23
Die Leere der
Welt
Polonius Fischer lächelte Valerie in ihrem Büro zu. Sie nickte, und er schloß die Tür.
Manchmal nahm er das eintausendvierhundertfünfzig Seiten umfassende Buch mit den dünnen Seiten in seinen P-F-Raum mit und verwahrte es in der tiefen Schublade des viereckigen Tisches, bis er Zeit fand, es aufzuschlagen. Für sich allein. Wie früher, nach der Regel des Heiligen Benedikt, die für jeden Wochentag einen Psalm oder eine andere Bibelstelle vorsah. Am Samstag zum Beispiel das Lied des Moses aus dem Deuteronomium.
Doch Polonius Fischer wählte einen Absatz aus dem neunzehnten Kapitel, mehr aus Zufall, weil er beim Blättern darauf gestoßen war.
Er stellte sich unter das Fenster und las mit halblauter Stimme.
»Wenn jemand vor Gericht geht und als Zeuge einen anderen zu Unrecht der Anstiftung zum Aufruhr bezichtigt, wenn die beiden Parteien mit ihrem Rechtsstreit vor den Herrn hintreten, vor die Priester und Richter, die dann amtieren, wenn die Richter eine genaue Ermittlung anstellen und sich zeigt: Der Mann ist ein falscher Zeuge, er hat seinen Bruder fälschlich bezichtigt, dann sollt ihr mit ihm so verfahren, wie er mit seinem Bruder verfahren wollte. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen. Die übrigen sollen davon hören, damit sie sich fürchten und nicht noch einmal ein solches Verbrechen in deiner Mitte begehen. Und du sollst in dir kein Mitleid aufsteigen lassen …«
Er schlug das Buch zu, verharrte in der Stille und blickte zum Kruzifix über der Tür. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen, dachte er und sagte: »Ja. Aber dann würden wir uns selbst wegschaffen. Und das schaffen wir nicht.«
Jemand klopfte zweimal an die Tür. Fischer nahm seinen Block und den blauen Stabilostift und legte beides auf das rote Buch.
Im Flur wartete Micha Schell auf ihn.
»Wir haben ihn.«
»Gregorian?«
»Allerdings nicht leibhaftig«, sagte Schell. »Aber immerhin lebendig.«
Auf dem Computerbildschirm in Weningstedts Büro wuselten tausende Menschen, Farben schwammen ineinander. Wenn man länger als eine Minute hinsah, bekam man Sehnsucht nach einer weißen Wand.
Dann wurde das Bild grieseliger, unschärfer.
»Die Kollegen in der Ettstraße, die die Aufnahmen vom Oktoberfest sammeln, haben Standbilder herauskopiert«, sagte Schell. Er saß auf dem Stuhl seines Vorgesetzten, während dieser hinter ihm stand und im Kreis von Fischer, Liz Sinkel, Esther Barbarov, Walter Gabler und Georg Ohnmus unscharfe Vergrößerungen betrachtete. »Hier ist er von hinten, hier von der Seite und hier von vorn, wenn auch nur kurz. Als hätte der Typ sich absichtlich weggedreht. Das ist der Toilettenwagen, die Leute stehen Schlange. Und da kommt unser Mann wieder ins Bild.«
»Ich sehe nichts«, sagte Weningstedt.
Schell klopfte mit dem Zeigefinger auf den Bildschirm und betätigte mit der anderen Hand die Maus. »Jetzt siehst du ihn größer. Da. Und wieder weg. Hier ist eine bessere Auflösung. Eindeutig. Bertold Gregorian.«
»Schon schon«, sagte Liz. »Aber haben wir eine Aufnahme von der Begegnung zwischen ihm und Hans Fehring?«
»Nein«, sagte Schell.
»Nein«, wiederholte Liz.
»Nein.«
Fischer legte die Hand auf Schells Schulter. »Habe ich das gerade richtig erkannt bei der Zeitanzeige? Die Frontalaufnahme von Gregorian entstand nach der Tat, auf seinem Weg vom Oktoberfest weg.«
»Gutes Auge, P-F«, sagte Schell und spulte im Schnelldurchlauf vor. »Wir können beweisen, daß Gregorian in der Nähe war, zu der Zeit, als Fehring erstochen wurde. Die Tat ist nicht auf Band.«
Wie zum Hohn für die Kriminalisten hatte eine der zwölf Kameras den Moment eingefangen, als ein kleines Mädchen sich mit seiner Mutter über den scheinbar betrunkenen, bewegungslos im Gras liegenden Mann beugt. Andere Besucher kommen hinzu, die Mutter fuchtelt aufgeregt mit der Hand, kurz darauf tauchen vier unifomierte Polizisten auf, einer von ihnen telefoniert, zwei andere drängen die Menge beiseite.
»Solange wir kein Motiv finden«, sagte Weningstedt, »nutzen uns die Bilder nichts.«
»Warum?« sagte Liz. »Mit den Bildern können wir Clarissa Weberknecht endgültig festnageln. Als kaltschnäuzige Lügnerin.«
»Diese Frau«, sagte er. »Was bezweckt die, P-F?«
Fischer entfernte sich von der Gruppe. »Wir wissen immer noch zu wenig über sie. Sie führt ein kontrolliertes Leben. Sie läuft nicht davon. Zuerst möchte ich mehr über Gregorian erfahren, dann sehen wir, was die Spurensuche in der Wohnung ergeben hat, und dann laden wir Frau Weberknecht vor. Das Foto von Gregorian erscheint in den Sonntags- und in den Montagszeitungen, also wird sich spätestens übermorgen ein neues Fenster für uns öffnen.«
»Und wenn alle Fenster offen sind, ist Weihnachten«, sagte Schell mürrisch, die Hand immer noch auf dem Mousepad, zum Bildschirm hin gebeugt.
»Wo bleiben die Bilder aus Milbertshofen?« fragte Liz.
Schell stieß sich vom Tisch ab und rollte mit dem Stuhl rückwärts, auf die Wand zu. »Kein Bild vom Tatort, Kollegin, kein Bild vom Täter, nicht mal ein Bild von einem Falschparker. Die Kollegen suchen weiter, aber die Chancen stehen schlecht. Dein allmächtiges Auge ist blind.«
»Ist es nicht.« Liz zeigte auf den Computer. »Vielleicht bist du blind. Dank der Aufnahmen sind wir gerade einen riesigen Schritt vorangekommen. Obwohl es am Anfang überhaupt nicht danach ausgesehen hat. Und wir werden auch in Milbertshofen was finden, das geht nämlich gar nicht anders. Kollege.«
Ohne sie zu beachten, stand Schell auf und ging zur Tür, vor der Fischer sich noch einmal umgedreht hatte.
»Mich beschäftigt was ganz anderes«, sagte Schell. Er eilte an Fischer vorbei zu einem der Büros auf der anderen Seite des Treppenhauses.
»Was denn?« rief Liz ihm hinterher, doch er war schon weg.
»Abgesehen von den Obdachlosen und den beiden Exfrauen …« Fischer hob beschwichtigend die Hand, weil Liz schon eine Beschwerde über Schells überhasteten Abgang ins Gesicht geschrieben stand. »… Wir kennen nur zwei Personen, die in jüngster Zeit etwas mit Josef Nest zu tun hatten. Das Ehepaar Soltersbusch. Die Frau hatte ein Verhältnis mit ihm, wovon ihr Mann nichts weiß. Das ist lange her, aber manche Geschichten hören nie ganz auf. Sie sollen beide herkommen, und ihr redet mit ihnen, Micha und du, mit jedem einzeln, im V-1, bei laufender Kamera. Und das teilt ihr den beiden auch mit. Sie sind Hauptzeugen in einem Mordfall, besonders die Frau. Und der Mann weiß möglicherweise etwas über Gregorian und Clarissa Weberknecht. Das Ehepaar geht hier nicht eher raus, bis sie für uns ein neues Fenster geöffnet haben.«
Er wandte sich an Weningstedt. »Wegen der Pressekonferenz um drei sprechen wir noch. Und du, Esther, rufst die Mädchen an, die im Club Dinah arbeiten.«
»Hab ich doch schon getan.«
»Wann?«
»Gleich als du es mir aufgetragen hast«, sagte Esther Barbarov. »Heut früh kurz nach sieben.«
»Ehrlich?«
»Ich schwöre es bei deinem Gott.«
»Bist du sicher, daß er mir gehört?« sagte Fischer und strich sich durch die Haare.
»Ganz sicher. Vielleicht solltest du eine Stunde schlafen, P-F. Deine Augenringe hängen dir schon bis zum Kinn.«
»Wenn sie bis zu den Knien reichen, lege ich mich eine halbe Stunde hin«, sagte er. »Versprochen.«
Als Polonius Fischer in sein Büro kam, telefonierte Gabler mit einem ehemaligen Angestellten in der Werkstatt von Josef Nest. Schell tigerte vor der Wand auf und ab und begann sofort zu sprechen.
»Wir sollten den kompletten Block abriegeln. Die halten da alle zusammen, wie bei der Mafia. Zwei Tote, ein verschwundener Mann und wer weiß, was da noch geschieht, wovon wir keine Ahnung haben …«
»Micha …«
»Etwas leiser, bitte«, sagte Gabler mit dem Hörer am Ohr.
Schell winkte ab. »Und jetzt stell dir folgendes vor …« Er warf Gabler einen Blick zu und sprach leiser. »… Es ginge nicht nur um zwei oder drei Morde, sondern auch um Entführung. Stell dir mal vor, der Fall Linda Gabriel würde auch in dieses Gehege mit all den Lügentieren führen, was sind wir dann? Dann sind wir Armleuchter. Dann können wir uns von den Angehörigen nach Hause leuchten lassen. Dann können wir uns so tief in Grund und Boden schämen, bis wir auf der anderen Seite der Erde wieder rauskommen. Stell dir das nur mal vor, P-F.«
»Wieso sollte das Verschwinden der Schülerin, das ein Dreivierteljahr her ist, etwas mit den beiden Morden aus Milbertshofen zu tun haben? Du hast dich in einem Konstrukt verfangen, Micha, du bist wütend, weil wir mit der Soko seit acht Monaten im Kreis ermitteln und bisher keine Spur entdeckt haben. Hör auf, dich mit Spekulationen lahmzulegen.«
»Der Luitpoldpark, wo das Mädchen verschwunden ist …«
»Sie ist nicht im Park verschwunden«, sagte Fischer, »sondern in der Nähe, in der Hiltensperger oder einer anderen der Straßen dort. Die Zeugenaussagen sind widersprüchlich, du weißt das.«
Schell klopfte mit den Knöcheln seiner rechten Faust an die Wand. »Der Luitpoldpark, die ganze Gegend, die Schule, das liegt alles nicht weit entfernt von Milbertshofen, das ist alles im Umkreis. Ich weiß selber, daß das Spekulationen sind …«
Er hämmerte gegen die Wand.
Ungehalten schnippte Gabler mit den Fingern, doch Schell reagierte nicht. »Es gibt Orte, die das Verbrechen anziehen, wie Menschen, das haben wir schon erlebt. Kindesmißhandlung, fünf Fälle in einer Straße. Raubüberfälle in einem bestimmten Viertel. Täter, die im selben Block wohnen, sogar im selben Haus. Alles schon gehabt. Und wir kämmen die ganze Stadt durch. Die Fahndung nach Linda Gabriel läuft im Ausland, und in Wirklichkeit liegt ihr Leichnam vielleicht irgendwo in der Nähe, mitten in einem Viertel, das auch noch kameraüberwacht wird. Bravo.«
Entschuldigend, weil er wieder laut geworden war, hob er die Hand. »Stell dir das einfach mal vor, wir haben doch nichts zu verlieren. Wir befinden uns mit der Soko in einem Stadium brutaler Erfolglosigkeit.«
»Wir haben mit allen Bewohnern des Blocks gesprochen«, sagte Fischer. »Und auch mit vielen Anwohnern in der Umgebung. Keine Hinweise auf die entführte Schülerin. Außer du denkst, Gregorian habe sie verschleppt.«
»Warum nicht?«
Nach einem Moment sagte Fischer: »Du meinst, wir haben zwar nicht die kleinste Spur, aber wir sollten ihr trotzdem nachgehen.«
Schell breitete die Arme aus. »Das ist wie bei dir und deinem Herrgott. Er existiert nicht, aber du bist ihm trotzdem bis ins Kloster nachgerannt.«
Gabler legte den Hörer auf. »Wovon redet ihr eigentlich?«
»Erklär’s ihm«, sagte Schell und lehnte sich, wie ausgelaugt, an die Wand.
Aber Fischer wollte jetzt nichts erklären. Er schickte Schell zu Liz in den zweiten Stock, damit sie die Vernehmung von Anita und Rupert Soltersbusch vorbereiteten, und begann mit der Rekonstruktion des Tages, an dem Bertold Gregorian zum letztenmal gesehen worden war. Vorausgesetzt, es gelang Fischer, diesen Tag anhand der Kalender und Aufzeichnungen überhaupt herauszufinden.
Bis zum Mittag blieb dieser Tag ein Schatten.
Ebenso wie Bertold Gregorian selbst.
Es gab Leute, die ihn kannten, soviel stand fest. Aber sie wußten nichts über ihn, zumindest nichts, was über den Raum, in dem sie ihm gelegentlich begegneten, hinausging.
Niemand sprach schlecht von Bertold Gregorian.
Niemand sprach gut von ihm.
Niemand wunderte sich über ihn.
Niemand gab seinem Namen einen eigenen Klang.
Niemand fragte nach Gregorians Befinden.
Im Lauf der vierzehn Jahre, in denen Polonius Fischer in der Mordkommission arbeitete, hatte er es immer wieder mit Menschen zu tun gehabt, die in einer eigentümlichen Form von Unsichtbarkeit existierten. Oft gingen sie einem gewöhnlichen Beruf nach, trafen sich hin und wieder sogar mit Kollegen und Bekannten zum Bowlen oder Fußballspielen oder zum Essen in einem Lokal. Sie hatten eine Familie, mit der sie in Urlaub fuhren und deren Fotos sie im Portemonnaie bei sich trugen. Manche galten als ausgesprochen leutselig oder wenigstens umgänglich. Andere waren Mitglieder in Vereinen oder engagierten sich ehrenamtlich in sozialen Organisationen.
Doch stieß ihnen etwas zu, wurden sie Opfer eines Verbrechens oder waren plötzlich aus unerklärlichen Gründen verschwunden, dann waren diese Menschen wie vom Erdboden verschluckt. Als wäre niemand, kein Mann, kein Mensch, in der Lage, auch nur eine halbwegs brauchbare Beschreibung zu liefern. Gerade so, als wüßte niemand, um wen es sich bei dem Gesuchten eigentlich handelte.
Unabhängig von den üblichen und nachvollziehbaren Schwierigkeiten, die jemand damit hatte, sich in Gegenwart eines drängenden Polizisten an spezielle äußere Merkmale eines Angehörigen erinnern zu müssen, erstaunte und erschütterte Fischer oft die Leere der Welt, in die er geraten war.
In dieser Leere fehlte einer, aber der – das mußte Fischer nach kurzer Zeit erkennen – hatte auch vor seinem Verschwinden nicht dazugehört. Er war bloß dagewesen, leibhaftig unsichtbar unter Blinden. Einer mit Namen, Adresse und Beruf. Servus, sagten die anderen und hatten ihn vergessen. Seine Frau versteckte ihre ratlosen Blicke hinter einem Vorhang aus Tränen, sehr geschickt, wie Fischer fand.
Und der Rest der Menschheit in dieser Welt aus Leere stammelte Entsetzen und tauschte Spekulationen wie Kinder ihre Spielkarten auf dem Pausenhof.
Manche Menschen, wußte Fischer, wurden von ihren Hunden betrauert und von ihren Freunden nur beweint.
Manche Menschen winkten, aber niemand sah hin, sie streckten ihre Arme aus, aber die anderen waren in Selbstumarmungen verstrickt.
Sie riefen, aber ihre Stimmen reichten nicht aus.
Sie traten an die Rampe, aber die Scheinwerfer waren kaputt.
Und wenn sie Opfer eines Verbrechens wurden, bellte noch eine Weile ihr Schatten in der Nacht, und jemand rief: Ruhe! Dann wurde es ruhig, und der Morgen brach ungeniert an.
Bis dreizehn Uhr an diesem Samstag hatte Fischer mit acht Personen gesprochen. Übereinstimmend erklärten sie, Bertold Gregorian sei ein zurückhaltender, unauffälliger Mann, zuverlässig und vertrauenerweckend.
»Welches Vertrauen hat er erweckt?« wollte der Kommissar von Alfons Grandauer, dem Geschäftsführer der Galeria Kaufhof in der Fußgängerzone, wissen.
»Wie meinen Sie das?«
Zwei- bis dreimal in der Woche war Gregorian im Kaufhaus als Detektiv tätig. Er erhielt eine Pauschale von dreihundert Euro am Tag plus einer Prämie von fünfzig Euro, wenn er einen Dieb stellte, was häufig passierte, vor allem an Samstagen.
»Auf welche Weise wirkte er vertrauenerweckend?« wiederholte Fischer geduldig.
Grandauer hüstelte am Telefon. »Ich mein das nicht so wörtlich, entschuldigen Sie, wir haben heut Hochbetrieb, zwei wichtige Mitarbeiterinnen sind krank, und der Kollege von Herrn Gregorian ist auch nicht da. Ich beschäftige ausschließlich ältere Detektive, Männer mit Erfahrung, die nicht auffallen und Zeit haben und auf das Geld wirklich angewiesen sind. Jeder muß schauen, wie er mit seiner Rente die Kurve kriegt, und wir leisten da einen kleinen bescheidenen Beitrag. Herr Gregorian ist seit zwanzig Jahren bei uns, in diversen Filialen. Er hat einen guten Blick, er ist freundlich zu den Leuten, wenn er sie zur Rede stellt, nie aggressiv und nie vor vielen Zuschauern. Solche Detektive hatten wir leider auch schon, man kann den Mitarbeitern nicht unters Hemd sehen, sag ich immer, man muß ihnen vertrauen, daß sie sich gewaschen haben, Sie verstehen, was ich sagen will. Mit Herrn Gregorian lief alles immer bestens. Manche Diebe haben sich sogar bei ihm entschuldigt, weil er so ruhig und nett mit ihnen umgegangen ist. Ich hab immer ein gutes Gefühl, wenn er im Haus ist, und meine Kolleginnen und Kollegen auch. Er ist verschwunden? Sehr seltsam. Letzten Samstag, wie gesagt, hatte er frei, er war krank, ich hab selbst nicht mit ihm gesprochen, ich glaube, die Frau Lechner aus der Personalabteilung. Sie ist heut nicht da, aber ich kann sie am Montag fragen, kein Thema.«
»Was wissen Sie sonst über ihn?« fragte Fischer.
»Sonst?« Grandauer geriet ins Stocken. »Sonst … Sie meinen, sonst privat oder so. Ja, nichts. Privat haben wir nie ein Wort gewechselt. Herr Gregorian macht mir nicht den Eindruck, als lege er viel Wert auf Kommunikation. Wenn’s nicht sein muß, wie gesagt. Er spricht ja auch gegenüber den Kunden nur das Nötigste. Nein, sonst kann ich Ihnen da nicht weiterhelfen. Haben Sie schon mit seiner Frau gesprochen?«
»Er ist nicht verheiratet.«
»Sind Sie sicher?« Grandauer stieß ein Lachen aus. »War nur ein Scherz. Sie wissen natürlich mehr als ich. Ich hab nur gedacht, daß er verheiratet wäre, weil er, glaub ich, mal eine Frau erwähnt hat, und ich hab gedacht, er ist mit ihr verheiratet. Kann sein, daß ich mich verhört habe, ist auch schon eine Weile her.«
»In welchem Zusammenhang hat er die Frau erwähnt?«
»Zusammenhang? Ich glaub, die war hier, die hat bei uns eingekauft, und ich stand zufällig mit Herrn Gregorian zusammen, da hat er sie die Rolltreppe runterfahren sehen. Oder rauffahren? Nageln Sie mich nicht fest. Er hat jedenfalls recht freundlich von ihr gesprochen. Komisch, daß ich gedacht hab, sie wäre seine Frau.«
»Dann wäre er ihr vielleicht hinterhergegangen«, sagte Fischer.
»Vielleicht, ja. Vielleicht hat er sich nicht getraut, weil er ja im Dienst war und ich dabeistand. Er hat womöglich gedacht, ich würde denken, er geht im Dienst einer privaten Beschäftigung nach.«
»Schätzen Sie ihn so ein?«
»Ich weiß nicht. Schwer zu sagen. Wie schätzt man jemanden ein? Wie gesagt: Sie sehen sein Hemd und wissen nicht, was drunter ist.«
An das Aussehen der Frau konnte Alfons Grandauer sich nicht erinnern, auch nicht an den Tag. Er vermutete, es war in der Weihnachtszeit, an einem Nachmittag, »an dem die Hütte bis zum Anschlag voll war«. Wenn der Geschäftsführer sich nicht täuschte, dann habe Gregorian von der Frau »in den höchsten Tönen« gesprochen – einzelne Worte wußte er nicht mehr –, und es habe nicht so geklungen, als sei die Frau nur eine flüchtige Bekannte oder eine Schwärmerei.
Der einzige Frauenname, den Fischer in den Notizen des Detektivs fand, lautete Vera Roberts. Fischer hatte zunächst angenommen, er hätte etwas übersehen, woraufhin er die Hefte und Kalender noch einmal Seite für Seite überprüfte. Doch außer Vera entdeckte er keinen Hinweis auf eine weitere Frau, nicht einmal als Partnerin eines Mannes, dessen Adresse oder Telefonnummer in den Unterlagen auftauchte.
Vera Roberts war einundsiebzig und lebte in einem Seniorenheim in Sendling. Von Gregorian hatte sie anscheinend seit mehr als zehn Jahren nichts mehr gehört.
»Wenn ich ehrlich bin«, sagte sie mit leiser Stimme am Telefon, »habe ich befürchtet, daß er schon unter der Erde ist.«
»Ist er krank?« fragte Fischer.
»Im Gemüt.«
Im Hintergrund hörte Fischer Musik aus dem Radio und die Stimme einer Ansagerin, die Hörerwünsche erfüllte, nicht für Schlager oder Volksmusikstücke, sondern für Rock- und Popsongs.
»Er hat’s nicht leicht gehabt, wissen Sie, Herr Dings …«
»Fischer.«
»Fischer. Kennen Sie Fishermen’s Friends? Die zum Lutschen? Ich nehm die gern, da bin ich die einzige hier. Die anderen Frauen behaupten, ihnen würde von den Pastillen das Gebiß schmelzen, na ja. Der Bert, er hat’s nicht leicht gehabt, und er hat sich’s nicht leicht gemacht. Ich glaube, er hat sich selbst gern angeklagt. Er hat nicht gejammert, damit Sie mich nicht mißverstehen, Herr Dings … Fischer, er hat sich Vorwürfe gemacht, wegen früher. Wegen seiner Familie, seinem Vater halt.«
»Kannten Sie seinen Vater, Frau Roberts?«
»Nein. Er hat mir von ihm erzählt. Wenn er mal geredet hat. Der Vater war sehr streng mit ihm, einmal hat er ihm die Hand gebrochen, er hat so heftig zugeschlagen, daß der Knochen gesplittert ist. Was genau passiert ist, weiß ich nicht. Er hat immer nur Andeutungen gemacht. Wenn überhaupt. Wir haben uns aus den Augen verloren, schon lang. Er ist verschwunden, sagen Sie? Wundert mich nicht, wenn ich ehrlich sein darf. Er war sowieso nie richtig da. Schönes Lied. Der Mann hat eine Stimme.«
Fischer hörte die wuchtig orchestrierte Melodie einer Rockballade, den Sänger kannte er nicht. »Wo war er denn, wenn er nicht da war?«
»In sich, würde ich vermuten. Er war auch immer wahnsinnig dünn.« Offenbar lauschte sie der Musik. »Und er hinkte. Und trotzdem bewarb er sich bei einem Sicherheitsdienst und wurde Detektiv. Er hat sich halt was eingeredet, sein Leben lang.«
»Was hat er sich eingeredet?«
Nach ein paar Takten sagte Vera Roberts: »Wahrscheinlich hat er sich eingeredet, daß er jemand andres ist. Aber wer, das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Wie sind Sie denn auf mich gekommen? Bert und ich waren vor fünfunddreißig Jahren ein Paar, und auch nur ungefähr zwei Jahre. Brutto. Und danach haben wir uns höchstens einmal im Jahr getroffen, meistens ziemlich verkrampft. Vor allem von seiner Seite aus. Und mein Mann war auch nicht gerade von den Treffen begeistert, aber ich hab mir nie was dreinreden lassen.«
»Sie waren zwei Jahre brutto mit Bert zusammen«, sagte Fischer. »Was bedeutet das?«
»Brutto? Ist doch leicht: Wir waren nicht netto zwei Jahre zusammen. Weil er die meiste Zeit weg war. Auch wenn er da war, wie ich schon erklärt habe. Wußten Sie, daß Meat Loaf drei Oktaven singen kann?«
»Wer ist das?«
»Sie kennen Meat Loaf nicht?«
»Nein.«
»Das ist der Sänger, der gerade im Radio singt.«
»Die Musik gefällt mir.«
»Ich bin die einzige hier, die Rockmusik hört. Die anderen halten das für Krach und ungesund. Erinnert mich an meinen Vater, der hat das auch gedacht. Ist sonst noch was, Herr Dings … Fischer. Ist ja leicht zu merken, der Name, eigentlich.«
»Ihr Name steht in Berts Adressbuch.«
»Das ist ja nett von ihm.«
»Haben Sie ihn damals verlassen?«
»Selbstverständlich.«
»Wie hat er reagiert?«
»Er hat es akzeptiert.«
»Er war nicht traurig oder wütend?«
»Da hätte er ja aus sich herausgehen müssen. Zuviel Aufwand.«
»Und Sie haben dann geheiratet«, sagte Fischer.
»Einen Vertreter für Pharmazeutika. Wir waren klassische sieben Jahre verheiratet, dann starb er an einem Herzinfarkt. Er war in Behandlung gewesen und nahm Medikamente, er saß ja an der Quelle. Ich bin allein geblieben, ich bin gelernte Schneiderin, damit habe ich mein Leben lang mein eigenes Geld verdient. Sie horchen mich aber ganz schön aus.«
»Das will ich nicht«, sagte Fischer. »Sie haben keine Vorstellung, wo Bert Gregorian sich aufhalten könnte? Hatten Sie früher gemeinsame Freunde? Hat er bei Ihrem letzten Treffen jemanden erwähnt, der ihm wichtig war?«
»Unser letztes Treffen, das ist ungefähr drei oder vier Jahre her. Ich kann mich an niemand erinnern. Doch. Ich hab ihn gefragt, ob er eine Frau hat, eine gute Bekannte halt, da hat er ja gesagt. Sonst nichts. Und ich hab nicht weiter nachgebohrt. Einen Namen hat er nicht genannt.«
»Waren Sie eifersüchtig?«
»Sie Witzbold.«
Im Radio begann ein neuer Song mit einer Sängerin, deren Stimme Fischer vage bekannt vorkam.
»Halten Sie Bert für selbstmordgefährdet?« sagte er.
Entweder Vera Roberts dachte intensiv nach, oder sie hörte der Musik zu. Mindestens eine Minute lang schwieg sie.
»Ja«, sagte sie dann. »Ja. Selbstmordgefährdet. Zu einem Mord an jemand anderem wäre er jedenfalls nicht fähig. Wenn überhaupt, dann zu einem Mord an sich selber.«
In der Plinganserstraße, wo Gregorian vor seinem Umzug nach Milbertshofen gewohnt hatte, bekam Fischer eine ehemalige Nachbarin ans Telefon.
Tanja Stuck hielt Gregorian für einen Psychopathen.
»Immer schon«, sagte sie. »Der Typ war mir vom ersten Moment an unheimlich. Dem trau ich keine zwei Meter übern Weg. Mordkommission sind Sie? Aber der Typ ist doch nicht ermordet worden? Oder hab ich da gerade was falsch verstanden?«
»Wir suchen ihn als Zeugen im Zusammenhang mit einem Verbrechen«, sagte Fischer.
»Warum ausgerechnet den?«
»Können Sie Bertold Gregorian beschreiben?« sagte Fischer. »Nicht, daß wir womöglich von zwei verschiedenen Männern sprechen.«
»Den kann man nicht verwechseln, den Wahnsinnigen.«
»Bitte beschreiben Sie ihn.«
»Ich kann den doch nicht beschreiben. Der ist seit zwei, drei Jahren hier weg. Sofort vergessen, den Typ. Der wollt aus dem Fenster springen. Der war durchgeknallt. Der ist durchs Treppenhaus geschlichen wie einer, der gleich seinen Mantel aufreißt und an seinem Ding rumschrubbt. Oder uns alle in die Luft sprengt. So einer ist das. Finden Sie den bloß, bevor noch ein Unglück passiert.«
»Wann war das, als er aus dem Fenster springen wollte?«
Fischer gab Micha Schell, der in der Tür wartete, ein Zeichen, sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch zu setzen.
»Kurz, bevor er hier weg ist«, sagte Tanja Stuck.
Aus den Unterlagen, die die Kommissare in der Wohnung gefunden hatten, ging eindeutig hervor, daß Gregorian am ersten Dezember vor zwei Jahren in die Riesenfeldstraße gezogen war.
»Aus welchem Grund wollte er aus dem Fenster springen?«
»Weil er irre ist. Der ist gefährlich. Wenn man den gegrüßt hat, hat er weggeschaut und sich blöde benommen.«
»Wissen Sie, welchen Beruf er ausübt?«
»Nein, das weiß ich nicht, und das ist mir auch schnurzegal. Hauptsache, der Typ zieht nie wieder hier ein.«
Nach dem Telefongespräch mit Tanja Stuck ordnete Fischer seine vollgeschriebenen Blätter und stützte den Kopf in die Hände. Er schloß die Augen, bleckte in Gedanken versunken die Zähne und wiegte den Kopf hin und her.
Schell und Gabler saßen reglos auf ihren Stühlen. Vom Flur her waren das Klingeln der Telefone und vereinzelt Stimmen zu hören. Wie immer standen alle Türen zum Treppenhaus offen. In jedem Büro brannte Licht.
Jetzt, mittags um zehn nach eins, befanden sich alle elf Kommissarinnen und Kommissare im Haus.
In ihrem Büro, das auch als Empfangs- und Warteraum diente, servierte Valerie Roland dem Ehepaar Soltersbusch sowie einer jungen, stark geschminkten und aufdringlich parfümierten Frau Kaffee und Spekulatiuskekse aus einer bunten, offenbar unerschöpflichen Blechdose.
Die junge Frau arbeitete im Club Dinah, und Anita Soltersbusch starrte sie ebenso an wie ihr Mann, vermutlich jedoch aus anderen Gründen. Die Barfrau würde erst nach den beiden drankommen, aber das wußte sie nicht.
Einen Stock höher war Fischer von seinem Schreibtisch aufgestanden. Er sah über Schell hinweg zur Tür. Der bizarre Gedanke, den sein Kollege ihm ins Hirn gepflanzt hatte, trieb ihn um und trieb ihn hinaus.
»Ich fahre noch einmal in den Wohnblock«, sagte er. »Bis in zwei Stunden bin ich zurück, dann entscheiden wir, wie wir mit Clarissa Weberknecht weitermachen.«
»Herbringen und zersägen, die Jungfrau«, sagte Schell.
Gabler erhob sich, schnaufte und setzte sich wieder. »Unsere Spurensucher haben Fingerabdrücke von ihr gefunden«, sagte er.
»Wo, in der Wohnung?« fragte Schell.
»Nicht in der Wohnung«, sagte Gabler. »Im Müllhäuschen.«
Beide Kommissare erwarteten von Fischer neue Anweisungen. Doch alles, was er zunächst veranlaßte, war die sofortige Observierung von Clarissa.
Bevor er weitere Schritte unternahm, mußte er erst die irre, den Weg seiner analytischen Gedanken vollständig blockierende Idee seines Kollegen Micha aus dem Kopf bekommen.
Und so kehrte er in jene Wohnung zurück, von der aus er acht Monate zuvor zum erstenmal einen Blick auf einen Innenhof geworfen hatte, der damals noch kein Verbrechensort gewesen war.