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Vielleicht vier Tränen im Fahrtwind

Anfang Februar fuhr er ihr zum erstenmal in seinem gerade gekauften, gebrauchten Opel Vectra hinterher. Auch im dichtesten Verkehr war ihr rotes Cabrio nicht zu übersehen, und wenn er sie einmal aus den Augen verlor, folgte er seiner Ahnung.

Nie zuvor hatte er über seine Ahnung oder etwas Ähnliches nachgedacht. Die Dinge passierten oder sie passierten nicht. Er stellte sich etwas vor und wurde enttäuscht, weil seine Vorstellung an der Wirklichkeit zerschellte wie die Titanic am Eisberg. Immer war er sofort einverstanden gewesen.

Logisch ist, was geschieht, dachte er voller Überzeugung, idiotisch bin nur ich.

So wie er sich als Dreizehnjähriger im Krankenhaus gewünscht hatte, sein Vater möge zur Tür hereinkommen und ihn bitten, ihm zu verzeihen, und ihm vielleicht einen Apfel mitbringen, oder Stachelbeeren, für die er sich verzehrte. Was sollte an so einem Wunsch logisch sein? Hinterher trommelte er mit dem Kopf aufs Kissen und weinte vor Wut auf sein blödes Gedenke und schlug mit der Gipshand gegen das Bettgestell und schrie und wurde von der Schwester beschimpft. Das war logisch. Mein Vater hat recht, dachte er dann in der Nacht mit grauenhaften Schmerzen im Arm und tief unter der Bettdecke vergraben, ich bin unnormal und er ist normal, und das war logisch.

Über etwas wie eine Ahnung, sein Standpunkt könne ein großer Irrtum sein, hätte er als junger Mann lauthals und verächtlich gelacht.

Auch ahnte er erst kurz vor seinem Tod, daß er zwar Detektiv geworden war, um unter Menschen zu sein – und diese Vorstellung erschien ihm im nachhinein plötzlich völlig unnormal –, daß er jedoch nie unter den Menschen angekommen war. Allenfalls ein einziges Mal und für sehr kurze Zeit. Vielleicht begnügte er sich deshalb bei seiner Gegenwehr im letzten Moment mit dem Heben der rechten, verunstalteten Hand und einem kindlichen Ausruf, für den er sich dann nicht mehr zu schämen brauchte.

Bei der Verfolgung Clarissas aber versetzte ihn seine neuentdeckte Ahnung in eine Art Rauschzustand.

Egal, ob sie von der vierspurigen Leopoldstraße überraschend in die Hohenzollernstraße einbog, wo sie ihren Wagen halb auf dem Bürgersteig parkte und wahllos durch Boutiquen bummelte. Egal, ob sie mit neunzig Stundenkilometern durch den Altstadttunnel raste und im dichten Verkehr ständig die Spur wechselte. Immer fand er sie wieder, zuerst ihr Auto, dann sie selbst, wenn sie ausgestiegen war. Immer blieb er ihr auf den Fersen, ohne daß sie Verdacht schöpfte oder er in Deckung gehen mußte.

Nur einmal, auf der Riesenfeldstraße, war er von einer anderen Frau, die ihn auf offener Straße ungeniert anlächelte, irritiert und abgelenkt und er bemerkte erst in letzter Sekunde, daß Clarissa sich umwandte. Er huschte in eine Einfahrt und rannte durch einen Innenhof, der genauso aussah wie der vor seinem Fenster, zum gegenüberliegenden Haus und erreichte durch eine weitere Zufahrt die Straße. Er lief so lange weiter, bis er sicher war, Clarissa würde ihn nicht verfolgen. Er haßte die Frau, die ihn abgelenkt hatte.

Dann passierte die Sache mit dem Gast im Club Dinah.

Gregorian las in der Zeitung darüber und wußte eine Zeitlang nicht, was er davon halten sollte. Der Mann war am Kreuz gestorben, nackt und freiwillig. Armes Schwein, dachte Gregorian, ich bemitleide ihn nicht. Clarissa hat den Mann geschlagen, gnadenlos, wie es ihrer Art entspricht, dachte Gregorian. Niemand kann mir einreden, der Mann sei einem Unfall zum Opfer gefallen.

Irgend etwas, vermutete Gregorian, wurde vertuscht, und nur Clarissa kannte die Wahrheit.

 

Wochenlang verließ Gregorian seine Wohnung nur einmal am Tag, nach Einbruch der Dunkelheit, um alle fünf in der Stadt erscheinenden Tageszeitungen zu kaufen. Bald fand er keine neuen Informationen mehr über den Toten im Club Dinah, überhaupt schien das Ereignis niemanden so zu beschäftigen wie ihn. Keine Nachbarn kamen zu Wort, keine Kunden, niemand aus dem Umfeld der Tatverdächtigen, die nicht einmal so genannt wurde, sondern unglückliche Geschäftsfrau, die untröstlich über das Geschehen sei.

Gregorian glaubte kein Wort. Warum hatte sie immer weiter zugeschlagen? Hätte sie nicht innehalten und den Mann verschonen können? Ja. Aber sie wollte ihn nicht verschonen.

So wie sie ihn, Gregorian, ihren Freund, zu dem sie Bert gesagt und der ihr ein unbeschwertes Leben auf dem Land in Aussicht gestellt hatte, aus Verärgerung nicht nur einmal, sondern zweimal geohrfeigt hatte, und dann noch ein drittes Mal. So, als genieße sie seine Verurteilung. Abgestraft hatte sie ihn, gnadenlos, und er war wehrlos gewesen. Wie der Mann am Kreuz. Warum hatte sie ihn getötet?

Gregorian spielte mit dem Gedanken, als unerkannter Zuschauer in den Gerichtssaal zu gehen.

Da Clarissa nicht in Untersuchungshaft kam, nahm er nach einem Monat seine Beschattung wieder auf. Ihre Wege führten sie vor allem in Cafés, wo sie entweder allein saß, telefonierte, in Zeitungen blätterte oder mit ihrem Anwalt oder einer der Frauen verabredet war, die für sie arbeiteten. Den Club hatte sie vorübergehend schließen müssen.

Und nie tauchte ein fremder Mann auf. Nicht in dieser Zeit und nirgendwann sonst. Auch ihre Treffen mit Mika Petrov, ihrem Türsteher und Aufpasser, verliefen unspektakulär.

Clarissa hatte, das stand für Gregorian spätestens am Tag der Urteilsverkündung fest, kein Verhältnis, keine Affäre außerhalb ihrer Beziehung mit Hans Fehring, dem trinkfesten, fußballspielenden Steuerberater, mit dem sie die Wohnung in der Anhalter Straße teilte.

Wegen ihm hatte Gregorian sein Leben umgekrempelt.

Wegen ihm jagte er Clarissa hinterher.

Fehring war der Kern seines Planes, nicht Clarissa, sie war die Spur und die Voraussetzung für das Gelingen des Plans.

Hätte es einen anderen Mann in Clarissas Leben gegeben, wäre dieser in der Welt verkehrt gewesen und hätte verabschiedet werden müssen. Das war normal.

Fehring.

Der Tod des Mannes am Kreuz bedeutete eine Verzögerung. Alles war durchdacht gewesen, die entscheidenden Vorgespräche waren geführt, die Abläufe exakt festgelegt. Gregorian hatte alles in der Hand und konnte nicht handeln.

 

Also wartete er. Las Zeitung. Ließ die Verbindung zu dem Mann, der nichts ahnte, nicht abreißen. Ernährte sich von vorgeschnittenem Brot und Oblaten. Lachte nie.

Die Zeit verging trotzdem, und ihm wurde wieder einmal bewußt, daß es ihm seit seiner frühen Jugend nie gelungen war, sich mit der Zeit zu versöhnen. Sie war immer schon aus, wenn er gerade anfangen wollte dazusein, bei einer Begegnung, auf einem Fest, in einer Umarmung. Bevor er sich versah, winkte er auf dem Bahnsteig dem abfahrenden Zug hinterher. Dem Zug und nicht jemandem am offenen Fenster mit einem weißen wehenden Taschentuch, in dem vielleicht vier Tränen im Fahrtwind trockneten.

Gregorian winkte Eisen. Keinem Blick. Seit jeher. Clarissa sagte: Es ist aus, und es war aus. Später ohrfeigte sie ihn, weil er durch die verkehrte Zeit irrte, aus Dummheit. Weil er Eisen mit Antlitz verwechselte. Das war ihm früher ständig passiert. Und er hatte geglaubt, er wäre mittlerweile normal geworden.

Bald, dachte er, während er still dasaß, bald ist es soweit.

Die Zeit verging, und seine rechte Hand und sein linkes Bein schmerzten, er nahm Tabletten, die guten, die er immer genommen hatte, wenn die Nerven verrückt spielten. Und der Genuß der Oblatten tröstete ihn nicht.

Als er in der Zeitung las, daß Clarissa W. zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt worden war, öffnete er die erste Bierflasche seit Wochen und trank sie aus. Die zweite Flasche hielt er mit beiden Händen fest und ging zum Fenster, stieß mit dem Flaschenhals gegen die Scheibe und prostete in den Innenhof hinunter, wo zwei Jungen zwei anderen Jungen zusahen, die sich prügelten.

Nicht, weil er das Urteil zu mild oder ungerecht fand, leerte Gregorian vier Flaschen hintereinander, sondern weil die Nachricht ihn in eine Hochstimmung versetzte. Nach der Entscheidung des Gerichts würde Clarissa in absehbarer Zeit wieder ihren Club eröffnen, und alles wäre wie vorher. Und bald wäre jemand nicht mehr verkehrt in der Welt.

 

In einem gestärkten grünen Hemd unter der Wildlederjacke, in seiner gereinigten grauen Hose und in einem außerordentlich gelockerten Zustand reihte er sich an einem Freitag im November in die Schlange der Männer vor dem Club Dinah ein. Sehr lange war er nicht mehr hiergewesen. Und er hatte auch nicht vor, lange zu bleiben. Er wollte ein kleines Bier trinken und Clarissa sagen, wie sehr er bedauere, sie damals belästigt und angelogen zu haben, seine Eltern wären keine wohlhabenden Apotheker gewesen und hätten ihm auch kein Haus vererbt, aber gesorgt hätte er dennoch für sie, Clarissa, hundertprozentig. Und er wollte ihr sagen, daß er sich über ihren Freispruch freue und ihr weiterhin großen Erfolg als Geschäftsfrau wünsche, etwas in der Richtung.

Er bemerkte, wie der Mann vor ihm seinen goldenen Ehering vom Finger zog und in die Hosentasche steckte.

Kurz darauf wies Mika, der Türsteher, den Mann mit der Begründung ab, der Club sei voll, das gleiche gelte auch für ihn, Gregorian, den Mika nicht wiedererkannte. Auch Gregorian hatte ihn zunächst für jemand anderen gehalten. In den vergangenen acht Jahren war Mika bulliger, finsterer geworden, er trug einen schwarzen Anzug und darunter ein schwarzes Hemd, das über seinem Brustkorb spannte.

»Alles ausgebucht, mein Herr«, sagte er zu jedem Neuankömmling. Auf Bemerkungen oder Bitten reagierte er mit einem stummen, entschlossenen Kopfschütteln.

Gregorian hatte nichts erwidert. Er hatte nicht einmal genickt. Er war zur Seite getreten, hatte überlegt, eine Nachricht für Clarissa zu hinterlassen, und sich dagegen entschieden.

Aus seinem Auto beobachtete er das Kommen und Gehen vor dem einstöckigen Gebäude. Er öffnete das Handschuhfach und tastete nach der Plastiktüte mit dem Messer. Zeit zu handeln, dachte er und begann zu frieren.

Innerhalb von Sekunden stieg die Kälte von seinen Füßen die Beine hinauf und breitete sich in seiner Brust wie eine Eisschicht aus.

Seine rechte Hand zitterte so stark, daß er unfähig war, das Handschuhfach zu schließen. Er rang nach Luft. Er versuchte, den Knopf für die Fensterentriegelung zu drücken, und tappte mit dem Finger daneben. Er wollte den Zündschlüssel drehen, aber er brachte den Arm nicht in die Höhe. Er schwitzte.

Gekrümmt von Krämpfen, ließ Gregorian den Motor an, betätigte den Scheibenwischer, obwohl es nicht regnete, wendete wie in Trance den Wagen und vergaß, das Licht einzuschalten. Das Hupen eines Autos, das ihm auf der Levelingstraße entgegenkam, schreckte ihn aus seiner Benommenheit auf. Aber er fuhr bis zur nächsten Ampel und schaltete erst dann das Licht ein.

Nachdem er in der Riesenfeldstraße geparkt hatte, schwankte er über den Bürgersteig. Als er die Treppe in den zweiten Stock hinaufstieg, stolperte er und schlug mit der Stirn auf die Stufenkante und rutschte nach unten.

Auf Händen und Füßen robbte er auf der Treppe nach oben, stemmte sich am Türrahmen in die Höhe, ließ den Schlüssel fallen und kauerte sich erschöpft an die Wand.

In der Wohnung schaffte er es nicht, die Couch auszuziehen. In Kleidung und Schuhen legte er sich hin und fror erbärmlich. Wenn er für kurze Zeit einschlief, geriet er in verwirrende Geschehnisse voller Menschen und Stimmen, die niemals endeten.

Er hatte Durst und war zu schwach aufzustehen, er zog die Beine an den Körper, um sich zu wärmen, und hielt die Arme über den Kopf, als könne er so das unaufhörliche Hämmern abstellen.

Einmal torkelte er ins Bad, trank Wasser aus der Leitung und wusch sich das Gesicht und übergab sich in die Toilettenschüssel.

Gregorian konnte sich nicht erinnern, wann er zum letztenmal krank gewesen war. Er hatte geglaubt, er wäre zu alt, um auf diese Weise krank zu werden. Er lag auf der Couch und wimmerte. Kaum schloß er die Augen, versank er in einem Strudel von Gesichtern, von denen er jedes einzelne wiedererkannte. Alles, was sie sagten, hatte er schon einmal gehört. Und sie hörten nicht auf zu sprechen.

Im vollbesetzten Biergarten auf dem Nockherberg klirren die gläsernen Maßkrüge. Von der Abendsonne beschienene Trinker prosten einander zu. Die Kronen der Kastanien sind angefüllt mit Schwärmen von Stimmen. Auf einem Podest zwischen den durch einen geteerten Weg zum Gasthaus abgetrennten Teilen des Biergartens spielt eine Blaskapelle. Die Klänge der zwei Trompeten, der Tuba, der Klarinette und des Schlagzeugs vermischen sich mit dem Kreischen von Kindern, die über die Kieswege rennen. Ihr Geschrei und die Musik sind so laut, daß Gregorian die Worte seines Gegenübers nur teilweise versteht.

»Was?« schreit er. »Was für ein Zelt? Rieber?«

»Sieber.«

»Was?«

»Kennst du den Metzger nicht? Sieber.«

»Hab ich noch nie gehört«, schreit Gregorian. Seine Stimme dröhnt ihm in den Ohren und ist ihm peinlich.

»Gehst du nie auf die Wiesn?«

Hans Fehring, denkt Gregorian, brüllt genauso wie er, aber er verzieht den Mund überhaupt nicht und wirkt nicht angestrengt, er öffnet den Mund nicht einmal richtig, trotzdem ist seine Stimme in dem Trubel unüberhörbar.

»Ich war vor zwanzig Jahren zum letztenmal da.« Seine eigene Stimme kommt Gregorian schrill und fremd vor.

»Dieses Jahr kommst du zu uns«, sagt Fehring und hebt seinen Maßkrug und schlägt ihn gegen den von Gregorian, der sich unter den Geräuschen duckt, als prasselten Kastanienigel auf ihn herab.

Neben ihm und gegenüber sitzen Fehrings Fußballfreunde, Männer zwischen Ende zwanzig und Anfang fünfzig. Sie essen große Brezen und Wurstsalat und Hendl, und sie unterhalten sich und lachen und rauchen und scheinen sich schon ewig zu kennen.

Den Platz an der Isar, wo sie Fußball spielten, in der Nähe der Eisenbahnbrücke, hatte Gregorian schnell gefunden. Fehring zu verfolgen ist ein Kinderspiel, hatte Gregorian gedacht. Kinderspiel.

Er hört das Wort Kinderspiel, immer wieder. Er sieht die Kinder über den knirschenden Kies flitzen, sie bewerfen sich mit Kieseln, sie kreischen aus vollem Hals.

Kinderspiele.

»Kinderspiel«, sagt er, doch seine Stimme ist zu leise, niemand hört ihn. Kinderspiel.

Er ist Fehring hinterhergefahren und hat zugesehen, wie sie auf die Tore schießen, über die Uferwiese dribbeln und sich Befehle und Warnungen zurufen. Er ist nicht der einzige Zuschauer, auch junge Frauen stehen am Rand des nicht genau definierten Spielfelds und klatschen und gehören dazu. Er steht abseits. Einmal rollt der Ball auf ihn zu, er kickt ihn zurück. Einer der Männer, der eine kurze rote Hose und ein gelbes Trikot trägt, bedankt sich, ohne ihn anzusehen, und schießt eine Flanke und hetzt auf das gegnerische Tor zu. Nach dem Spiel treffen sie sich auf dem Nockherberg, zehn Minuten Fahrzeit, bei schlechtem Wetter im Gasthaus, bei schönem Wetter draußen. Ein Sonntagsritual, drei-, viermal im Monat. So kam er mit Fehring ins Gespräch, wie zufällig, er fragte ihn aus und erfuhr Dinge, die er schon wußte.

»Heuer kommst du aber mit, Maxe«, schreit Fehring.

Unter diesem Namen ist Gregorian in der Runde bekannt.

»Kinderspiel«, sagt er. Oder er sagt es nicht, das Wort schwimmt durch seinen Kopf.

 

Das Wort schwamm immer noch durch seinen Kopf, als er die Augen aufschlug, schweißgebadet, nach Luft ringend. Die Luft im Wohnzimmer war trocken und heiß.

Er lag auf der Couch, Gesicht zur Rückenlehne, sein Herz schlug heftig, seine Beine zitterten, er spürte ein Stechen in der Brust.

Wie ein fernes Echo klang das Wort Kinderspiel in ihm nach. Und er hörte Fehring sagen: Wo warst’n du? Wir haben auf dich gewartet. Und obwohl er überzeugt war, sie hätten keine Sekunde auf ihn gewartet, erwidert Gregorian: Ich war krank, Sommergrippe, nächstes Jahr komme ich bestimmt mit. Und Fehring sagt: Sonst holen wir dich ab, Maxe.

Gregorian hatte Fehring dafür verachtet, daß er mit seinen Kumpanen das Oktoberfest besuchte, während seine Geliebte Clarissa unter Anklage stand. Nächstes Jahr, hatte Gregorian gedacht, sehen wir uns.

Und immer wieder dachte er jetzt: Wir sehen uns. Wie er das Wort Kinderspiel dachte, wieder und wieder: Wir sehen uns.

 

Nach drei Wochen bekam er unbändigen Hunger auf große salzige Brezen und viereckige Stücke saftigen Leberkäs.

Barfuß lief er durch die Wohnung, öffnete das Fenster zum Innenhof, warf einen Blick nach drüben, wo der Vorhang vorgezogen war, atmete gierig die kühle Dezemberluft.

Wenig später fuhr er mit dem Auto in die Innenstadt. Am Promenadenplatz fand er einen Parkplatz. Er sprang aus dem Wagen und eilte in Richtung Theatinerstraße, folgte den Straßenbahnschienen und stürzte wie ein Verdurstender und Verhungernder um halb zehn Uhr morgens in die Franziskaner-Gaststätte.

In der renovierten Schwemme nahm er an einem der kleinen Fenstertische Platz und winkte sofort der Bedienung, was diese erst einmal standesgemäß übersah.

Er aß zwei Portionen Leberkäs, dazu drei Löffel süßen Senf aus einem weißen Keramiktöpfchen, und drei Brezen, zu trinken bestellte er ein Glas Mineralwasser und nach dem Essen einen Kaffee mit Zucker, ohne Milch. Danach mußte er dringend auf die Toilette.

Als er zurückkam, saß am Nebentisch ein älteres Ehepaar und ereiferte sich über die Hausdurchsuchung in den Geschäftsräumen des Ehemannes ihrer Tochter, dessen Betrügereien zu durchschauen ihre Tochter einfach zu dumm sei.

Gregorian bezahlte und verließ, wütend über die Belästigung vom Nebentisch, die Gaststätte.

Auf dem Weg zurück nach Milbertshofen kaufte er abgepacktes Brot, drei Sixpacks Bier und zwei Schachteln Oblaten in einem Supermarkt, wo eine Kassiererin mit roten Strähnen ihn anlächelte und nicht damit aufhörte, bis er wortlos das Wechselgeld einsteckte und seinen Einkaufswagen scheppernd in die Reihe der anderen schob.

Abends hörte er im Marienstüberl seinem Nachbarn Fallnik zu.

Am nächsten Tag, Heiligabend, trötete Fallnik ihm wieder ins Ohr, begeistert von den Vorzügen moderner Überwachungstechniken. Und zum Abschied blieb Gregorian nicht einmal der Körper der Wirtin erspart, die ihn an sich drückte, als wäre er ein Stammgast oder schlimmstenfalls ihr Liebhaber.

An Silvester schaltete er den Fernseher nicht ein.

Und hätte er kein Klopapier besorgen müssen, wäre ihm am neunten Januar die Begegnung mit Fallnik im Treppenhaus erspart geblieben, an die er das ganze Frühjahr lang immer wieder voller Verachtung denken mußte.