26
Eine winkende
Hand
Jetzt hat er seine Bibel vergessen«, sagte Linda. »Die hilft ihm sowieso nichts mehr. Dem Arthur.«
»Ich werde meine Kollegen nicht länger vertrösten können«, sagte Polonius Fischer.
»Trösten Sie lieber mich.«
»Wie fühlen Sie sich, Linda? Soll ich einen Arzt kommen lassen?«
»Ich fühle mich überhaupt nicht. Bevor Sie da waren, habe ich mich noch gefühlt, jetzt nicht mehr.« Sie hockte auf dem Bett, ans Gestell gelehnt, die weiße Decke über den angewinkelten Beinen, das Kinn auf den Knien.
»Unser Gespräch ist inoffiziell, Sie werden alles, was Sie mir sagen, im Präsidium noch einmal erzählen müssen, und noch viel mehr. Ich bin für Ihre Vernehmung nicht zuständig.«
»Das macht doch nichts. Ich geh hier nicht weg, wieso verstehen Sie das nicht?«
»Weil ich es nicht kann«, sagte Fischer.
»Was?«
»Ich kann nicht verstehen, warum Sie hier nicht wegwollen.«
»Das ist doch leicht zu verstehen. Hier ist mein Zuhause. Ich lebe hier. Ich lerne aus Büchern. Meine Schulsachen liegen drüben im Wohnzimmer. Ich komme zurecht, Herr Kommissar.«
»Sie waren acht Monate lang eine Gefangene, Linda.«
Eine Zeitlang schwieg sie, rieb ihr Kinn auf der Bettdecke, wandte den Kopf ab. »Nur am Anfang«, sagte sie dann wieder. »Ich hab geahnt, daß er zurückkommen und mich holen würde.«
»Sie kannten den Mann?«
»Wir haben uns in der Silvesternacht im Luitpoldpark getroffen.«
Fischer mußte an Schells Worte denken und verlor für einen Moment die Konzentration. Er stand immer noch im Zimmer, die Hände in den Manteltaschen. Er sollte das Mädchen endlich mitnehmen, dachte er, raus aus dem Verlies, und sie zu ihren Eltern bringen.
Statt dessen setzte er sich auf die Bettkante.
»Ist Ihnen nicht zu warm?« sagte Linda.
»Nein.« Er hatte längst angefangen zu schwitzen. »Und wo haben Sie sich wiedergetroffen?«
»Am ersten Schultag. Er hat auf mich gewartet.«
»Hat er Ihnen das gesagt?«
»Er sagte, er war zu Besuch bei einem Freund, der in der Nähe wohnt und einen Unfall hatte. Aber das hab ich nicht geglaubt. Arthur ist ein lausiger Lügner. Spätestens, wenn er was getrunken hat, gibt er seine Geheimnisse alle preis.«
»Sind Sie in sein Auto gestiegen?«
Auch die vage Aussage einer alten Frau, die ihren Hund Gassi geführt hatte und in der Hiltenspergerstraße eine Schülerin beobachtet haben wollte, die in ein Auto gestiegen sei und auf die die Beschreibung eventuell passen könnte, hatte ihre Ermittlungen nicht vorangebracht. Und nun schienen die Fenster wie bei einem starken Windstoß wie von selber aufzugehen.
»Er hat mich gefesselt«, sagte Linda. »Und geschlagen. Er spielte den Entführer, er hatte alles vorbereitet. Er hat mir sogar den Mund verklebt, wie im Fernsehen. Dafür habe ich ihm später eine Ohrfeige gegeben. Volldepp, wie Arthur zu sagen pflegt.«
»Erinnern Sie sich an die erste Nacht in dieser Wohnung?«
»Ja.«
»Wollen Sie nicht darüber sprechen?«
»Nein.«
»Dann müssen Sie ein andermal darüber sprechen.«
»Bestimmt nicht.« Sie seufzte, und es klang nicht schwermütig, eher wie nach einem Kind, das einen schönen Gedanken hat.
»Meine Kollegen werden Ihnen nicht glauben, daß Sie freiwillig hiergeblieben sind.«
Wie ein Kind strahlte sie ihn an und klatschte in die Hände.
»Aber das spielt doch gar keine Rolle. Mir glaubt seit hundert Jahren niemand. Die denken, was ich sage, das ist alles Görenmist. Was so eine eben so labert. Das sagen die Richtigen. Das sagen genau die, die nie in ihrem eigenen Leben ankommen werden, sondern ihr verkehrtes so lange weiterleben, bis sie ins Grab fallen, und dann ist sogar ihr Tod verkehrt. Weil es ja gar nicht ihr eigener ist. Und weil sie zu feige sind, sich rechtzeitig umzubringen, tricksen sie sich lieber aus und spielen ihre Rollen und nehmen sich wichtig.«
Mit großen Augen sah sie ihn an, mit geröteten Wangen und einem frohen Gesichtsausdruck.
»Es geht Ihnen also gut«, sagte Fischer.
»Mir geht es gar nicht, hören Sie mir nicht zu? Solange Sie hier sind, bin ich im Stillstand, ich tu nur so, als würde ich mit Ihnen reden. In Wirklichkeit bin ich stumm, das kriegen Sie nicht mit, ich hab Ihnen ja meine Stimme dagelassen. Aber ich bin nicht da. Ich lieg immer noch in der Badewanne und räkele mich und überlege mir, ob ich eine vegetarische Pizza oder doch besser eine Quattro stagioni auftauen soll, die schmeckt nach was und ist würzig. Arthur mag die auch lieber. Wir sind beide keine Gesundheitsfreaks. Möchten Sie einen Kartoffelchip? Sind nur mit Salz, kein Paprika.«
»Nein«, sagte Fischer. »Und später haben Sie freiwillig mit dem Mann geschlafen.«
»Sie dürfen ihn Arthur nennen. Ja, aus freien Stücken. Das hat ihn ziemlich geschlaucht, und es hat auch keinen Spaß gemacht. Er war ein echter Rüpel, das hab ich ihm auch ins Gesicht gesagt, mitten drin. Er hat sich dann bemüht. Wurde nicht viel besser. Irgendwann haben wir es noch einmal versucht, das war irgendwie lockerer, aber auch nicht prickelnd. Als er zu mir gesagt hat, er hätte sich schon gedacht, daß ich keine Jungfrau mehr wär, hat er mein Knie zu spüren gekriegt, da, wo’s weh tut. Er hat geheult, der Arme. Tat mir dann wieder fast leid. Was der für ein verkehrtes Leben geführt hat all die Jahre. Und da wollte er raus. Deswegen haben wir uns in der Silvesternacht getroffen. Das war kein Zufall, das war Fügung. Sie glauben das nicht, denn Sie sind Polizist und Beamter und müssen immer alles beweisen und logisch zusammenbauen, damit Ihr Beruf einen Sinn ergibt. Aber wir haben uns entschieden, das verkehrte Leben ein für allemal loszuwerden, bei uns passieren andere Dinge, größere Dinge, das passiert alles in einem magischen Zusammenhang, und wir brauchen gar nichts weiter zu tun, als uns zu trauen. Trauen müssen wir uns, sonst wären wir ja dieselben Feiglinge wie früher. So funktioniert das, Herr Kommissar. Möchten Sie wirklich keine Chips?«
Sie griff in die Tüte. Dann zog sie die Hand leer wieder heraus. »Ich warte, bis Sie weg sind. Ihre Kollegen sind bestimmt schon voll ungeduldig.«
»Haben Sie Ihre Eltern nicht vermißt?« fragte Fischer. Die Antwort wußte er im voraus.
»Nein«, sagte sie.
»Und Ihre Freundinnen, Ihre Freunde? Ellen zum Beispiel.«
»Die kennen Sie? Ich habe niemanden vermißt.«
»Ellen hat dich schon vermißt.«
Er hatte sie aus Versehen geduzt, aber es schien ihr egal zu sein.
»Weil sie mich für jemand anderen hält.« Linda legte den Kopf schief und sah Fischer von unten herauf an.
»Für wen halten Sie Ihre Freunde?« fragte er.
»Für Linda, die Fügsame, Linda, die Gelehrsame, für Linda, die Lächelnde, Linda, die Versteherin, Linda, die Respektvolle, Linda, die Zuvorkommende, Linda, die Höfliche, Linda, die Rücksichtsvolle, Linda, die Sachliche, Linda, die Positive, Linda, die Konstruktive, Linda, die Pünktliche, Linda, die Zuverlässige, Linda, die Saubere, Linda, die Soziale, Linda, die Sportliche, Linda, die Suppenkasperin. Jetzt wissen Sie, für wen mich die anderen halten.«
»Du hast Linda, die Verlorene, vergessen«, sagte Fischer.
»Ich bin nicht verloren.«
»Du bist das verlorenste Mädchen, dem ich jemals begegnet bin.«
»Was wissen Sie denn vom Verlorensein? Sie sind Polizist.«
»Du hast sogar deinen Schatten verloren, Linda, du hast alles verloren, was du je hattest. Und deswegen willst du hierbleiben, hier findet dich niemand, hier bist du vollkommen für dich, hier kannst du dich in deiner Verlorenheit baden. Und hier brauchst du nicht einmal einen Schatten, weil in dieser Wohnung nie die Sonne scheint. Und wenn du nach draußen gehst, ist es Nacht. Aber jetzt bin ich da. Und sehe ich aus wie jemand, der Linda, die Verlorene, am Wegrand liegen läßt? Glaubst du, ich laß dich hier liegen? Glaubst du, ich sorge mich nicht um dich?«
»Warum denn? Wieso denn? Sie sind Polizist.«
»Ich bin Polizist und noch hundert andere. Ich bin Polonius, der Merkwürdige, Polonius, der Beter, ich bin Polonius, der Flucher, ich bin Polonius, der Geher, Polonius, der Sucher, Polonius, der Ungeduldige, ich bin Polonius, der Geduldige, Polonius, der Schweigenhasser. Ich bin Polonius, der Lindafinder.«
»Der Lindafinder«, sagte sie leise. Unter der Bettdecke zitterten ihre Beine, sie umklammerte sie, so fest sie konnte, aber sie zitterten noch stärker.
»Und wenn ich dir verraten würde, wie ich dich gefunden habe, würdest du denken, ich rede wirr. Denn vielleicht habe ich dich gefunden, weil da eine Fügung war, die ich nicht verstehe. Aber du hast mir erklärt, daß man so etwas nicht verstehen muß, und darum bin ich eigentlich beruhigt. Merkwürdig ist es trotzdem.«
»Wie haben Sie mich denn gefunden?« Ihre Stimme verließ kaum ihren Mund.
»Das hängt mit dem Verbrechen zusammen, das unten im Hof geschehen ist«, sagte Fischer und wartete, bis sie ihn ansah. »Und wenn das Verbrechen nicht hier geschehen wäre, sondern anderswo, dann hätte ich dich vielleicht immer noch nicht gefunden. Über all das will ich bei Gelegenheit nachdenken. Was werden deine Eltern sagen?«
Linda streckte die Beine aus, schaute hin, zog sie wieder an den Körper und streckte sie noch einmal. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und atmete mit halboffenem Mund.
»Meine Eltern, die werden sagen: Da bist du ja wieder, als würden sie sich freuen, und mein Vater wird hundert Fotos von mir knipsen und sie an die Zeitungen verkaufen. Und Sie wird er auch knipsen, wenn Sie Pech haben, weil Sie ja mein Retter sind.«
»Ich laß mich nicht knipsen«, sagte Fischer.
»Sie kann man sowieso nur hochkant abdrucken, so groß wie Sie sind.« Sie lächelte nicht, sie schaute ihn nur an, aus hellen, unruhigen, fiebrigen Augen. Nach einem Schweigen, in dem sie, wie Fischer glaubte, nach Atem rang, sagte sie: »Da in der Nacht, nach Silvester, als ich begriffen hab, daß mein Leben so nicht weitergehen kann, waren lauter Sterne am Himmel. Ich hab hochgeschaut und bin erschrocken, weil die Sterne so nah waren, oder so riesig, oder so hell. So hell waren die, und die hingen da oben in ihrer magischen Ordnung, und ich hab gedacht, ich bin auch ein Stern und seit tausend Jahren erloschen, und alle bilden sich nur ein, mich zu sehen. Die können mich doch gar nicht mehr sehen, weil es mich nicht mehr gibt. Seit tausend und abertausend Jahren und vielleicht noch nie. Vielleicht, hab ich gedacht, bin ich noch gar nicht auf der Welt, das kommt erst noch, weißt du, ich bin erst im Entstehen, alles, was ich habe, ist ein Schatten, und den sehen die Leute und denken: Hey Linda, gut schaust aus, und ich schminke mich und zieh mir coole Klamotten an. Hey Linda, rufen die Leute, und Niko schenkt mir eine Zigarette und Ellen bringt mir im Jennerwein ein frisches Bier, und sie alle kapieren nicht, daß da ein Schatten sitzt. Merken die nicht. Ich trink mit ihnen und zieh mit ihnen um die Häuser und zu Hause setz ich mich zu meinen Eltern und erzähl was aus der Schule, und alle denken: Linda, die Strebsame, Linda, die Kommunikative. Aber ich bin nicht kommunikativ, ich sag auch keinen Ton, eine Stimme habe ich ja noch nicht, die kommt ja erst noch, in tausend Jahren oder abertausend. Bloß der Schatten ist schon da. Linda, die Richtige, die gibt’s noch nicht. Die kann niemand sehen. Kein Mann, kein Mensch, kein Hund.«
»Ich sehe dich, Linda«, sagte Fischer.
»Das glaub ich nicht.«
Aber ihre Stimme war nicht überzeugt.
»Ich sehe dich, ich sehe dich, wie du wirklich bist.«
»Wie denn?«
»Ich kann dein Herz sehen.«
»Das kann niemand.«
»Dein Herz ist eine winkende Hand.«
»Mein Herz ist keine Hand, und die winkt auch nicht.«
»Dein Herz ist eine winkende Hand«, sagte Fischer.
»Nein.«
Schweigen für Sekunden.
»Nein«, rief Linda. »Du lügst. Du lügst.«
Sie keuchte mit offenem Mund, schniefte und kratzte sich mit beiden Händen am Kopf, blinzelte heftig, zuckte zornig mit den Beinen. »Du hast alles kaputtgemacht«, schrie sie.
Dann war es still.
Zehn Minuten lang sprach niemand ein Wort.
Allmählich atmete Linda ruhiger, die Zuckungen ihres Körpers ließen nach. Fischer legte die Hand auf die Bettdecke und spürte Lindas Beine darunter.
»Ich bin schuld, daß Arthur ins Gefängnis muß«, sagte sie und nickte.
»Diesen Satz möchte ich von Linda, der Wahrhaftigen, nie mehr hören«, sagte Fischer. »Hast du mich verstanden?«
Erst im Treppenhaus, eingehüllt in ihren nach Leder und Zigarettenrauch riechenden, fast bodenlangen Mantel und mit der schwarzen Wollmütze, die sie sich tief ins Gesicht gezogen hatte, murmelte sie, als Fischer sie ein drittes Mal fragte, etwas, das klang wie ein Ja.
Für Esther Barbarov und Liz Sinkel begann mit der Wendung der Ereignisse eine Finsternis weit über diese Nacht hinaus. In der ersten Stunde, nachdem die beiden Frauen von Micha Schell erfahren hatten, daß Linda Gabriel in eine Wohnung in der Riesenfeldstraße verschleppt worden war, wußten sie nicht, wohin mit ihrem Schrecken und ihrer Schuld. Unabhängig voneinander liefen sie von einem Stockwerk ins andere, standen wortlos in Valeries Büro, baten um ein persönliches Gespräch mit Silvester Weningstedt, das sie dann auf später verschoben, begegneten sich im Treppenhaus, unfähig, einen Satz zu wechseln, und konnten schließlich nur durch die strenge Ermahnung ihres Vorgesetzten zur Ruhe gebracht werden. Weningstedt schloß die Tür seines Büros, auch die des Raumes, in den der lange Besprechungstisch hinüberragte, und bot den Kommissarinnen Cognac an. Sie lehnten ab. Sie starrten die grüne Kaffeetasse auf dem Schreibtisch an, als wäre sie eine Monstranz. Mehrmals mußte der Erste Kriminalhauptkommissar seine Stimme erheben, bis er eine Antwort erhielt.
»Ich dulde in meiner Abteilung keine Selbstgeißelungen«, sagte er.
Er setzte sich, stutzte und stellte die Tasse hinter einen Aktenordner, so daß die Frauen sie nicht mehr sehen konnten.
»Ihr wart auf Zeugensuche, ihr habt mit dem Mann gesprochen, und ihr hattet nicht den kleinsten Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen dem Mord an dem Stadtstreicher und der Entführung der Schülerin. Und wenn es stimmt, daß das Mädchen die meiste Zeit freiwillig dort verbracht hat, dann braucht ihr euch erst recht keine Vorwürfe zu machen. Drücke ich mich verständlich aus, Kolleginnen?«
»Wir hätten was merken müssen«, sagte Esther Barbarov.
»Wir wissen überhaupt noch nicht, was mit dem Mädchen los ist. Vielleicht leidet sie unter einem Trauma, sie ist noch nicht untersucht worden, wer weiß denn, ob das stimmt, was sie P-F erzählt hat? Wir haben versagt.«
»Versagt.« Liz wischte sich schon die ganze Zeit die feuchten Hände an ihrer Hose ab. Fassungslos blickte sie vor sich hin.
»Gemeinsam mit Hofmann werden wir eine Schilderung der Vorgänge ausarbeiten. Wir müssen offensiv vorgehen, wir dürfen nicht verschweigen, daß der Mann von uns befragt worden ist, wenn auch in einer anderen Sache. So etwas kann passieren.«
»So etwas kann nicht passieren«, sagte Esther. »Es ist ausgeschlossen. Solche Fehler sind unverzeihlich. Solche Fehler können Todesurteile sein.«
»Hör auf, dich reinzusteigern.« Es kam nicht oft vor, daß Weningstedt laut wurde, höchstens, wenn Schell seine Ausführungen über das Wesen des Alltagsmenschen zu weit trieb.
»Niemand wußte zu diesem Zeitpunkt, daß sich die beiden Fälle überschneiden. Wir arbeiten an zwei Mordfällen, und wir arbeiten gut, die Hauptverdächtige sitzt drüben im Präsidium in einer Zelle, und ihr habt zügige und souveräne Ermittlungen durchgeführt. Und wenn ihr jetzt nach Hause gehen wollt, gebe ich euch frei. Es wäre mir sogar recht. Morgen früh um acht beginnt P-F mit der Vernehmung von Clarissa Weberknecht, und wir werten weiter unsere bisherigen Spuren aus, und da erwarte ich dieselbe Konzentration wie bisher. Die Besprechung ist beendet. Mit dem Pressetext befassen wir uns morgen um sieben, also seid pünktlich.«
»Wir hätten etwas bemerken müssen«, sagte Liz.
»Wie denn?« Weningstedt hatte fast gebrüllt. Unwillkürlich wichen die beiden Frauen mit dem Kopf zurück. »Entschuldigung. Wenn das Mädchen aus freien Stücken bei dem Mann war, begreift ihr das nicht, dann hat sie sich freiwillig vor euch versteckt, dann hättet ihr sie überhaupt nicht bemerken können.«
»Die war doch nicht freiwillig bei dem«, sagte Esther Barbarov.
»Niemals«, sagte Liz Sinkel.
Tage und Wochen und Monate später glaubten sie es immer noch nicht.
In dieser Nacht wünschte er, sie wäre nebenan und schliefe mit einem friedlichen Schnaufen, wie so oft, und er könnte vor ihrem Bett knien und sie betrachten, weil sie am Leben war. Aber Isabel übernachtete bei ihrer besten Freundin, und es war Wochenende und sie fühlte sich dort geborgen, und alles war gut.
Das dachte Micha Schell, als er die Tür des Kinderzimmers einen Spaltbreit öffnete, wozu, das wußte er nicht.
Alles ist gut, dachte er und schloß die Tür und ging in die Küche und nahm die Wodkaflasche aus dem Eisfach und trank ein volles Schnapsglas und noch ein zweites.
Isabel war sieben Jahre alt und er fünfunddreißig, und wenn er zu Hause trank, nicht viel, aber genug, dann trank er auf seine Frau, die nicht mehr am Leben war, weil ein Bankräuber sie erschossen hatte. Und er trank auf seine Tochter, weil sie nur noch selten nachts weinte. Und er trank, weil er sonst hätte kotzen müssen, und er wollte kein kotzender Vater sein. Sondern ein guter.
In dieser Nacht wünschte er, Isabel wäre nebenan.