10
Das verborgene
Zimmer
Grüß dich.«
In dieser Sekunde hatte er ihren Namen vergessen. Als sie aber den Kopf drehte, fiel er ihm zum Glück wieder ein.
Sie blieb stehen und blickte vom gegenüberliegenden Bürgersteig zu ihm her.
»Kennst du mich noch?«
»Ach du«, sagte sie. »Was machst du hier?«
»Krankenbesuch bei einem Freund.« Arthur Fallnik schob seine Schirmmütze in den Nacken. »Der hatte einen schweren Autounfall. Mitten in der Stadt. Der Volldepp, der schuld war, ist abgehauen. Aber die Polizei hat ihn gekriegt. Ich nehm dich ein Stück mit, wenn du willst. Linda.«
»Du weißt ja meinen Namen noch.«
»Ist noch nicht so lang her, seit wir uns getroffen haben. Frierst du nicht in der dünnen Jacke?«
»Die ist gefüttert. Welche Richtung fährst du?«
»Nordbad. Wo wohnst du?«
Er wußte, wo sie wohnte. Er hatte eine Nacht in der Kälte seines alten Passat verbracht, um es herauszufinden.
»Elisabethstraße«, sagte Linda. »Kommst du echt zufällig hier vorbei?«
Sie glaubte es nicht. Aber sie wollte ihn in Sicherheit wiegen. Beinah hätte sie vorhin geseufzt, aus Freude, ihn zu sehen. Sie überquerte die Hiltenspergerstraße.
»Reiner Zufall. Mein Arbeitskollege wohnt Ecke Schleißheimer, in dem braunen Haus zum Park hin.«
Er zeigte in die Richtung.
»Das kenn ich«, sagte sie neben der Fahrertür. Vom Gewicht des Rucksacks tat ihr der Rücken weh.
Fallnik streckte den Kopf aus dem Fenster. »Ich muß weiter, steigst du jetzt ein?«
Aus einer schmalen Seitenstraße kam eine vor sich hin murmelnde alte Frau mit einem weißgrauen Pudel an der Leine. Sie warf einen kritischen Blick auf das Auto. Das Mädchen klappte den Beifahrersitz nach vorn, warf den Rucksack auf die Rückbank, setzte sich neben den Fahrer und schlug die Tür zu. Es war Viertel nach vier und fast dunkel. Die Frau zerrte an der Leine und machte sich, unverständliche Worte auf ihren Hund einredend, auf den Weg zum Luitpoldpark.
Das Auto fuhr im Schrittempo.
An der Einmündung der Hiltenspergerstraße in die mehrspurige Karl-Theodor-Straße, die am Südteil des Parks entlangführt, drehte sich die Alte noch einmal um. Sie sah, wie in der Ferne rote Bremslichter kurz aufleuchteten, aber ob sie von dem Auto stammten, in das das Mädchen eingestiegen war, konnte sie nicht erkennen. Außerdem bellte ihr Pudel und brachte sie zur Weißglut.
Fallnik war mehrmals versehentlich aufs Bremspedal gestiegen.
Das Mädchen wehrte sich immer noch, obwohl er ihren Kopf mit voller Wucht gegen das Armaturenbrett geschlagen und ihr mit der Faust in den Bauch geboxt hatte. Sie brachte nur noch ein Gurgeln hervor. Trotzdem strampelte sie weiter mit den Beinen.
Er brauchte eine Weile, bis er ihr mit dem Paketband den Mund verklebt und ihre Handgelenke aneinandergebunden hatte.
Dann packte er sie im Nacken und drückte sie unter das Handschuhfach auf den Boden. Mit dem Griff seiner Pistole schlug er ihr auf die Schulter und zielte auf sie.
»Still sein oder ich erschieß dich.« Wieder trat er aufs Brems- statt aufs Gaspedal. Und aus Wut über sein ungeschicktes Verhalten verpaßte er dem Mädchen einen Schlag auf den Hinterkopf.
Er trug seinen schwarzen Anorak und seine schwarzen Handschuhe und schwitzte am ganzen Körper.
Über die Clemensstraße fuhr er zur Schleißheimer Straße und weiter stadtauswärts zur Autobahn. Auch beim Schalten richtete er den Lauf der Waffe auf das Mädchen. Sie schluchzte und bewegte sich nicht.
Vor dem Petuelring fädelte er auf die linke Spur ein, weil er auf keinen Fall auf der Schleißheimer Straße bleiben wollte. Er summte, als die Ampel auf grün sprang.
Über ihm, irgendwo, hing die Kamera und überwachte den Stadtteil. Und er war Teil des Stadtteils und Linda bald auch, deren fürsorgliche Eltern in Schwabing bestimmt schon auf sie warteten.
»Wir sind jetzt zusammen«, sagte er an der Kreuzung zum Frankfurter Ring. »Ich wohn sehr bequem, lauter angenehme Nachbarn, die uns in Ruhe lassen. Freust du dich, Linda?«
Seine Stimme kam ihm verändert vor, dunkler, kräftiger, entspannter. Wieder begann er zu summen, und er hörte sich intensiv dabei zu.
»Hörst du mich?« fragte er.
Sie nickte. Das hatte er nicht erwartet.
Manches von dem, was in den vergangenen neun Stunden geschehen war, hatte er eigentlich nicht erwartet. Aber nun, da er zu Hause und niemand ihm in die Quere gekommen war, dachte er nicht weiter darüber nach.
Er ließ sie eine Weile nicken, ohne zu verstehen, warum sie nicht damit aufhörte.
»Laß das.«
Sie hörte auf zu nicken und starrte ihn an. Ihre Hände und Füße hatte er mit einer Paketschnur ans Bettgestell gefesselt, auf ihrem Mund klebte immer noch der breite braune Streifen, und sie trug dieselben Sachen wie am Nachmittag. Er hatte sie nicht ausgezogen. Das hatte er nie vorgehabt. Sie sollte sich erst eingewöhnen.
Er saß auf dem grün lackierten Holzstuhl, dessen Sitzfläche und Rücklehne aus einem geschwungenen Teil bestanden. Den Stuhl hatte er aus einem Hotel in Augsburg gestohlen, mühelos, das wußte er noch. Er hatte ihn im Aufzug in die Tiefgarage transportiert und in den Kofferraum geladen. Er hatte Spaß daran. Einer seiner Kollegen hatte am Abend vorher beim Bier erzählt, daß gewisse Hotelgäste Sofas und riesige Vasen klauten und nie erwischt wurden. Sein Schwager, berichtete der Kollege, betreibe ein angesehenes Hotel in Baden-Baden und klage seit Jahren über die Diebstähle von Leuten, die garantiert nicht arm seien.
Dagegen war der grüne Stuhl ein Furz.
»Liegst du bequem?« Er strich über die weiße, frisch gewaschene Bettdecke. Er hatte das Mädchen bis zum Hals zugedeckt, sie sollte nicht frieren und sich nicht schämen müssen.
Sie nickte wieder.
»Aufhören.«
Sie brummte in sich hinein, ruckte mit dem Arm, zappelte mit den Beinen.
»Wenn ich dir das Klebeband abnehme«, sagte Fallnik. »Bist du dann ruhig?« Er schlug die Beine übereinander und hielt dabei die Pistole fest, die er in den Schoß gelegt hatte.
Linda schnaufte heftig, ihr Gesicht war naß von Schweiß und Tränen.
Fallnik beugte sich so weit nach vorn, wie er konnte. »Ich kann dir nicht glauben.« Er lehnte sich wieder zurück.
Auf dem runden Glastisch neben dem Bett brannte eine Schirmlampe, sie tauchte das Bett in butterfarbenes Licht. Die grünen Vorhänge waren zugezogen, der Rest der Wohnung lag im Dunkeln.
Lindas schnelles, nervöses Schnaufen war das einzige Geräusch. Kaum hörbar, wie aus weiter Ferne, drang das Brummen des Straßenverkehrs herein. Das Schlafzimmer ging auf den Innenhof, in dem nachts um eins sogar im Sommer alles still blieb, abgesehen vom gelegentlichen Miauen einer verirrten Katze, die niemand im Wohnblock bisher zu Gesicht bekommen hatte. Einige nannte sie das Riesenfeld-, andere das Anhalterphantom, da das Tier offenbar am liebsten zwischen diesen beiden Straßen herumstreunte.
Fallnik strich die Daunendecke glatt. »Ich bin von Haus aus ein eher ungläubiger Mensch. Immer schon gewesen.«
Tränen rannen über Lindas Wangen. Sie zerrte an den Schnüren, warf den Kopf hin und her. Ihre blonden Haare flogen in wirren Wellen durch die Luft. Sie wollte etwas sagen, das Paketband wölbte sich sogar ein wenig.
Rote Flecken bedeckten das Gesicht des Mädchens, ihre Handgelenke hatten angefangen zu bluten. Schluchzend drehte sie den Kopf von Fallnik weg und wimmerte ohne Unterlaß, während er weiterredete.
»Damit du weißt, wo du dich befindest.« Er rückte mit dem Stuhl näher zum Bett. »Direkt unter mir wohnt Herr Gregorian. Rentner. Zwielichtige Person. Führt was im Schilde. Heut morgen hab ich ihn getroffen. Im Treppenhaus. Er raste aus seiner Tür raus und knallte fast mit mir zusammen. Hochroter Kopf. Wo wollte der hin? So früh? Ich wollt in den Baumarkt, Schnüre besorgen, Klebeband. Die nützlichen Dinge. Ich dachte, heut ist es soweit. Mit dir. Mit uns. Gregorian heißt der Mann, Big Bert. Ehemaliger Detektiv. Macht immer noch Aufträge, seine Rente kannst du dir vorstellen. Wahrscheinlich nicht. Du bist zu jung, um dir so was wie Rente vorzustellen. Wenn du mal so alt bist wie der Gregorian, gibt’s keine Rente mehr. Mußt du schauen, wo du bleibst, sonst bist du erledigt mit fünfzig. Und die Plätze unter den Brücken sind dann auch schon alle besetzt. In München kommen auf einen Reichen zwei Arme, und es werden mehr. Der Stadt sieht man das nicht an. Die Leute stehen Schlange bei den Essensausgaben, ohne die würden die Leute reihenweise verhungern. Wühlen in den Müllcontainern, finden nichts und krepieren. Die Leute schmeißen nichts mehr weg. Geh mal bei uns unten im Müllhäusl schauen: Verpackungen, Konserven, Plastik. Nichts zu beißen weit und breit. Früher haben die Penner und Landstreicher überall noch was rausgefischt. Heut ißt jeder alles selber auf bis zum letzten Krümel. Big Bert muß sehen, wie er rumkommt. Wahrscheinlich ist er deswegen so schlecht drauf, der hat Depressionen. Und eine Frau hat er auch nicht. Hab ihn mal gefragt, im Stüberl, wollt wissen, ob er Kinder hat. Nie gehabt. Nicht mal verheiratet gewesen. Immer allein gewesen. So sieht der auch aus. Ist gefährlich, wenn man zuviel allein ist, womöglich von Kindesbeinen an. Besonders, wenn du ein Einzelkind bist. Und du weißt ja, was aus dir wird, wenn du ein Einzelkind bist und nicht aufpaßt. Weißt du das? Bist du ein Einzelkind? Ja?«
Er sah ein schwaches Nicken.
»Ja? Ja? Ach. Ich auch. Weißt du, was aus einem Einzelkind wird, wenn es nicht aufpaßt? Ein Einzelerwachsener. Gefährlich. Denk an meine Worte. Big Bert. Gegenüber ein Jugoslawe mit Frau, Josef heißt der, arbeitet bei der Stadt. Straßenverkehrsamt. Kommt über die Runden. Die anderen kannst du vergessen. Ich red mit niemandem von denen. Die meisten halten eh ihre Tür verriegelt und tauchen nie im Stüberl auf. Wichtiger auf der drüberen Seite vom Hof. Soltersbusch. Frührentner. Exbäcker. Die Konkurrenz hat ihn plattgemacht. Billigläden. Backshops. Die jungen Leute gehen dahin, Schüler, die Nichtreichen. An sich eine soziale Sache. Aber: Für den gelernten Bäcker ein Verderben. Manche können sich halten. Soltersbusch nicht. Außerdem hat er eine Allergie gekriegt. Vielleicht war die Allergie mehr gegen die Konkurrenz als gegen den Teig und den Staub. Ich verrat dir was.«
Überrascht von Fallniks abruptem Schweigen hob Linda den Kopf und horchte und atmete leiser durch die Nase.
Fallnik legte die Hand mit der Pistole auf die Bettdecke, krümmte den Oberkörper, bis sein Mund Lindas Haar berührte. »Er hat eine Geheimloge gegründet.«
Fallnik flüsterte. »Keine echte Loge, wie in Italien. Keine Gruppe von Verbrechern wie diese Politiker damals. Im Gegenteil: lauter aufrechte Bürger. Ja.«
Er schnupperte. Die Haare rochen nach Schweiß und etwas, das er nicht definieren konnte. »Soll ich das Band abreißen?«
Ihr Kopf fuhr herum und sie nickte und sah ihn aus großen, geröteten Augen flehend an.
»Aber wenn du dann schreist?«
Sie schüttelte den Kopf, ignorierte die Schmerzen, die seit unendlichen Stunden von ihrem Nacken in ihr Gehirn drangen, so daß sie glaubte, bei jedem weiteren Wort, dem sie zuhören mußte, würde ihr Schädel zerplatzen.
Nein, dachte sie und drückte die Augen fest zu. Nein, nein.
»Aber wenn doch?«
Nein, dachte sie, bitte, bitte.
»Leg deinen Kopf aufs Kissen«, sagte er.
Sie tat es.
»Wenn du schreist, passieren schlimme Dinge.«
Er hob die Waffe.
Linda machte keinen Mucks. Sie versuchte, nicht zu denken, nicht zu heulen. In kurzen Schüben atmete sie ein und aus, um ruhig zu werden, vernünftig zu bleiben.
Seit er sie in seine Gewalt gebracht hatte, erschütterte ein Beben ihren Körper, das nicht nur von der Angst und der Gewalt, die der Mann ihr zufügte, herrührte.
Das Beben kam aus den Tiefen ihrer Vorstellungskraft, aus dem verborgenen Zimmer ihrer Jugend, von dem ihre Freundinnen nicht die geringste Ahnung hatten und das für ihre Eltern nur eine lächerliche und dumme Provokation gewesen wäre, hätten sie je davon erfahren.
Deshalb hoffte sie, der Mann würde sie nicht weiter mißhandeln, sondern einfach liegenlassen.
Aber vielleicht begriff er ja nichts, und er würde sie vergewaltigen und töten. Und sie hätte ganz umsonst das große Beben gespürt und das Zimmer mit dem glühenden Leben vergebens all die Jahre sorgsam gehütet.
»So gut kenn ich dich noch nicht«, flüsterte er.
Eine Weile spürte sie seinen Atem im Nacken.
Dann berührte seine kalte Hand ihre Wange, sein Zeigefinger strich über ihre Nase, und mit einer schneller Bewegung riß er ihr das Band vom Mund und lachte.
Mit weit geöffnetem Mund schnappte Linda nach Luft und sah zu ihm hinauf.
»Danke«, keuchte sie. »Danke, Herr …«
Er starrte sie an, die Pistole in der einen, das Klebeband in der anderen Hand.
In ihrem Nacken und an der linken Schläfe bemerkte er Verfärbungen, Schwellungen, Risse. Ihre nach hinten gestreckten Arme sahen im gelblichen Licht abstoßend weiß aus. Unter den Schnüren quoll Blut hervor. Auf dem Kopfkissen waren Blutschlieren.
»Ich hab dich schöner in Erinnerung«, sagte er.
Nach einem Moment stand er auf und ging hinaus, rollte den Klebestreifen zusammen und warf ihn in den Mülleimer in der Küche.
Auf dem Weg zurück ins Schlafzimmer kratzte er sich zwischen den Beinen. Sein Magen knurrte.
An der Tür blieb er stehen und schaute zum Bett.
»Linda«, sagte er leise. »Linda.«
Sie reagierte nicht.
Zum erstenmal, seit er gestern mittag den Baumarkt verlassen hatte, empfand er wieder Furcht. Er war überzeugt, daß es nicht die Furcht vor der Polizei war oder vor dem Verbrechen, das er an dem sechzehnjährigen Mädchen verübte. Nicht die Furcht, erwischt und von der Presse und den Leuten verachtet zu werden. Nicht die Furcht vor etwas, das er in den nächsten Tagen und Wochen in seinen eigenen vier Wänden womöglich tun würde.
Es war die vage und unangenehme Furcht vor dem Mädchen selbst, vor ihrer Art, vor ihrer Stimme, vor ihrer Haut.
Nachdem sie ihn im Dunkel unter dem Baum entdeckt hatte, war sie entschlossen auf ihn zugegangen, hatte ihm eine Flasche Bier in die Hand gedrückt und gesagt: Prost Neujahr, Sie können gern mit uns mitfeiern, ich hab Sie schon die ganze Zeit beobachtet, Sie sind etwas schüchtern.
Er hielt die Flasche noch fest, als sie seine Hand nahm – die mit der Flasche – und ihn zur Gruppe ihrer Freunde führte, die auf dem Schuttberg laute Musik hörten und jede Rakete, die irgendwo in den Himmel schoß, mit Jubelschreien begleiteten. Um das große gußeiserne Kreuz drängten sich Schaulustige, die das Silvesterfeuerwerk über der Stadt beklatschten und mit ihren Flaschen anstießen und sich umarmten.
Wie heißt du? fragte sie und duzte ihn einfach.
Arthur, sagte er.
Und sie: Ich bin Linda, prost, Arthur.
Sie lächelte und trank. Und erst später fiel ihm auf, daß sie offensichtlich zwar eine Menge Leute kannte, aber zu den meisten auf eine besondere Weise Abstand hielt. Sie redete und lachte mit ihnen, doch sie wandte sich oft ab und schien mit ihren Gedanken allein zu bleiben.
Wohnst du hier in der Gegend? fragte sie.
Und er: Nein, bin so rumgefahren.
Bist du allein? fragte sie.
Und er: Ja, macht aber nichts.
Ich bin auch allein, sagte sie und wiegte sich zur Musik und vollführte Tanzschritte um ihn herum.
Heut bist du aber nicht allein, sagte er und trank die Flasche leer und überlegte, wohin damit. Und als hätte sie alles genau registriert, nahm sie ihm die Flasche aus der Hand, ging zu einer Parkbank, auf der Jugendliche hockten, stellte die Flasche in einen der vielen Kästen und nahm zwei neue heraus. Die Deckel schnippte sie mit einem Feuerzeug weg, das sie einem Jungen, der sich gerade eine Zigarette in den Mund steckte, ohne zu fragen, aus der Hand genommen hatte. Mit schmeidigen Bewegungen tänzelte sie zu Fallnik zurück.
Und du bist auch nicht allein, sagte sie, bist du verheiratet?
Nein, sagte er, dein Mantel gefällt mir.
Danke! rief sie, trank und hob die Schultern.
Sie trug einen schwarzen, fast bis zum Boden reichenden Ledermantel und schwarze Stiefel zur blauen Jeans. Ihre blonden Haare leuchteten im Dunkel und bildeten einen eigenwilligen Kontrast zu ihrer nachtfarbenen Kleidung.
Und sie hörte nicht auf, herumzutänzeln. Je länger sie ihn ansah, desto stärker wucherte ein Verlangen in ihm, von dem er augenblicklich wußte, daß es ihn übermannen würde. Zum erstenmal seit zwei Jahren, und damals war es kein echtes Verlangen gewesen, bloß ein Aufbegehren im Rausch. Die Frau – mindestens zwanzig Jahre jünger als er – hatte ihn so lange und so oft in der Kneipe berührt, bis er ihre Hand packte und zwischen seine Beine klemmte. Von da an war ihm alles egal gewesen.
Jetzt, in der Neujahrsnacht, auf dem begrünten Schuttberg im Luitpoldpark, war ihm nichts egal. Nicht ein einziges Wort, kein Blick, kein Lächeln, kein Schluck Bier. Vor allem nicht das Mädchen, das ungefähr dreißig Jahre jünger war als er und diesen Mantel trug, als wäre ihre Haut und das Schwarz ihrer Haut eine einzige Aufforderung, sie zu nehmen, zu besitzen.
Vier oder fünf Flaschen Bier hatten sie zusammen getrunken, zwei oder drei Stunden lang. Und sie erzählte ihm, sie gehe in der Nähe auf ein Mädchengymnasium, in den Weihnachtsferien habe sie ein soziales Praktikum in einem Seniorenheim gemacht und in vier Jahren wolle sie das Abitur schaffen. Sie sei zwar keine besonders gute Schülerin und in der sechsten Klasse durchgefallen, doch nun in der zehnten laufe alles besser als zuvor, und sie sei irgendwie motivierter.
Warum? fragte er.
Sein Herz schlug zu schnell, und er überlegte, ob sie zuschlagen würde, wenn er sie plötzlich küßte.
Ich bin mehr für mich, sagte sie, ich laß mich nicht mehr so ablenken, meine Eltern sind stolz auf mich.
Und du? fragte er, überrumpelt von der Idee, sie zu küssen, bist du stolz auf deine Eltern?
Sie sah ihn an, wie erschrocken, wie ertappt. Dann nahm sie einen langen Schluck aus der Flasche, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und trat einen Schritt auf ihn zu.
Er roch ihren Atem, Alkohol und Nikotin.
Und sie sagte: Ich will Spazierengehen.
Er folgte ihr den Hügel hinunter. Sie hatte keinem ihrer Freunde Bescheid gesagt, sie war losgegangen, ohne sich umzudrehen. Er hatte bemerkt, wie einige der Jugendlichen die Köpfe drehten und tuschelten.
Im Park gingen sie quer über die Wiesen. An der Treppe zum südlichen Teil, wo die Karl-Theodor-Straße entlangführte, blieb Linda stehen, küßte ihn auf den Mund und drückte sich an ihn. Und er krallte die Hände in ihren Hintern. Und das Leder des Mantels fühlte sich hart und provozierend an.
So tief er konnte, stieß er mit der Zunge in ihren Mund. Sie ließ es geschehen.
Dann stemmte sie beide Hände gegen seine Brust, beugte sich nach hinten und sah ihn mit verschlossener Miene lange an.
Beim Weggehen drehte sie sich noch einmal zu ihm um. Vielleicht sehen wir uns mal wieder, Arthur, sagte sie.
Und er: Bestimmt, Linda.