25. KAPITEL
Andrea legte betroffen den Hörer auf.
„Was bedrückt die schönste Frau der Stadt?“, fragte Oleg. Sie setzte sich zu ihm auf die Couch und kuschelte sich an ihn. Nachdenklich erzählte sie, dass Clemens sie soeben gebeten hatte, mit ihm morgen früh zu einer abgelegenen und leer stehenden Fabrik irgendwo im Umland zu fahren, wo er angeblich Stolls Glasplatten hatte hinbringen lassen.
„Was meinst du, was er dort von mir will?“, fragte sie.
„Ich habe nicht die geringste Ahnung. Soll ich dich begleiten?“
„Er bestand darauf, dass wir allein bleiben. Auch Alisha wird nicht mitkommen.“
„Passt nur auf, dass die Presse keinen Wind von eurer Verabredung bekommt. Die sind seit der Annahme der Schenkung sowieso auf Habachtstellung.“
„Ich habe ein bisschen Bammel“, sagte Andrea nach einer Weile.
„Vor dem Treffen?“
„Nein, vor dem ersten Besuch deiner Kinder morgen. Werden sie mich mögen?“
Oleg strich ihr sanft über die Locken. „Nein.“
„Nein?“ Sie setzte sich erschrocken aufrecht und sah in sein lachendes Gesicht.
„Sie werden dich nicht mögen. Sie werden dich lieben.“
Sie knuffte ihn erleichtert in die Seite. „Sie haben sich lange geweigert, mich kennenzulernen“, zweifelte sie und dachte an die vielen einsamen Abende im vergangenen Jahr, an denen Oleg in Kleinmachnow übernachtete, um für seine Kinder da zu sein. Für sie hatte die Trennung der Eltern gerade erst begonnen. „Im Nachhinein hat es sich wohl als Fehler herausgestellt, dass meine Exfrau und ich den Kindern noch die heile Welt vorgespielt haben“, hatte Oleg kürzlich frustriert zugegeben. Das gemeinsame Leben mit ihr konnte ihm gar nicht schnell genug gehen, und der erfolgsverwöhnte Mann, der sie gerade wieder zu sich herunter zog, hatte schwer daran zu knabbern, geduldig zu warten, bis die ersten Irritationen der Kinder vorüber waren. Wenigstens unterstützte die Kindesmutter Oleg nach Kräften und versicherte ihren Söhnen immer wieder, dass der Papa keineswegs der Böse war, der Frau und Kinder einfach so verließ, sondern aus Liebe und Fürsorge für sie jahrelang eben gerade nicht ausgezogen war. Andreas Gedanken schweiften zu ihrem eigenen Vater. Obwohl Oleg und auch ihre Mutter sie immer wieder drängten, hatte es bis heute keine wirkliche Aussprache zwischen ihnen gegeben. Pünktlich stand Andrea zur verabredeten Zeit vor der neuen Wohnung von Alisha und Clemens. Sie fuhren mit seinem Auto. Er war wortkarg, und so sprachen sie nur das Notwendigste. Beide achteten auf die hinter ihnen fahrenden Fahrzeuge. Die Presseleute waren noch immer wie die Geier an Clemens’ Geschichte dran. Doch je weiter sie fuhren, umso sicherer wurden sie, dass keiner ihnen folgte.
„Wie hast du es geschafft, dass niemand etwas von der Übergabe mitbekommen hat?“, fragte sie.
„Ich hatte einen geschlossenen Lkw gemietet, und ich selbst war nicht anwesend. Ein Freund von Alisha hat das für mich erledigt. Ich habe die Platten bisher auch noch nicht gesehen.“
„Kann man ihm trauen?“
Clemens nickte, und sie musste schlucken. Würde sie selbst die Abbilder der Horrorgeschichten aus der Gruft noch einmal ansehen können? Was hatte Clemens vor? Warum sollte sie dabei sein?
„Ich will nicht allein dort sein“, beantwortete er ihre lautlose Frage.
Eine Stunde später fuhren sie auf das verlassene Fabrikgelände. Clemens zog aus seiner Jackentasche einen Schlüssel und öffnete damit das Vorhängeschloss vor einem schweren Eisentor. Er fand einen Lichtschalter, und knackend starteten die letzten funktionierenden Leuchtstoffröhren an der hohen Decke. Ihre Schritte hallten in dem leeren Lagerraum oder was immer das einmal gewesen war. Der einzige Inhalt waren jetzt die Glasplatten, die in mehreren Gruppen von drei bis vier hintereinander an die Wand gelehnt standen. Jeweils voneinander getrennt durch dicke Pappen. Die vorderen Bilder waren sichtbar. Andrea war froh, dass die meisten der Leuchtstoffröhren bereits ihren Geist aufgegeben hatten und nur ein diffuses Dämmerlicht herrschte, das die Farben der Gemälde blass und die Gesichter wenig ausdrucksstark erscheinen ließ.
„Und jetzt?“
„Ich werde sie zerstören“, sagte Clemens leise. „Ich habe auch meine eigenen hierher bringen lassen.“
Andrea erschrak. Hatte Clemens recht? Musste er auch seine Glasbilder vernichten, wie er es vorhatte? Trotz aller Tragik, die mit ihnen verbunden war, waren es Kunstwerke. Sie hatte schon so viele Machwerke von Möchtegernmalern gesehen. Und das, was Clemens auf die Platten gemalt hatte, war in jedem Fall wert, ausgestellt zu werden. Gerade als Galeristin widerstrebte es ihr, diese Bilder zu vernichten. Und wenn er seine damals gescheiterte Ausstellung in ihrer Galerie endlich nachholen würde, dann wäre es wirtschaftlich einfach dumm, den Hype um die Mörderbilder nicht auszunutzen. Dass die Originale aus der Gruft niemals wirklich in ihrer Galerie stehen würden, war so klar wie kaum etwas anderes.
„Clemens.“
„Ich weiß doch selbst nicht, was richtig ist.“ Er lehnte sich an eine der Eisenstützen und betrachtete starr die Reihe der sichtbaren Glasplatten. Andrea tat es ihm nach, und das erste Mal sah sie die Werke der beiden Maler nebeneinander. Trotz der schwachen Beleuchtung konnte man die Unterschiede sehen. Clemens’ Bilder waren in Technik und Ausdruck bei Weitem besser.
„Warum lässt du dieses Talent nicht bei deinen anderen Bildern heraus?“, fragte sie. „Haben diese Glasbilder deine ganze emotionale Bindung verbraucht? Konntest du dich deshalb bei den anderen nicht so fallen lassen?“
„Was meinst du?“ In seiner Stimme lag eine Mischung aus Ungläubigkeit, Misstrauen und Neugier.
„Deine sind um Längen besser.“
„Quatsch. Sie sind schlechter.“
„Nein. Und das weißt du auch.“
Er schüttelte den Kopf und schwieg.
„Ist es, weil du auf keinen Fall besser sein willst als ein Mörder?“
„Er hatte ein reales Vorbild. Du nur deine Fantasie und ein Model. Und du malst trotzdem so viel glaubwürdiger als er. Verschenk das nicht.“
„Mein Ruhm würde sich nur auf seinen schrecklichen Taten begründen, nicht auf meinem Talent.“
„Jetzt. Aber es wird ein Leben nach den Glasbildern geben. Und wenn du mit deinen anderen Bildern dann nicht überzeugen kannst, bleibt es ein kurzer Ruhm. Wenn aber doch, kannst du endlich von deiner Malerei leben.“
„Andrea, ganz ehrlich. Meinst du, ich könnte gut werden?“
„Du bist längst gut. Aber du könntest sehr gut werden.“
„Wie?“
„Indem du endlich die Vergangenheit loslässt und die Kraft und Intensität in etwas Neues einbringst. Lass auch die bisherigen Motive sein. Wage einen völligen Neuanfang. Keine Ahnung, womit. Probier es halt aus.“
„Ich habe bald eine Familie. Ich muss Geld verdienen. Ausprobieren kostet viel Zeit, die ich nicht habe, weil ich mir einen Job suchen werde.“
„Was sagt Alisha dazu?“
„Ich solle herausfinden, was das Richtige für mich ist.“
„Wie willst du das, wenn du nicht mehr malst?“
„Worauf willst du hinaus, Andrea?“
„Lass uns Stolls Bilder zerstören, und mit deinen machen wir die Ausstellung, wie wir sie im letzten Jahr vorhatten. Wir kündigen an, dass du die Ausstellung, die der Mörder verhindert hat, nachholst, weil du damit auch zeigen möchtest, dass Stoll die Macht über dich und die Opfer verloren hat, dass dies aber eine einmalige Ausstellung sein wird, weil du angesichts der furchtbaren Ereignisse mit den Glasbildern abgeschlossen hast und dich nur mehr deinen anderen Werken widmen möchtest. Gleichzeitig beziehen wir das Andenken und die Ehrung der Getöteten mit ein. Ich weiß noch nicht, wie. Schweigeminute, Gedenktafel mit den Namen der Opfer … Keine Ahnung! Muss ich mir noch überlegen.“
„Müssen wir noch überlegen“, berichtigte sie Clemens.
„Ja, entschuldige. Es ist natürlich deine Entscheidung. Wenn du sie jetzt endgültig zerstören willst …“
„Du hast mich nicht richtig verstanden. Ich meinte, wir müssen überlegen, wie wir den Opfern und ihren Angehörigen einigermaßen gerecht werden können, damit das Ganze nicht ein Schlag ins Gesicht für sie wird.“
„Du meinst …?“, fragte Andrea.
„Dass ich einverstanden bin? Ja. Unter einer Bedingung. Es wird gegenüber der Presse unzweifelhaft und ausdrücklich mitgeteilt, dass die Ausstellung ausschließlich aus meinen Werken bestehen wird.“
„Das ist selbstverständlich“, beeilte sich Andrea zu bestätigen. Nach einer Weile des Schweigens regte sich ihr schlechtes Gewissen. War sich Clemens darüber im Klaren, dass diese Aussage wenig Wirkung zeigen würde? „Sie werden es dir nicht glauben und dich mit Fragen löchern, wo seine Platten sind.“
„Andrea. So naiv bin ich nun auch wieder nicht.“ Er grinste sie an. „Deshalb wird es zu der Frage, wo Stolls Bilder sind, nur eines geben: kein Kommentar.“
„Jetzt überraschst du mich“, gab sie zu. „Wir können ja auch zugeben, dass du sie zerstört hast. Wir sollten Fotos machen.“
Wieder lächelte Clemens. „Ja. Aber erst nach der Ausstellung.“
Andrea konnte nicht anders. Sie umarmte Clemens und freute sich. Trotz der unterschwelligen Ahnung, dass es mit Sicherheit Pressestimmen und vor allem Kollegen aus der Branche und andere Künstler geben würde, die sich über diese pietätlose, gewissenlose, geldgierige Galeristin das Maul zerrissen. Ja, Clemens und sie würden Kapital aus der Sache schlagen. Aber die Ausstellung wäre nur eine winzige Entschädigung für das, was Clemens und ihre Mutter hatten durchmachen müssen.
Clemens verließ die Halle und kam mit je einem Hammer in den Händen zurück. „Hilfst du mir?“
Sie zögerte. „Haben wir eigentlich das Recht dazu – gegenüber den Angehörigen? Es ist das Letzte, das es von ihren Lieben gibt.“
„Würdest du deinen Angehörigen ausgestopft in den Wohnzimmersessel setzen?“
„Hast recht. Los, gib mir den Hammer.“
Sie räumten Clemens’ Glasbilder auf die andere Seite der Halle, was dazu führte, dass sie sich anschließend völlig fertig und atemlos auf den Fußboden setzten, ungeachtet der zentimeterhohen Staubschicht, die sich dort im Laufe der Zeit angesammelt hatte. Clemens holte aus dem Auto eine Wasserflasche. Dankbar nahm sie Andrea entgegen und trank gierig. Nachdem sie so einige Minuten schweigend auf dem Boden gesessen hatten, rappelten sie sich auf. Clemens schlug als Erster auf eine der vorderen Platten ein. Beim ersten Schlag brach die Platte zu großen Stücken auf den Boden. Er hockte sich hin und schlug so lange darauf ein, bis nur noch kleine Glasscherben übrig blieben. Andrea sah tatenlos zu, mit dem schweren Hammer in der Hand, die kraftlos nach unten baumelte. Clemens stellte sich schwer atmend neben sie. „Ich kann das nicht. Es ist, als ob ich diese Menschen jetzt noch einmal töte. Ich schlage ihnen mit dem Hammer auf den Kopf und lösche sie endgültig aus.“
„Wir dürfen uns nicht von den irrsinnigen Ideen Stolls anstecken lassen. Sie sind nicht im Glas festgehalten. Es sind keine Teile von ihnen. Es ist Glas. Nichts als bunt bemaltes Glas und hat nichts, überhaupt nichts mit den armen Menschen zu tun. Nur mit dem kranken Geist dieses Monsters.“
Clemens sah sie an. Tränen hatten sich in seinen Augen gesammelt. Er wirkte, als ob er im nächsten Moment direkt neben ihr zusammenbrechen würde.
Andrea hob ihre Hand, die den Hammer hielt. „Wir machen das jetzt anders.“ Sie trat neben den Glashaufen, der von Clemens’ zerstörter Platte übrig geblieben war. Die nächste in der Reihe bedeckte die Pappe, die die Platten während des Transportes geschützt hatten. Sie schlug zu. Die Pappe blieb stehen, obwohl das Glas hinter ihr in großen Teilen zu Boden fiel. Sie schlug noch mehrere Male auf die Pappe, immer tiefer, bis links und rechts nur noch kleinere Glasteile zur Seite fielen, auf denen keine Gesichter mehr auszumachen waren. Clemens hatte nur zugesehen und machte es ihr jetzt mit der nächsten Platte nach. Andrea nahm die ungenutzten Pappen und bedeckte damit die jeweils vorderen Glasplatten der weiteren Stapel.
So zerschlugen sie Platte für Platte, bis sich vor jedem der Stapel ein großer Haufen bunter Glasscherben gebildet hatte. Keiner von ihnen sagte ein Wort. Clemens liefen die Tränen das Gesicht herunter, und seine Schläge wurden immer heftiger und die Abstände zwischen ihnen kürzer. Auch Andrea musste mehrmals schlucken. Irgendwann hatten Clemens oder sie auch das Abbild ihrer eigenen Mutter zerstört. Sie war froh, dass sie nicht wusste, welche ihrer Schläge das getan hatten.
Sie waren fertig und standen erschöpft vor acht Scherbenhaufen. „Was machen wir jetzt mit denen?“, fragte Andrea.
„Heute nichts mehr. Die Hauptsache ist, dass es die Bilder nicht mehr gibt. Das hier sind jetzt wirklich nur noch Scherben, nichts weiter. Ich werde sie entsorgen lassen.“ Er drehte sich zu ihr. „Danke. Ohne dich hätte ich hier nur gestanden und geheult. Und weder ein Bild zerstört noch eine Entscheidung getroffen. Ich bin froh, dass wir das gemacht haben.“
„Ich auch“, gab sie zu.
Sie verließen die Halle, und Andrea wunderte sich, dass die Sonne schien. Sie hatte in der düsteren Atmosphäre da drinnen alles um sich herum vergessen. Oleg fiel ihr ein. Und seine Kinder. Sie konnte es kaum erwarten, nach Hause zu fahren. Als sie zum Auto gingen, fasste sie Clemens’ Hand und lächelte ihn aufmunternd an. Heute war ein in jeder Hinsicht bedeutsamer Tag. Für sie. Und erst recht für ihn.
– ENDE –