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Etwas zum Abbeißen in
der Nacht
Ein Jahr später, am Sonntag, 23. September, verließ Clarissa um halb fünf Uhr morgens als letzte den Club und fuhr mit ihrem roten Mazda MX 5 in ihre Wohnung in der Anhalter Straße 14 im nördlichen Stadtteil Milbertshofen. Für den Abend hatte sie eine Verabredung, von der ihr Lebensgefährte nichts wußte.
Sie schlief bis kurz vor eins, badete und stellte sich nackt ans Fenster zum Innenhof, ohne hinauszusehen. Gedankenverloren trank sie eine Tasse Kaffee, schaltete die Lampe mit dem Keramikschirm auf dem Fensterbrett ein, zupfte an den Blättern der Topfpalme, strich sich über den Bauch und ging zurück ins Schlafzimmer. Sie zog eine weite Jeans und einen grauen Wollpullover an, keine Unterwäsche.
Wie jeden Sonntag, wenn es nicht gerade schüttete oder schneite, spielte Hans Fehring mit Freunden an der Isar Fußball, manchmal kehrten sie anschließend in einem Gasthaus ein und versumpften. Gestern hatte Hans zwar davon gesprochen, er müsse dringend noch umfangreiche Steuerunterlagen zweier Klienten fürs Finanzamt fertig machen, aber Clarissa rechnete nicht damit, daß er früher nach Hause kommen würde. Im Moment hatte er wieder eine seiner Aushäusigkeitsphasen, in denen er sein Alter vergaß und sich hinterher wunderte, wieso der Bierkonsum ihn derart schlauchte und in eine trübsinnige Stimmung versetzte. Kasperl, du, sagte Clarissa dann zu ihm und drückte ihren neunundvierzigjährigen, schmächtigen, vor sich hin murrenden Lieblingsmann so lange an ihren Busen, bis er wehrlos zum Vergnügen bereit war.
Ohne ihn hätte sie die Zeit vor und nach dem Prozeß vermutlich nicht durchgestanden.
Ohne ihn hätte sie die Zeit vor und nach Dinahs Tod bestimmt nicht durchgestanden.
Und ohne ihn wäre sie von Bert nie losgekommen.
Ohne Hans wäre sie heute vielleicht eine Hausfrau in einem Häuschen am Chiemsee, eine geblümte Ehefrau in einem gepflegten Garten, die sich von ihren geblümten Nachbarinnen in ihren noch viel gepflegteren Gärten nur dadurch unterschied, daß sie bei den regelmäßigen Nachbarschaftstreffen mehr Alkohol vertrug als andere und am Ende des Abends von vor Eifersucht glühenden Megären umgeben wäre, weil deren Männer ihre Blicke nicht hatten zügeln können.
Für so ein Leben hätte Dinah sie zuerst verlacht und dann verachtet.
Bert hatte ihr seine Pläne in allen Einzelheiten dargelegt. Wieder und wieder beschrieb er mit schönsten Worten die Vorzüge des zweistöckigen, zweihundertfünfzig Quadratmeter großen Landhauses, das seine Eltern, offenbar wohlhabende Apotheker, ihm vererbt hatten. Er spendierte Champagner, erheiterte Clarissa und ihre Kolleginnen mit Anekdoten aus seinem Dorf, wo er als Bub aufgewachsen war, und ließ Clarissa tatsächlich für einige Stunden den Schmerz vergessen, in dem sie wie in einem lichtlosen Kerker hauste.
Das Zimmer war immer hell, wie mit glitzerndem, verheißungsvollem Schnee ausgekleidet. Als würde gerade die Kindheit beginnen. Dinah wollte es so. Und sie war doch noch ein Kind, ein kleines Mädchen in einem viel zu großen Bett.
Jedesmal, wenn Clarissa hereinkam, leise, ohne Schuhe, in Dinahs selbstgestrickten feuerroten Socken, dachte sie im ersten Moment, jemand habe ihre Freundin gegen ein Kind getauscht, und es schlafe heiter und still.
Und Clarissa stellte sich vor, wie Dinah durch die Stadt spazierte, schön und beschwingt, und auf dem Rückweg eine Tüte mit frischen Leberkässemmeln vom Meyerling mitbrachte, die sie am liebsten mochte. Dann aßen sie in trauter Runde und zwickten sich in die Hüften und amüsierten sich über ihre Geschlechtsgenossinnen, die glaubten, der Verzehr von Salatblättern förderte ihre Attraktivität. »Leberkässemmeln essende Frauen sind erotisch«, sagte Dinah zu den neuen Mädchen in der Lucy, »Salatblätter essende Frauen sind bloß geschminkte Kühe, merkt euch das.« Und sofort verschlang sie eine zweite Semmel mit süßem Senf, leckte jeden Finger einzeln ab, strich mit der Zunge über ihre Lippen, massierte sich sanft den Bauch und rief: »Ich bin soweit.« Dann klatschten alle.
Und es kam Clarissa so vor, als wäre das verrauchte, karge, ein wenig schmuddelige Hinterzimmer ein wunderbarer Stall voller übermütiger Hühner, deren Zukunft kein Mann, kein Mensch zerrupfen und zerstören könnte.
Und es war kein Mann, kein Mensch, der Dinah eines Nachts vor neun Jahren zerstörte und zerrupfte. Es war ein unsichtbares Monster, es war ein Tier, neidischer als alle Frauen, gehässiger und erbarmungsloser, und es ließ ihr nicht einmal Zeit zu hoffen. Das Monster verschlang ihre Hoffnung in der ersten Nacht. Und als Dinah längst im Zimmer in der Anhalter Straße lag, weil sie es so wollte, begriff Clarissa noch immer nicht, wieso das Monster ihrer Freundin nicht wenigstens eine Hoffnung gelassen hatte, etwas zum Abbeißen in der Nacht, wie eine Leberkässemmel.
Das Zimmer muß so weiß sein, sagte Dinah, wie mein Blut weiß ist, dann schmelz ich wie Schnee, und es wird Frühling wie früher.
Und Clarissa hielt ihre winzige Hand und sah zum Fenster, zur neugekauften weißen Gardine und der Vase mit den elf weißen Rosen und dachte an den Vertrag, den sie gemeinsam unterschrieben hatten, und an das Haus in Berg am Laim, in dem ihre Zukunft beginnen sollte. Und sie dachte an die vergangenen acht Jahre, in denen sie sich beinah aus den Augen verloren hatten, aber dann doch nicht. Und sie wandte den Kopf ab und sah hinunter auf das in verzweifeltem Staunen erstarrte Gesicht ihrer besten Freundin, die dreiunddreißig Jahre alt und ein Mädchen war, bleich und dürr und verhärmt, als hätte sie sich ihr Leben lang von Salatblättern ernährt.
In der letzten Nacht legte Clarissa sich zu ihrer Freundin ins Bett und weinte in Dinahs weit aufgerissene Augen hinein.
Und Dinah blinzelte und leckte sich die Lippen und schmatzte ein wenig und zitterte wegen des vielen Schneebluts in ihr.
Und Clarissa drückte sie an ihren Busen und hörte ein Schnuppern oder bildete es sich ein und umarmte zwei Stunden lang einen von jedem Frausein Lichtjahre entfernten Körper. Dann legte sie ihn behutsam wie ein Neugeborenes aufs Laken zurück, küßte Dinah auf die Stirn und setzte sich neben das Bett still auf einen Stuhl.
Alles in Clarissa war aus Haß. Und nur wenig davon verschwand im Lauf der Jahre, die folgten, in dem Club in Berg am Laim, der Dinahs Namen trug.
In ihrer Wohnung, die früher Dinah gehört und die sie Clarissa vererbt hatte, gab es kein weißes Zimmer mehr. Acht Wochen nach der Beerdigung hatte Clarissa die Laken, mit denen sie nicht nur das Bett bezogen, sondern auch die Möbel verhängt hatte, und die Gardinen, die sie auf Wunsch ihrer Freundin gekauft hatte, abgehängt, gewaschen und im Schrank verstaut.
An manchen Sonntagen, wenn sie allein im Zimmer saß, in dem Dinah gestorben war, versank sie in Erinnerungen und wunderte sich, wie ungeniert die Zukunft begonnen und ihr Glück in Gestalt eines Lieblingsmannes gebracht und ein solides Einkommen in Gestalt tausender fremder Männer beschert hatte.
Nur einer störte. Einer hatte sich in ihre Gegenwart geschlichen, und dort gehörte er nicht hin. Er, von dem Hans nur flüchtig das Gesicht kannte und dessen Namen er wieder vergessen hatte, lauerte ihr seit mindestens eineinhalb Jahren auf, genau wußte sie es nicht. Durch Zufall hatte sie sein Gesicht an einem Schaufenster in der Theatinerstraße vorbeihuschen sehen, und als sie nach ihm Ausschau hielt, war er verschwunden.
Wenige Tage später überfiel sie beim Verlassen ihrer Wohnung eine seltsame Ahnung, und sie beschloß, nicht in ihr Auto zu steigen und statt dessen zu Fuß zu gehen, um herauszufinden, ob sie sich getäuscht hatte. An der Ecke zur Riesenfeldstraße, die Milbertshofen in nördlicher Richtung bis zur Moosacherstraße durchquert, zögerte sie. Sie drehte den Kopf nach rechts und links, als würde sie auf eine Gelegenheit warten, zwischen den heranpreschenden Fahrzeugen auf die andere Seite zu gelangen, und setzte dann ihren Weg auf dem Bürgersteig fort, bis sie an der Keferloherstraße erneut stehenblieb. Mit einem Ruck wandte sie sich um.
In etwa zweihundert Metern Entfernung huschte ein Mann in einen Hauseingang. Er trug einen grauen Mantel und einen karierten Hut, und Clarissa hatte keinen Zweifel, um wen es sich handelte. Sie bewegte sich nicht von der Stelle. Passanten kamen ihr entgegen. Sie achtete darauf, daß niemand ihr die Sicht versperrte. Nach fünf Minuten machte sie sich auf den Rückweg. Dort, wo der Mann sich versteckt hatte, befand sich ein Durchgang zu einem Innenhof.
Sie ging an einem Schreibwarenladen und einem Backshop vorbei zur Rückseite der Wohnanlage. Niemand außer ihr hielt sich dort auf. Ein verlassener Sandkasten, ein altes, hölzernes Klettergerüst, eine mit Graffiti besprühte Parkbank, eine verwitterte Tischtennisplatte aus Stein und eine Reihe halbverrosteter Eisenhalterungen für Fahrräder bildeten ein trostloses Ensemble. Es glich dem, das Clarissa von ihrem Wohnzimmer aus sah und über das hinweg ihr Verfolger sie von seiner Wohnung aus mit einem Fernglas beobachtete. Warum er das tat, wußte sie nicht, ebensowenig, wann er dort drüben eingezogen war. Auf der Klingeltafel an der Haustür stand nicht sein Name, allerdings waren zwei Schilder unbeschriftet.
Lange hatte sie nicht mehr an ihn gedacht, und darüber war sie froh. Denn er hatte begonnen, sie zu belästigen und zu bedrängen und sie nachts, nach der Arbeit, auf der Straße abzupassen. Sein Bekenntnis änderte sich nie: Sie sei die wahre Frau für ihn, seit er sie getroffen habe, begreife er den Sinn seines Daseins, und er könne ihr eine Existenz bieten wie sonst niemand. Und wenn sie ihn verstoße, würde sie auch sich selbst verstoßen und eines Tages auf ein verkehrtes Leben zurückblicken und als gescheiterter Mensch sterben müssen, so wie auch er ein gescheiterter Mensch sein würde.
Er wurde nie laut, wenn er so redete. Anfangs fand sie ihn charmant und die Art, wie er sich ihr gegenüber verhielt, aufrichtig und anrührend. Doch nach einigen Monaten, nachdem sie ihm wiederholt und eindringlich erklärt hatte, daß sie weder seine Frau noch seine Freundin oder Geliebte werden würde, er aber weiter Gast im neu eröffneten Club Dinah sein dürfe, steigerten seine trotzigen Annäherungsversuche ihren Zorn bis zu dem Augenblick, als sie ihm auf offener Straße zwei schallende Ohrfeigen verpaßte und ihm drohte, die Polizei zu holen, wenn er noch ein einziges Mal in ihre Nähe käme. Und weil ihre eigenen Worte sie zusätzlich aufgewühlt hatten, ohrfeigte sie ihn ein drittes Mal. Daraufhin setzte sie sich in ihren Mazda, ließ den Motor aufheulen, gab Gas und fuhr direkt auf ihn zu. Mit einem Schrei sprang er zur Seite. Sie reckte die Faust aus dem offenen Cabrio, bog mit quietschenden Reifen in die Weihenstephanerstraße ein und hörte und sah nie wieder etwas von ihm. Bis vor ungefähr eineinhalb Jahren.
Seither bildete sie sich ein, von ihm verfolgt zu werden, von morgens bis abends, ohne daß sie auch nur seinen Schatten zu sehen bekam. Erst, als sie eines Nachts von ihrem dunklen Zimmer aus die Gestalt mit dem Fernglas hinter dem Fenster im Haus gegenüber bemerkte, fand sie ihre Ruhe wieder und hatte keinen Zweifel mehr an der Person ihres Verfolgers und an dessen Absichten.
Sie war überzeugt, seine Besessenheit habe ihn so weit getrieben, eine Wohnung in der Riesenfeldstraße 61 zu mieten, mit Blick auf den Innenhof, der auf der gegenüberliegenden Seite vom Wohnblock Anhalter Straße 12 und 14 begrenzt wurde.
Bertold Gregorian, den alle Bert nennen durften, müßte inzwischen, so schätzte Clarissa, fast siebzig sein, ein Mann, der schon damals, in den ersten Wochen des Club Dinah viel älter als sechzig wirkte und wie jemand, von dem man sich nicht vorstellen konnte, wie er als junger Mann oder als Jugendlicher gewesen sein mochte.
Siebzig, dachte sie an diesem Sonntagnachmittag und blickte vom Sofa aus hinüber zu den rostbraunen Balkonen. Siebzig, und auf dem Weg in eine unheilbare Verrücktheit.
Vor ihm gefürchtet hatte sie sich in den eineinhalb Jahren nie, trotz des manchmal mulmigen Gefühls und ihres Ärgers beim Gedanken an den fremden Schatten irgendwo. Vielleicht, weil sie ihn aus Situationen kannte, in denen er nicht nur körperlich nackt vor ihr gelegen oder gekniet hatte und sie sich sicher gewesen war, daß er nicht zur Abteilung der Unberechenbaren gehörte.
Vielleicht hatte sie keine Furcht vor Bert Gregorian, weil sie ihn nicht ernst genug nahm und, wenn sie ehrlich war, nie ernst genug genommen hatte, höchstens für Momente eines schönen Blicks oder einer sachten wortlosen und unaufdringlichen Berührung.
Natürlich hätte sie ihn längst zur Rede stellen müssen.
Doch weil sie sich nicht bedroht fühlte und ihn nach einer Weile lächerlich und den Aufwand, den er betrieb, peinlich und seines Alters unwürdig fand, ließ sie ihn gewähren. Sie blieb wachsam, aber gelassen und plante die Konfrontation für einen Tag, an dem er am wenigsten damit rechnen würde.
Dann wieder hatte sie keine Zeit, keine Lust, keinen Elan, und sie verdrängte alle Gedanken an ihren Verfolger.
Dann passierte die Sache mit Mora.
In den Monaten nach dem Prozeß schien ihr, als halte ihr Verfolger Abstand und stehe auch nicht mehr mit dem Fernglas am Fenster. Vermutlich täuschte sie sich. Denn eines Nachts – und dann immer wieder – fuhr ein grauer Opel Vectra von Berg am Laim bis nach Milbertshofen hinter ihr her. Es war sein Wagen, und wenn sie im Fenster auf der anderen Seite des Innenhofs ein flüchtiges Blinken sah, wußte sie, daß er da stand und seinen Phantasien nachhing.
In all der Zeit hatte Hans, ihr Freund, nichts mitbekommen, und sie hatte ihm nichts erzählt. Und so sollte es bleiben.
Und heute war der Tag, den alten Mann zur Rede zu stellen. Unmißverständlich und mit dem einzigen Ziel, ihn für alle Zeit aus ihrem Leben zu verbannen.
Und wenn er sich weigerte?
Bei dieser Frage lächelte sie und sagte laut: »Er wird sich nicht weigern.«
Clarissa Weberknecht plante bereits die Feier zum zehnjährigen Bestehen ihres Clubs im nächsten Jahr. Und niemand, kein Mann, kein Mensch, würde dieses Jubiläum auf irgendeine Weise stören. Und falls doch, dann würde er die Störung, so gering sie auch sein mochte, mit dem Leben bezahlen. Das hatte Clarissa ihrer Freundin Dinah an deren erstem Todestag geschworen.
*
Sie hatte einen merkwürdigen Verdacht.
»Du bist nicht bei der Sache«, sagte sie und richtete sich neben ihm auf und lehnte sich an das Bettgestell.
»Natürlich bin ich bei der Sache«, sagte er.
»Ich weiß nicht.«
»Meinst du, ich habe den Orgasmus nur vorgetäuscht?«
»Na ja.«
»Du bist nicht bei der Sache«, sagte er und sah zu ihr hinauf. »Ich weiß, woran du denkst.«
»An dich, mein Herzensriese.«
»Du denkst an deine Arbeit und ob du nicht doch am Wochenende hättest fahren sollen.«
Nachdem Ann-Kristin Seliger aus ihrem Beruf als Journalistin ausgestiegen war – freiwillig und unfreiwillig zugleich, weil sie nicht länger unter ihrem Niveau und noch dazu schlecht bezahlt arbeiten wollte –, hatte sie die Prüfung zum Taxischein bestanden und fuhr seither für das Unternehmen Isarfunk, meistens bei Nacht. Seit dreizehn Jahren übte sie diesen Job aus, und es gab Phasen, in denen verdiente sie nicht mehr als fünfzehnhundert Euro im Monat, und jeder Mann, der bei ihr einstieg, versuchte sie anzugraben oder mit zweideutigen Bemerkungen aus der Reserve zu locken. Es gab Nächte, in denen sie an den beleuchteten Schaufenstern der Designerboutiquen und den in Zweierreihen geparkten Karosserien vor angesagten Restaurants und Bars vorüberfuhr und nicht anhalten konnte, wenn jemand am Straßenrand winkte, weil sie sich unzugehörig vorkam, alt und einsam und ausgelaugt und arm. Aber dann dachte sie an die Dinge, die sie aus ihrem früheren Beruf getrieben hatten, und sie wußte, nicht für fünftausend Euro im Monat würde sie dahin zurückkehren und auf die Reisen durch die Träume ihrer Stadt verzichten, und auf die Freiheit ihrer Existenz, in einer Wirklichkeit aus erster Hand.
Außerdem, fand sie, hatte sie mit ihrer letzten Reportage für die Seite 3 einer großen Tageszeitung mehr erreicht als jede andere Nacherzählerin von Wirklichkeiten – das wahre Herz eines Menschen.
Dieser Mensch hatte nach neun Jahren in einem Benediktinerkloster beschlossen, seinen alten Beruf wieder aufzunehmen und eine zusätzliche Ausbildung zu absolvieren, um schließlich in eine Abteilung zu wechseln, in der er schon als junger Mann gern gearbeitet hätte. Mit dem Auftrag, ein Porträt über diesen Mann zu schreiben, der nach fünf Jahren als einfacher Streifenpolizist zum Mönch wurde und nach seinem Ausscheiden aus dem Orden zum Hauptkommissar in der Mordkommission aufstieg, hatte sie in der Presseabteilung des Polizeipräsidiums um einen Termin gebeten.
Inzwischen waren dreizehn Jahre vergangen, und ihre Liebe hatte nicht gelitten.
»Ich bin froh, daß ich am Wochenende nicht fahr, wenn Oktoberfest ist«, sagte sie.
»Du verschenkst jedes Jahr viel Geld.«
»Sonst sorgst du dich immer, wenn ich nachts unterwegs bin, aber die Besoffenen sind dir egal.«
Polonius Fischer drehte sich zur Seite, legte den Arm um sie und küsste ihren Busen. »Nein, ich sorge mich trotzdem. Du hast dich nur beklagt, daß die Geschäfte schlecht laufen.«
»Wird schon wieder besser.« Wenn er sie so küßte, zerplatzten ihre Gedanken und sie bekam unbändigen Durst.
Nach einer Weile hörte er auf.
»Kannst ruhig weitermachen«, sagte sie mit geschlossenen Augen.
Aber er stand auf, ging zum Tisch und trank aus einem Wasserglas. Er hielt die Flasche hoch. Ann-Kristin schüttelte den Kopf.
Sie verschränkte die Arme und zog die Beine an den Körper.
»Neulich hab ich einen Mann in den Club gefahren, wo der Mann verblutet ist. Da ist mir wieder eingefallen, was du mir damals über die Frau erzählt hast, die ihn mißhandelt hat.«
»Sie hat ihn nicht mißhandelt. Was habe ich dir erzählt?«
»Daß die Frau was verbirgt und du sie eigentlich für schuldig hältst.«
»Das habe ich bestimmt nicht gesagt.« Er blieb vor dem Bett stehen.
»Jedenfalls haben dich ihre Hände beschäftigt.«
»Hände erzählen Geschichten«, sagte er. »Und oft nicht dieselben wie der Mund.«
Nach einem Blick auf seinen Körper befeuchtete sie mit der Zunge ihre Lippen, rutschte ein Stück nach unten, drehte sich auf den Bauch und spreizte die Beine. »Dann fang an zu erzählen, und zwar mit allem, was du hast.«
Hinterher blieb er auf ihr liegen, bemüht, sie mit seinem Gewicht nicht zu arg zu beschweren, den Kopf in ihren verschwitzten Haaren.
Und er dachte wieder an die Hände von Clarissa Weberknecht, an die weißen Narben auf ihren Händen und an die Art, wie sie damals im P-F-Raum durch die Luft geschlagen hatte. Als würde sie nicht eine bestimmte Person meinen, sondern sich selbst.