg.

Daß Fischer mit Clarissa Weberknecht nach dem Mord an Fehring bereits zum zweitenmal innerhalb von fünfzehn Monaten zu tun hatte, beschäftigte ihn ebenso stark wie die Aussagen von Fehrings Freunden, nach denen offenbar ein weiterer Mann im Spiel war. Er hieß Max, sie nannten ihn Maxe, und die Hobbyfußballer hatten ihn ein paarmal gesehen und mit ihm sogar ein Bier getrunken. Wie er jedoch mit Familiennamen hieß und welchen Beruf er ausübte oder wo er wohnte, wußten sie nicht. Er habe sich fast ausschließlich mit Fehring unterhalten und ansonsten wenig gesprochen.

Den Namen dieses Mannes, hatte Clarissa in der ersten Vernehmung nach dem Tod ihres Freundes ausgesagt, habe Hans ihr gegenüber nie erwähnt, sie hätte sich bestimmt daran erinnert. Warum würden Sie sich daran erinnern? hatte Fischer gefragt, und sie hatte erwidert: Weil Hans mir alles erzählt hat.

Max. Maxe.

Niemand konnte ihn brauchbar beschreiben. Schlank sei er, groß, mittelgroß. Haarfabe? Schwer zu sagen. Möglich, daß er gehinkt hat. Ja, eigentlich habe er auf die Wiesn mitkommen wollen, aber es sei ja klar gewesen, daß er nicht kommt. Warum war das klar? Weil’s eben klar war, er hat ja auch nicht Fußball gespielt. Wenn er sich mit jemandem unterhalten habe, dann mit Hans. Worüber? Keine Ahnung.

Keine Ahnung.

Unzählige Male tauchte diese Formulierung in den Berichten auf, die Fischer und seine Kollegen wieder und wieder studierten.

Wie haben Fehring und Max sich kennengelernt?

Ich glaub, am Nockherberg, sagte einer.

Wann?

Keine Ahnung.

Irgendwelche Eigenschaften, Merkmale, Ticks, spezielle Ausdrucksweisen?

Keine Ahnung.

Zum fünftenmal lasen Fischer und Micha Schell ihre eigenen Vernehmungsprotokolle durch. Sie betrachteten die Skizzen auf der Papiertafel und mißtrauten mittlerweile jeder Zeichnung, jedem Pfeil, jedem Namen hinter oder vor einem Pfeil, jeder Uhrzeit.

Fünf Tage nach der Ermordung von Hans Fehring am Westhang des Oktoberfestes gelang dem Kommissariat III endlich die eindeutige Identifizierung des Toten aus Milbertshofen. Der Mann war ebenfalls vor fünf Tagen gestorben.

 

Ein meist unter der Witteisbacher Brücke hausender Obdachloser bestätigte gegenüber den Hauptkommissaren Gesa Mehling und Neidhard Moll, daß Jo – wie er richtig hieß, interessierte niemanden – seinem alten Stadtviertel Milbertshofen einen Besuch abstatten wollte, aus Gründen, über die er nicht sprach. Zur gleichen Zeit machten Georg Ohnmus und Sigi Nick vier weitere Stadtstreicher ausfindig, die ihren Kumpel auf dem Foto eindeutig wiedererkannten und von seiner Vergangenheit als relativ wohlhabender Geschäftsmann wußten.

Über Nachbarn in der Hohenwaldeckstraße, die sich an Josef Nest erinnerten, stieß Walter Gabler auf zwei Zahnärzte, von denen einer noch Unterlagen über seinen ehemaligen Patienten besaß. Daraufhin konnte Dr. Dornkamm das Zahnschema des Toten aus dem Müllhäuschen zuordnen und seinen Bericht abschließen.

Demnach wurde in der Nacht zum Montag, dem vierundzwanzigsten September, der zweiundsechzigjährige Josef »Jo« Nest in der Wohnanlage zwischen Anhalter Straße und Riesenfeldstraße erschlagen. Und zwar in derselben Nacht, in der wenige Stunden zuvor der in der gleichen Anlage wohnende neunundfünfzigjährige Steuerberater Hans Fehring erstochen worden war.

 

Liz Sinkel und Esther Barbarov hatten inzwischen alle Mieter angetroffen und befragt – mit Ausnahme eines einzigen: des achtundsechzigjährigen Rentners und ehemaligen Detektivs Bertold Gregorian.

Nach Meinung der wenigen Nachbarn, die Gregorian überhaupt kannten oder wenigstens einmal mit ihm gesprochen hatten, war er eine verhuschte Gestalt ohne nennenswerte Eigenschaften. Rupert Soltersbusch gab zu, mit Gregorian manchmal im Marienstüberl über irgend etwas Alltägliches gesprochen zu haben, ansonsten hätten sie aber keinen Kontakt gehabt und beidseitig auch nicht gewünscht.

Für Maria Brenecke, die Wirtin des Stüberls, gehörte Gregorian zu jenen Gästen, die man am ehesten als Stammgäste gewinne, wenn man sie in Ruhe ließ und keine unnötigen Fragen stellte. Sie glaube, fügte sie hinzu, daß er Probleme mit einem Bein habe, mit welchem, könne sie beim besten Willen nicht sagen. Schließlich würde sie ihre Gäste nicht heimlich beobachten.

Seit der Nacht, in der Fehring und Nest gestorben waren, hatte niemand Bertold Gregorian gesehen. Das bedeutete einerseits nichts, weil ihn vorher schon kaum jemand zu Gesicht bekommen hatte. Andererseits könnte es etwas bedeuten, und nicht nur Neidhard Moll weigerte sich, an einen Zufall zu glauben.

 

Zum zweitenmal in dieser Nacht – Samstag, 30. September, 0.15 Uhr – kroch Polonius Fischer auf allen vieren durch sein Büro. Er schob die beschriebenen, bekritzelten, mit roten, blauen und schwarzen Stiften bemalten Blätter, die er auf dem Boden ausgebreitet hatte, hin und her, legte an einer Stelle drei aufeinander, an anderer Stelle zwei nebeneinander, fegte mit dem Arm Blätter zur Seite und lehnte sich schließlich – nachdem er zuerst einen Zettel herausgegriffen, dann einen anderen genommen und den ersten achtlos fallengelassen hatte – an seinen Schreibtisch und winkelte die Beine an.

Er warf den Kopf hin und her und bleckte die Zähne.

Die Ärmel seines ultramarinblauen Hemdes hatte er hochgekrempelt und seine Schuhe ausgezogen und den Knoten seiner bordeauxroten Krawatte gelockert.

Die Bürotür war geschlossen, Walter Gabler vor kurzem nach Hause gegangen.

Drüben besprachen Weningstedt und Schell das weitere Vorgehen in einer Sache, von der die Kommissare erst an diesem Nachmittag erfahren hatten und die ihren Ermittlungen möglicherweise neue Schubkraft verlieh, in eine vollkommen unerwartete Richtung.

Aus dem Wust seiner Aufzeichnungen hatte Fischer das im Querformat beschriebene Blatt mit den Stichpunkten zum altbewährten ONW-Prinzip herausgefischt.

O für offensichtlich: die Tatwaffen (Messer, bisher unbekannt – Steinvase), Verhalten des Täters nach der Tat (Verstecken der Leiche im Müllcontainer – Drapieren der Leiche als Alkoholleiche), keine Zeugen trotz Umfeld (Mieter – Oktoberfestbesucher), Tatzeit (dieselbe Nacht, innerhalb weniger Stunden), keine konkreten Hinweise auf den Täter.

N für naheliegend: Jo Nest im Affekt, im Streit oder dergleichen erschlagen, keine Indizien für ein geplantes Verbrechen – Hans Fehring nicht im Streit oder bei einem Raubüberfall erstochen, in seinem Geldbeutel steckten dreihundertfünfzig Euro, der Täter wäre nach einer Tat im Affekt geflüchtet und hätte die Leiche nicht sorgsam im Gras abgelegt.

W für wahrscheinlich: Täter und Opfer kannten sich, klare Mordqualifikation in beiden Fällen, Heimtücke und niedere Beweggründe, Ort und Zeit sprechen dafür, die Täter stammen aus der näheren Umgebung, verfolgen möglicherweise das Geschehen.

Und dann waren Emanuel Feldkirch und Gesa Mehling im Bekanntenkreis von Hans Fehring auf eine eigenartige Verbindung zwischen dem Opfer und einem Mann gestoßen, dessen Beschreibung plötzlich in einem anderen Umfeld ebenfalls auftauchte. Mika Petrov, der Türsteher im Club Dinah, hatte etwas gesagt.

Aufgesucht hatten sie ihn wegen Fehring, aber auch – ohne es ausdrücklich zu betonen –, um Clarissas Alibi zu überprüfen und sich nach ihren Lebensgewohnheiten zu erkundigen. Dabei erinnerte sich Petrov an einen älteren, blaß und krank aussehenden Mann. Der sei mit einem grauen Opel wiederholt auf den Parkplatz gefahren, kurz ausgestiegen und wieder weggefahren. Ein- oder zweimal habe der Mann zwar geklingelt, sei aber nicht reingelassen worden. Warum nicht? hatte Feldkirch gefragt. Und Petrov: Schlechte Erscheinung, Ärger im Blick, so was erkenn ich sofort.

Clarissa Weberknecht hatte auf die Frage, ob sie eine Vorstellung habe, um wen es sich handeln könne, gelangweilt reagiert: Daß alte Männer um ihr Haus herumstreunten, sei normal, einer der Nachbarn sitze jeden Abend mit einem Opernglas hinter der Gardine. Einmal habe sie ihn zufällig auf der Straße getroffen und ihn eingeladen, da sei er tatsächlich vor ihr davongelaufen, die Levelingstraße hinunter, wie ein Kind. Dabei sei er mindestens fünfundsiebzig.

Woher sie wisse, daß der Mann im grauen Opel alt sei. Das habe ihr Mika erzählt. Dann entschuldigte sie sich kühl bei den Kommissaren. Sie habe in letzter Zeit kaum geschlafen, der Tod ihres Mannes, mit dem sie zwar nicht verheiratet, der aber seit vielen Jahren ihr einziger Freund gewesen sei, quäle sie Tag und Nacht. Sie habe schon überlegt, den Club eine Weile zu schließen und über ihr Leben nachzudenken. Aber das, hatte sie mit gequältem Lächeln hinzugefügt, könne sie sich nicht leisten, die Geschäfte liefen nicht besonders gut.

Für Micha Schell stand fest, daß die Frau log, was den Mann im grauen Opel betraf.

Polonius Fischer mißtraute ihr seit dem tödlichen Unfall vor einem Jahr, und das hatte ihm nichts genützt – bisher.

So oberflächlich die von Liz und Esther in der Riesenfeldstraße zusammengetragenen Personenbeschreibungen auch waren, sie ähnelten den Aussagen anderer Zeugen. Und eingedenk der provozierenden Verkettung von Lebensumständen in beiden Mordfällen riskierte Fischer an diesem Freitagabend – vorerst nur im engsten Kreis – eine Vermutung: Der seit fünf Tagen unauffindbare Bertold Gregorian war mit dem Max oder Maxe genannten Freund des erstochenen Hans Fehring identisch. Das wiederum würde bedeuten, daß Clarissa Weberknecht log. Log mit ihrer Behauptung, sie kenne keinen Max und habe keine Ahnung, wer der Mann im grauen Auto gewesen war.

Außerdem wartete Fischer auf den Anruf eines Streifenpolizisten aus Milbertshofen.

 

Auf dem Boden hockend, füllte Fischer mit seiner ausufernden Schrift eine weitere Seite des karierten Blocks.

Wenn Clarissa Weberknecht gelogen hatte, hieß das im extremsten Fall: Sie kannte den Mörder ihres Lebensgefährten.

Warum deckte sie ihn?

Wenn Gregorian Hans Fehring erstochen hatte – aus welchem Grund? Und warum wußte niemand von der Bekanntschaft der beiden?

Eine wußte davon: Clarissa.

Wo war Gregorian jetzt? Warum nannte er sich Max?

Und der Tod des Stadtstreichers Josef Nest? Zwischen ihm und Fehring existierte nicht die kleinste Verbindung, ebenso wenig zwischen Nest und Clarissa.

Auf dem Foto hatte Mika Petrov den ehemaligen Werkstattbesitzer nicht erkannt und erklärt, er sei sicher, den Mann nie gesehen zu haben. Clarissa behauptete dasselbe.

Dann rief der Streifenpolizist aus Milbertshofen an.

In einer Parkbucht an der Riesenfeldstraße stehe ein grauer Opel Vectra mit dem Kennzeichen M-EK 3027, der Wagen sei auf einen Bertold Gregorian zugelassen, an der Windschutzscheibe klemme seit drei Tagen ein Strafzettel. Fünfzig Euro.

Fischer bat den Polizisten, das Auto zu fotografieren und auf weitere Anweisungen zu warten.

 

Obwohl der Ermittlungsrichter von den Indizien, die Fischer, Weningstedt und Schell ihm gegen ein Uhr nachts vorlegten, nicht hundertprozentig überzeugt war, genehmigte er aufgrund der Schwere der beiden Verbrechen und der dubiosen Koinzidenzen eine Hausdurchsuchung.

Eine Stunde später öffnete ein Mitarbeiter des regelmäßig für die Kripo arbeitenden Schlüsseldienstes die Wohnungstür von Bertold Gregorian.