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Eine sanftmütige
Lügnerin
Das winzige Fenster führte auf einen Innenhof und war verriegelt. Früher diente der acht Quadratmeter große Raum als Abstellkammer, heute legten Menschen darin Geständnisse ab, schrien, fluchten, heulten ohne Unterlaß oder standen nur da, starr vor Furcht oder fassungslos beim Gedanken an ihre zerbeulten Träume. Sie befanden sich in einem Zimmer, in denen nichts als ein Nagel an den Wänden hing und über der Tür ein Kruzifix aus Eichenholz. Unterhalb des Fensters standen ein viereckiger Tisch mit zwei Stühlen und bei der Tür ein Bistrotisch mit einem Baststuhl, auf dem eine Frau vor einem Laptop saß. Sie schrieb jedes Wort mit, das in dem Raum gesprochen wurde. Manchmal notierte sie auch Pausen und Gesten und ungewöhnliche Bewegungen. Es konnte passieren, daß sie zwei Stunden lang ununterbrochen tippen mußte, oft Sätze, die sie anekelten oder wütend machten und deren Wirkung sie nur mühsam kontrollieren konnte.
Und dies war nicht der einzige Raum, in dem Valerie Roland als Protokollantin arbeitete, und es passierten hier nicht weniger furchtbare Dinge als einen Stock höher, wo es ein größeres Zimmer für die gleichen Zwecke gab, dazu mit einer verspiegelten Wand, einer Mithöranlage und drei digitalen Kameras, und doch fühlte sie sich in der beengten Umgebung mit Blick auf die graue, abweisende Hauswand vor dem Fenster nie bedroht. Auch dann nicht, wenn Zeugen oder Verdächtige so nah vor ihr standen wie diese nach einem rauhen, teuren Parfüm duftende Frau im schwarzen Hosenanzug. Seit mindestens zwei Minuten hatte sie kein Wort gesprochen, und sie schien nichts wahrzunehmen als das gelbe Licht der Schreibtischlampe über dem Computer.
Valerie legte die Hände in den Schoß und warf einen Blick auf die Zeiteinblendung am unteren Bildschirmrand. Zehn Uhr fünfzig. Um Punkt acht Uhr hatte die Vernehmung begonnen. Nach Valeries Einschätzung gab es für ein Verbrechen keine Anhaltspunkte, es war ein Unglück, die Frau traf keine Schuld.
»Warum haben Sie den Schlag nicht zurückgehalten, Frau Weberknecht?« fragte Polonius Fischer von seinem Platz am Tisch aus.
Hastig beugte Valerie sich nach vorn und schrieb mit. Die Frage hatte der Hauptkommissar schon einmal am Anfang gestellt.
»Das hab ich Ihnen doch erklärt«, sagte Clarissa Weberknecht. Sie drehte sich zu ihm und steckte die Hände in die Hosentaschen und machte einen Schritt auf ihn zu. »Ich dachte, wir sind jetzt fertig.«
»Bitte setzen Sie sich wieder.«
»Ist das nötig, daß der Club geschlossen bleibt? Kann ich nicht wenigstens die Bar öffnen? Nur Getränkeausschank und die übliche Animation in den Nischen. Ich garantiere Ihnen, niemand geht nach oben, nicht mal die Putzfrau. Ich kann mir eine Schließung nicht leisten, die Geschäfte laufen nicht mehr so gut wie früher, das müssen Sie doch wissen.«
»Woher soll ich das wissen?«
»Kriegen Sie keine Statistiken aus dem Milieu oder Informationen von Ihren Informanten?«
»Sie sind hier bei der Mordkommission, Frau Weberknecht. Setzen Sie sich bitte.«
Sie riß die rechte Hand aus der Hosentasche und schlug durch die Luft. »Ich will mich nicht setzen. Ich will gehen. Ich will arbeiten.«
Fischer deutete auf den Stuhl, so lange, bis die Frau, ohne die andere Hand aus der Hosentasche zu nehmen, widerwillig seiner Aufforderung folgte. Sie schlug die Beine übereinander und starrte die Wand an.
»Sie betreiben den Club seit acht Jahren«, sagte Fischer.
»Sie hatten nie die Polizei im Haus …«
»Doch.« Sie wich seinem Blick aus. »Zwei-, dreimal wegen Ruhestörung, betrunkene Gäste haben sich dumm benommen. Wir haben die Nachbarn beruhigt, und die Sache war erledigt. Außerdem sind wir nicht der einzige Club in der Straße.«
»Sie sind der kleinste der drei.«
»Ja, und?« Sie hob das Kinn und sah ihn mit Stolz im Blick an.
Fischer lächelte. Auf seiner durch ihre enorme Krümmung hervorstechenden, wuchtigen Nase bildeten sich Fältchen, die seinen ernsten, konzentrierten Gesichtsausdruck augenblicklich entspannt wirken ließen. Da er seine ergrauenden Haare streng nach hinten gekämmt hatte, traten seine fleischigen Wangenknochen stärker als sonst hervor und verliehen seinem schmalen Gesicht einen Ausdruck von Entschlossenheit und Willensstärke. Seine schwarzen Augen, die gelegentlich eine eigenartig braune Färbung annahmen, verfolgten jede Geste seines Gegenübers, ohne die geringsten Anzeichen von Ungeduld oder Berechnung. Mit leicht gebeugtem Rücken, die eine Hand auf dem Tisch, während er den anderen Arm baumeln ließ, wirkte Polonius Fischer wie ein mit unerschöpflicher Neugier und auch mit einem für die abseitigsten Ereignisse grenzenlosen Verständnis gesegneter Zuhörer.
In Wahrheit marterte ihn der Zwang zu Verständnis, Neugier und Geduld oft mehr als die Fragen nach dem Hintergrund und präzisen Ablauf eines Verbrechens. Wäre er nicht neun Jahre lang Tag für Tag zu harter Disziplin und religiösem Respekt erzogen worden, hätte er vor, in und nach manchen Ermittlungen Flüche durch die Flure des Kommissariats geschickt, die seine abgebrühten Kollegen nie für möglich gehalten hätten.
Aber wenn er lächelte, hatte niemand etwas zu befürchten. Zumindest eine Weile nicht. »Sie haben sich behauptet«, sagte er.
»Ja, das hab ich, und ich arbeite hart dafür, daß wir den Status erhalten, den wir erreicht haben, meine Frauen und ich. Wir sind nur zu viert, das bedeutet, wir können uns Nachlässigkeit und übertriebenes Gehabe nicht leisten. Wir sind eine Art Familienbetrieb, jeder verläßt sich auf den anderen, jeder übernimmt Verantwortung, jeder hat das gleiche Interesse, nämlich das Geschäft. Und wenn wir übernächstes Jahr unser Jubiläum feiern, dann wissen wir, was wir in den zehn Jahren geleistet haben. Unsere Kunden sind treu, und wir haben Gäste aus ganz Deutschland und auch aus der Nachbarschaft. Und wer nur ein Bier trinken und eine schöne Frau anschauen möchte, ist bei uns genauso willkommen wie jemand mit Sonderwünschen. Bis zu einer bestimmten Grenze. Wir machen nichts, was wir nicht wollen, egal, was der Mann dafür bezahlen würde. Wir haben schon Gäste verloren, das können Sie mir glauben. Wir bleiben bei unserem Prinzip. Also, was wollen Sie noch von mir? Glauben Sie immer noch, ich hab den Mann absichtlich … absichtlich …«
»Sie haben ihn getötet.« Fischers Stimme war tonlos.
Clarissa hielt sich die Hand vor den Mund. Ihr zuversichtliches Empfinden, das ihr soeben noch das Sprechen erleichtert hatte, verwandelte sich in einen Alpdruck, der ihrem Zustand unmittelbar nach dem Geschehen glich, als sie sich das fremde Blut aus dem Gesicht wischte und den Blick nicht von dem Mann abwenden konnte.
Ja, er starb durch ihre Hand.
Ja.
Trotzdem war das eigentlich nicht möglich. Er hatte sich falsch verhalten, ganz falsch. Er hatte die Regeln verletzt, er hatte die Hand aus der Schlinge gezogen, er hatte alles vermasselt.
Genauso hatte sie es dem Kommissar erzählt. Gestern nacht. Heute früh. Hans hatte sie nichts erzählt. Er war besoffen nach Hause gekommen, und als die Polizisten um halb acht bei ihr geklingelt hatten, schnarchte er einfach weiter.
Sie hatte einen Mann getötet. Den freundlichen Herrn Mora.
»Warum hat sich der Mann bei Ihnen auspeitschen lassen?« fragte Fischer und bemerkte, wie Valerie auf die Uhr an ihrem Handgelenk zeigte. Aber er wollte jetzt keine Pause einlegen.
»Was?« Clarissa verschluckte sich und hustete. »Entschuldigung. Warum? Das weiß ich nicht.«
»Sie haben ihn nie gefragt?«
»Doch. Ich glaub schon. Ich weiß es nicht mehr. Irgendwann wollte er es ausprobieren, und es gefiel ihm. Nie ist was passiert. Das wär doch Irrsinn. Wir mißhandeln doch niemanden.«
»Herr Mora war Stammgast bei Ihnen.«
»Das hab ich doch schon gesagt. Er kam alle zwei, drei Monate. Jetzt fällt mir etwas ein. Ich hab’s vergessen gehabt, ganz vergessen.« Sie ruckte mit dem Stuhl und umklammerte die Tischkante. Strähnen ihrer hellblonden Haare, die sie, ähnlich streng wie der Kommissar, zurückgekämmt und mit einem schwarzen Band zusammengebunden hatte, fielen ihr vors Gesicht. »Er hat noch was gesagt, bevor er … bevor er nicht mehr sprechen konnte … Er hat gesagt … Halt den Zug auf! Wieso hab ich das vergessen? Halt den Zug auf. Und noch was. Irgendwas von Schmach, ich weiß nicht mehr genau. Schmach. Das war, als ich ihn schon … als er schon … Das fällt mir jetzt wieder ein.«
»Gut. daß Sie noch nicht gegangen sind«, sagte Fischer.
Clarissa nickte und wagte ein dürres Lächeln. »Halt den Zug auf. Haben Sie seine Frau vernommen?«
»Sie wird psychologisch betreut, ich spreche später mit ihr.«
»Halt den Zug auf«, sagte Clarissa leise.
»Sie haben ausgesagt, Herr Mora war angetrunken, stärker als sonst.«
Sie nickte, mehrmals hintereinander, in Gedanken verstrickt.
Die meisten Männer, die zu ihr kamen, waren angetrunken, und die, die nüchtern waren, benahmen sich nicht zwangsläufig besser, eher fordernder, herablassender, gönnerhaft oder einfach nur dumm und selbstgefällig. Alltag.
Der Herr Mora. Cornelius. Ein unscheinbarer Gast, der aus Gründen, die außer ihm niemand kannte, Gefallen am schwarzen Zimmer gefunden hatte.
Wieder sah sie ihn da hängen, mit schaukelndem Arm. Sie hörte das Ploppen des Blutes auf die Kunststoffplane. Sie hielt die Gerte fest umklammert, den geriffelten Gummigriff. Sie hielt eine Mordwaffe in der Hand.
Nein. Das war keine Mordwaffe.
»Herr … Jetzt hab ich Ihren Namen vergessen.«
»Fischer.«
»Entschuldigung. Ich erkläre Ihnen jetzt zum letztenmal, Herr Fischer: Herr Mora hat sich nicht so verhalten wie verabredet, offensichtlich wollte er die Behandlung abbrechen, ohne mir seinen Entschluß rechtzeitig mitzuteilen. Er befreite sich, und das war sein Todesurteil.«
Sie wandte den Kopf zu Valerie und wartete, bis diese zu Ende geschrieben hatte, dann schob sie den Stuhl ein Stück zurück und stand auf. »Ich hab alles gesagt. Meine Mitarbeiterinnen und auch Herr Petrov haben Ihnen bestätigt, wie der Abend verlaufen ist und daß Herr Mora, wie schon öfter, auf dem Andreaskreuz bestanden hat. Ich hab ihn auf seinen eigenen Wunsch hin festgebunden, und er hat in die Behandlung eingewilligt. Sein Tod war ein schreckliches Unglück.«
Einen Moment lang fragte sich Fischer, ob ein Anwalt ihr diese Sätze vorgegeben hatte.
Er stand ebenfalls auf. Bei einer Größe von einem Meter zweiundneunzig berührte sein Kopf beinah die Zimmerdecke.
»Sie müssen das Protokoll noch lesen und unterschreiben. Sie dürfen die Stadt nicht verlassen. Wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind, wird der Staatsanwalt mit Ihnen sprechen und anschließend Anklage erheben.«
»Wegen Mordes?« sagte sie laut.
»Das wissen wir noch nicht. Bis dahin bleibt Ihr Club geschlossen. Sie sind die alleinige Geschäftsführerin?«
»Natürlich.« Wieder schlug sie mit der rechten Hand durch die Luft. Schon die ganze Zeit betrachtete Fischer ihre blassen, kräftigen Finger und die Narben auf beiden Handrücken.
»Ich bin doch keine Mörderin! Was passiert denn jetzt? Tauchen jetzt Reporter bei uns auf? Wie läuft das?«
»Unsere Pressestelle gibt jeden Tag einen Polizeibericht heraus, das kennen Sie aus der Zeitung. Wir werden Ihren vollständigen Namen nicht nennen, aber Geschichten aus dem Milieu sind für Journalisten immer brauchbar, sie werden Ihre Identität aufdecken.«
»Und was soll ich dagegen tun? Ich laß mich doch nicht öffentlich ausstellen. Ich hasse das. Verdammte Presse. Ich verklag die alle, wenn die irgendwas über mich schreiben.«
»Sprechen Sie mit niemandem. Geben Sie über Ihren Anwalt eine einmalige Erklärung ab, das genügt. Haben Sie eine Vorstellung, wie sich Ihre Kollegen oder Konkurrenten aus der Levelingstraße verhalten werden?«
»Weinen werden die nicht, wenn mein Club zu ist.«
Fischer öffnete die Tür. In einem der Zimmer diskutierten die Hauptkommissare Sigi Nick und Emanuel Feldkirch über ihre laufenden Recherchen. Als sie die Tür hörten, verstummten sie.
»Was bedeutet das?« Clarissa Weberknecht deutete auf das kleine weiße Schild mit den zwei Buchstaben neben der Tür.
»Meine Kollegen nennen mich P-F, und deshalb heißt auch dieser Raum so, ich bin der einzige, der ihn benutzt.«
»Sie haben einen eigenen Raum für Ihre Verhöre?«
»Ich mache keine Verhöre«, sagte Fischer.»Ich führe Gespräche. Warum heißt ihr Club Dinah? Wer ist Dinah?«
»Eine Freundin hieß so«, sagte Clarissa. »Sie ist gestorben. Darüber möcht ich nicht sprechen.«
Sie verzog ihren blaßrot geschminkten Mund zu einem scheuen Lächeln und streckte die Hand nach Fischers Kopf aus, ohne ihn zu berühren. »Sie sollten Ihre Haare färben, Schwarz steht Ihnen besser als Grau.«
Valerie schüttelte den Kopf und stellte den Laptop auf ihren Schreibtisch gegenüber dem P-F-Raum. Fischer warf den Kopf hin und her und schien ernsthaft über Clarissas Vorschlag nachzudenken.
»Aber Sie kleiden sich gut«, sagte Clarissa.
Kurz darauf, nachdem sie das fünfunddreißig Seiten umfassende Protokoll unterschrieben und das schmiedeeiserne Tor vor der Haustür des Kommissariats hinter sich geschlossen hatte, dachte sie nicht mehr an den großgewachsenen Mann mit der hervorspringenden Nase. Sie dachte an ihre Freundin. Und sie wunderte sich, daß sie nach allem, was in der Nacht geschehen war und nie hätte geschehen dürfen, jene Straße in der Altstadt betrat, in der Dinah und sie früher gemeinsam gearbeitet und gewohnt und ihre Zukunft ausgeschmückt hatten.
In der Ledererstraße gab es nur noch eine einzige Nachtbar, dafür ein neues Designerhotel, ein auf italienisch gestyltes Café, ein herausgeputztes chinesisches Restaurant, ein Musikgeschäft mit internationalem CD-Angebot und eine Handvoll kleiner Läden, an denen die architektonischen Modernisierungen in der Umgebung des Marienplatzes ebenfalls nicht spurlos vorübergegangen waren.
Von der ältesten Stadtmauer Münchens, an der das Kommissariat III in einem mittelalterlichen Gebäude untergebracht war, schlenderte Clarissa Weberknecht die schmale, einhundertfünfzig Meter lange Einbahnstraße entlang, wich den Touristengruppen aus, die mit Fotoapparaten und Videokameras wie ferngelenkt das nahegelegene Hofbräuhaus ansteuerten, und versuchte, ihre Erinnerungen zu verscheuchen.
Doch je länger sie ging, je öfter sie innehielt und Reste alter Zeiten entdeckte – ein Klingelschild mit handgeschriebenen Namen an einem Hauseingang, eine blaue Gardine an einem Fenster im vierten Stock, den Geruch nach frischgebackenem Kuchen –, desto schwermütiger wurde ihre Stimmung. Sie wünschte, es würde wieder anfangen zu regnen und der Regen sie aus diesem Viertel vertreiben, in dem sie als junge Frau gemeinsam mit Dinah das Glück erfunden hatte.
Clarissa Weberknecht war sechsundvierzig Jahre alt, einen Meter achtundsechzig groß und hatte auffallend breite Schultern und Hüften, die sie kraftvoll nannte, und einen Bauch, den sie mit seinen weichen Ausformungen »wirkungsvoll« fand. Ihren Busen bezeichnete sie als »absolut frauig« und ihren Körper als »maßgeschneidert«, besonders ihren Hintern, mit dem, wie ihre Kolleginnen im Club behaupteten, neunzig Prozent aller Frauen die grausamsten Diäten und Massagetechniken auf sich nehmen würden.
Über ein Wort wie Übergewicht hatte Clarissa sich schon mit Dinah amüsiert. Das war zu einer Zeit, als nicht einmal Models Kleidergröße null trugen, worüber sich die beiden jungen Bardamen in der Ledererstraße vermutlich totgelacht hätten.
Manche Gäste hatten sie für Schwestern gehalten.
»Wie alt seid ihr?«
»Ich bin vierundzwanzig«, sagte Clarissa.
»Ich neunzehn«, sagte Dinah.
»Glaub ich nicht.«
»Willst du’s nachprüfen?«
»Wie denn?«
»Ich bin noch Jungfrau.«
Irgendwann hatte Clarissa aufgehört zu zählen, wie oft ihre Freundin diesen Satz mit unschuldigster Miene geflüstert hatte und anschließend mit dem Gast im Separee verschwunden war, wo sie sich, wie Clarissa wußte, auf sanftmütigste Art für ihre kleine Lüge entschuldigte.
Heute hieß die einzig noch verbliebene Bar in der Ledererstraße »Madame Cabaret«, sie befand sich im selben Haus wie damals das »Lucy«. Schräg gegenüber, anstelle des Hotels, hatte Trude Severin ihre »Lederstubn« betrieben, ein bayerisches Lokal mit Oben-ohne-Bedienung, einerseits benannt nach der Ledererstraße, hauptsächlich aber nach Trudes Vorliebe für martialische Kleidung. Eigentlich hatte in ihrem Laden nichts so richtig zusammengepaßt und die meisten Gäste waren auch vollkommen ausgelastet mit dem Anblick der Brüste vor ihrem Gesicht und hatten keine Kraft mehr für Phantasien anderer Art. Aber wenn Clarissa und Dinah wichtige Dinge besprechen mußten, für die ihr Zimmer im dritten Stock zu eng und das »Lucy« zu hellhörig war, vertrauten sie sich Trude an, egal, ob es um Männer, seelische oder körperliche Beschwerden, Ängste und Depressionen oder sensationelle Zukunftsvisionen ging. Trude besaß die Gabe des heilenden Zuhörens. Wenn sie sich Zeit nahm, empfanden die Besucher ihre Nähe wie eine Obhut, die sie mit schönerem Blick und gereinigtem Herzen wieder verlassen würden. Manchmal saßen Clarissa und Dinah zwei oder drei Mal in der Woche bei ihr und tranken spanischen Kräuterschnaps, und wenn sie gegen drei Uhr morgens noch in der »Baby’s Bar« auf einen Absacker einkehrten, wunderten sich ihre Kolleginnen dort über ihre beschwingte Stimmung zu so später Stunde.
Als das »Lucy« den Besitzer wechselte und Clarissas und Dinahs Wege sich trennten, ohne daß sie den Kontakt verloren und ihren gemeinsamen Plan aufgaben, führte Trude ihre ersten Kriege mit dem städtischen Ordnungsamt, der Polizei, der Ausländerbehörde und den Nachbarn. Nach eineinhalb Jahren dumpfer Auseinandersetzungen, von denen die Gegenseite einige über die Presse lancierte, beschloß Trude, daß sie mit Anfang sechzig für die fehlgeleiteten Testosteronschübe bestimmter Männer nicht mehr verantwortlich war. Sie sperrte die Lederstubn zu, gab in den fünf Tageszeitungen eine Anzeige auf, in der sie sich – wie sie formulierte – »bei namhaften Münchner Männern aus Politik und Wirtschaft« für die jahrelange Treue bedankte, und zog nach Pasing, wo sie im Blumengeschäft ihrer Schwester arbeitete, nicht ohne in ihrer Wohnung gelegentlich die Lederkleidung hervorzukramen und Besucher zu empfangen. Unter ihnen waren auch ehemals namhafte Münchner.
Was Clarissa bis heute nicht verstanden hatte, war, wieso Trude trotz mehrerer Anrufe und Einladungskarten nicht zur Eröffnung des Club Dinah und nicht einmal auf der Beerdigung von Dinah erschienen war. Immer war Trudes Schwester ans Telefon gegangen und hatte erklärt, Trude läge krank und unansprechbar im Bett oder sei verreist.
Von der gegenüberliegenden Straßenseite aus betrachtete Clarissa die Fensterfront des Hotels. Sie fand, es sah einladend und abweisend zugleich aus, genau wie das Café, vor dem sie stand. Italienische Popmusik erklang aus den Lautsprechern. Es kam Clarissa so vor, als würden Kellner wie Gäste mit aller Macht südländische Lässigkeit simulieren oder das, was sie dafür hielten.
In ihren fast dreißig Jahren im Nachtgeschäft hatte Clarissa Alltagsschauspieler zur Genüge kennengelernt, Männer, die andere Männer kopierten, Frauen, die andere Frauen kopierten, besessen von der Vorstellung, sie hätten nun eine eigene Identität. Bis sie stolperten oder die Sonnenbrille ihnen um Mitternacht vom Kopf rutschte und ins Cocktailglas fiel und sie – in dieser einen Sekunde entblößt von aller Maskerade – wie beim Rauchen erwischte Kinder rot anliefen und eine Weile ihre Rolle vergaßen.
An diesem grauen, windigen Sonntagmittag im Juni unterdrückte Clarissa Weberknecht ihr Verlangen nach einem doppelten Espresso und einem gerösteten Tramezzino. Aber nicht, weil das heitere Getümmel in dem engen Café ihre gedrückte Stimmung nur noch verschlimmert hätte. Es war das Lied, das sie von der halbgeöffneten Tür zurück in Richtung Kommissariat trieb und vor der ansteigenden Gasse nach links weiter ins Tal. Ein alter Celentano-Schmachtfetzen jagte sie aus der Ledererstraße bis zum Viktualienmarkt, zwischen hupenden Autos hindurch über die Blumenstraße auf den Reichenbachplatz, obwohl sie ihr Auto in der Nähe des Isartors geparkt hatte. Der Song hallte in ihr nach wie das Echo eines Fluchs, brachte sie außer Atem, scheuchte sie zweimal um den begrünten und bepflanzten Gärtnerplatz herum, bevor sie sich keuchend auf eine Bank fallen ließ, neben einen Obdachlosen, der ihr sofort seine Weinflasche hinhielt.
Bei diesem Lied hatte sie Cornelius Mora endlich so weit gehabt, daß er ihr hinauf ins schwarze Zimmer folgte und aufhörte, von seiner Frau zu erzählen, die angeblich auf ein Klassentreffen gegangen war und jemandem ein Geschenk mitbrachte, das sie vor ihm verheimlichen wollte. Im Treppenhaus war Celentanos Stimme nur noch dumpf zu verstehen gewesen, aber Clarissa hatte ihr nachgehorcht, das wußte sie später noch, als plötzlich der Kommissar mit der wuchtigen Nase vor ihr auftauchte und ihr mit der Taschenlampe ins Gesicht leuchtete. Und sie wußte es jetzt, auf der Parkbank vor dem Supermarkt, neben dem übelriechenden Mann mit der grünen Flasche. Sie hörte ihre Schritte im Treppenhaus und die von Mora hinter ihr, und sie hörte die monotone Melodie des italienischen Schlagers. Und als sie die Tür des schwarzen Zimmers schloß, zögerte sie einen Moment und summte mit.
Und nun saß sie hier und hatte womöglich ein Verbrechen begangen.
»Nein«, sagte sie zu dem Mann im schäbigen roten Anorak, der sie unentwegt angaffte. »Er ist selber schuld, ich hab nichts getan. Er hätt zu Hause bleiben sollen und auf seine Frau warten. Wenn er sein ganzes Geld bei uns läßt, kann ich nichts dafür. Seine familiären Verhältnisse gehen mich nichts an, seine nicht und die von niemandem. Zu uns kommt jeder freiwillig. Was er getan hat, war unverantwortlich. Er hat die Regeln verletzt, er hat mich in die schlimmste Lage meines Lebens gebracht. Wegen ihm bleibt mein Laden geschlossen, zum erstenmal seit acht Jahren. Wer bezahlt mir meinen Ausfall? Seine Frau? Sie haben pleite gemacht. Und wenn ich wegen ihm ruiniert bin, dann wend ich mich an seine Frau, dann zieh ich sie zur Rechenschaft, dann wird sie büßen für das, was ihr Mann mir angetan hat. Starren Sie mich nicht so an. Ich werd mich nicht wegdrängen lassen. Durch die Dummheit und Verantwortungslosigkeit eines Mannes wird das, was Dinah und ich uns aufgebaut haben, nicht zerstört werden. Das laß ich niemals zu. Kaum ist seine Frau auf einem Klassentreffen, schleicht er zu uns und will spielen. Männer sind so. Ich kenne alle Sorten von Männern, auch wenn Dinah immer behauptet hat, es gäbe nur zwei Sorten von Männern, die vor und die nach dem Orgasmus. Das stimmt nicht. Man darf Männer nicht unterschätzen, und das haben wir auch nie getan. Sonst würden wir nicht mehr existieren, in unserem Job, im wahren Leben. Männer sind wie japanische Kugelfische, wenn du sie genießen willst, darfst du keinen Fehler machen, sonst stirbst du jämmerlich an ihrem Gift. Ich hab Dinah am Totenbett versprochen, unser Haus zu hüten, solange es irgendwie geht, und es gegen alle Widerstände zu verteidigen. So wie Trude ihren Laden verteidigt hat bis zum Schluß. Aber ich geb nicht so schnell auf wie Trude. Und einer wie Mora ist kein Gegner, der ist nur ein Dummkopf. Und Dummköpfe, glotz nicht so, können einer Frau wie mir schon lang nicht mehr das Kreuz brechen.«
»Genau«, sagte der Mann und trank aus der Flasche und spuckte aus. Er brauchte eine Zeitlang, bis er begriff, daß die Frau nicht mehr neben ihm saß.