13. KAPITEL
Sie hatten ein wunderbares Mittagessen auf der Terrasse mit Ausblick auf die Start- und Landebahn des kleinen Flughafens genossen. Und es tat Maximilian weh, jetzt womöglich die harmonische Stimmung des Urlaubstages zu zerstören. Aber der Wunsch, endlich auf den Hof zu fahren, ließ sich nicht mehr verdrängen.
Alisha zögerte mit einer Antwort; sie war gerade damit beschäftigt, wie weit sie mit ihren ausgebreiteten Armen um die alte Retzower Eiche neben dem Weiher greifen konnte. Sie schaffte nicht einmal die Hälfte des Stammumfanges.
„Mir ist nach einer warmen Schokolade mit ganz viel Sahne drauf. Wer weiß, wie lange ich mir das noch leisten kann?“ Sie schlug sich grinsend auf den Bauch.
„Dann müssen wir woandershin fahren. Hier gibt es weit und breit kein Café“, sagte er lachend. Dann fuhr er fort: „Würdest du …? Also nur, wenn es dir wirklich nichts ausmacht … Ich würde gerne noch etwas …“
Sie wurde ernst. „Warum sagst du nicht einfach, was du willst?“
„Ich würde gerne zu meinem früheren Elternhaus fahren.“
„Ist doch kein Problem. Vor oder nach der Schokolade?“
Einen Moment starrte sie ihn an. Dann kam sie auf ihn zu, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Nasenspitze. „Maxi. Es ist dein Urlaub. Es ist dein Zuhause gewesen. Und es ist deine Entscheidung, wenn du dort lieber allein hingehen willst. Ich bin keine Tussi, die immer im Mittelpunkt stehen muss. Obwohl es schön ist, bei dir im Mittelpunkt zu stehen.“
Wenn ihr Gesicht ernst war, hatte es etwas Aristokratisches an sich. Wenn sie lächelte, konnte man dagegen meinen, ein kleines Mädchen vor sich zu haben. Jetzt war sie wieder dieses kleine Mädchen, das sich auf seine heiße Schokolade freute. Sein Wunsch, zum ehemaligen Bauernhof seiner Eltern allein zu fahren, schmolz unter ihrer grundehrlichen Wärme dahin. Er nahm sie an die Hand, und gemeinsam schlenderten sie in Richtung ihres geparkten Autos.
„Clemens? Clemens Borchert?“, ertönte es hinter ihnen. Maximilian drehte sich um. „Herr Pfarrer Ließen. Guten Tag.“
„Clemens, wie schön, dich wieder einmal hier in Retzow zu sehen! Wie geht es dir in unserer Hauptstadt?“
Es hätte Maximilian nicht gewundert, wenn er „der Deutschen Demokratischen Republik“ angefügt hätte.
„Ich komme zurecht.“
„Hast du dein Studium beendet? Bist du schon Lehrer? Wir brauchen gerade eine Lehrkraft an der Schule. Welche Fächer hattest du noch mal belegt? Ich könnte sehen, ob ich für dich etwas tun kann.“
„Ich glaube nicht, Herr Pfarrer, dass Sie das könnten. Es sei denn, Ihre Kirche braucht mal wieder neue Fenster. Ich habe Kunstgeschichte studiert.“
Der hagere Geistliche, der inzwischen die siebzig überschritten haben musste, starrte ihn irritiert an.
„Ich dachte … Deine Eltern hatten mir erzählt …“
„Das ist lange her.“
„Ja, das stimmt, mein Junge. Die Zeit vergeht. Aus Kindern werden Leute. Bleibst du länger?“
Maximilian schüttelte den Kopf. Dann deutete er auf Alisha. „Entschuldigen Sie, Herr Pfarrer, meine Freundin und ich haben noch einen Termin.“ Noch einmal nickte er dem Pfarrer zu und zog Alisha sanft mit dem Arm mit sich in Richtung Auto.
„Einen Termin mit einer heißen Schokolade“, kicherte Alisha leise, als sie außer Hörweite waren. „Du hast es nicht so mit Kirche und Pastoren, oder?“, fragte sie.
„Du etwa?“
„Manchmal. Dann geh ich in irgendeine Kirche und setz mich in eine der leeren Bankreihen.“
„Nein, aber ich stell mir vor, dass es am ehesten dort irgendeine Verbindung gibt. Zum Universum, zum Ursprung. Keine Ahnung, irgendeinen Hinweis jedenfalls. Auf einen Sinn, der mehr ist, als was wir im Allgemeinen in unserem Leben so tun. Kannst du gar nicht verstehen, oder?“
„Doch, schon. Aber ich bin ein gebranntes Kind. Mein Großvater war ein bigotter Mensch. Narzisstisch, rücksichtslos und scheinheilig.“
„Das sind ja nette Eigenschaften.“ Alisha lachte und fügte hinzu: „Dabei hatten die in der DDR das doch nicht so mit der Kirche. Meine Eltern jedenfalls überhaupt nicht.“
„Retzow ist ein Dorf. Da redet die Kirche immer irgendwie mit, und wenn es in den Köpfen der Leute ist.“
„Und deine Eltern?“
„Die waren ganz anders.“
„Und du hast sie sehr geliebt, das spüre ich.“
Hatte er das? Es musste wohl so gewesen sein, sonst wäre er nicht so enttäuscht von ihnen gewesen. Alisha umfasste seine Taille und schmiegte sich beim Gehen an ihn. Sie kamen beinahe ins Stolpern, bis sie einen gemeinsamen Rhythmus ihrer Schritte fanden. Der Gleichklang ihrer Bewegungen tat ihm gut.
„Dafür habe ich meinen Großvater gehasst. Meine Oma hat so oft seinetwegen geweint. Ich war noch viel zu jung, um zu verstehen, warum sie weinte. Aber als ich älter war, habe ich seine Doppelmoral durchschaut. Sonntagmorgens in der Kirche den vorbildlichen Familienvater mimen und nachts nicht nach Hause kommen, sondern sich mit jeder Frau vergnügen, die nicht schnell genug das Weite suchte. Es muss so demütigend für meine Oma gewesen sein. Alle im Dorf wussten es. Als ich zwölf wurde, entschloss ich mich, nie wieder in die Kirche zu gehen.“
„Warum war der Pfarrer dann so freundlich zu dir, wenn du nie da warst?“
„Mein Großvater hat die neuen Kirchenfenster gemacht. Umsonst. Er hat in seiner Freizeit gemalt. Meine Mutter sagte immer, dass ich mein Talent von ihm habe, weil sie und mein Vater keine vernünftige Linie zeichnen könnten. Ich wollte das nicht hören. Ich wollte gar nichts von meinem Großvater haben, nicht einmal ein Talent.“
„Sei doch froh, dass du von diesem Stinkstiefel das einzig Positive geerbt hast. So musst du das sehen, Clemens Borchert.“ Dabei betonte sie seinen Namen bedeutungsvoll. Er hatte ihr längst erzählt, dass Maximilian Ross nur sein Künstlername war. Was hätte es für einen Sinn gemacht, Alisha einerseits in die Reise in seine Kindheit mitzunehmen und andererseits nicht mit offenen Karten zu spielen? Da war es wieder: das schlechte Gewissen ihr gegenüber. Denn genau das tat er nicht: Er spielte nicht mit offenen Karten. Aber er konnte Alisha nicht sagen, was der wirkliche Grund für seine Reise war. Eine Reise, die eigentlich eine Suche war, um endlich mit dieser verdammten Glasmalerei aufhören zu können. Eines Tages würde er es ihr erzählen. Wenn es einen Menschen gab, dem er vertraute, dann war es die magere Frau neben ihm, die einerseits vor Lebensfreude sprühte und andererseits versuchte, ihre tiefe Verlorenheit zu verstecken. Ja, sie passten gut zusammen. Sie hatten beide einen Teil von sich verloren und hofften, ihn durch den anderen wiederzufinden. Noch hatte er keine Ahnung, was es gewesen war, das Alisha genommen wurde, aber er war sich ganz sicher, dass er es bald erfahren würde. Jedenfalls würde sie die Einzige sein, die verstehen könnte, was er seit dem Tod seiner Eltern getan hatte.
„Zeigst du sie mir?“, riss sie ihn aus den Gedanken.
„Was?“, fragte er verständnislos.
„Die Kirche. Und die Fenster deines Großvaters.“
„Wenn es sein muss.“
„Ja, es muss. Dann fährst du mich nach Nauen, ich geh meine Schokolade trinken, und du fährst zurück und schwelgst in Erinnerungen.“
Es waren nur ein paar Schritte bis zum Zentrum des Ortes, wo sie den spätgotischen Backsteinbau der Retzower Kirche erreichten. Sie stammte aus dem Beginn des sechzehnten Jahrhunderts und bestand aus einem breiten Turm und dem Kirchenschiff. Auf dem Turm war ein weiteres Türmchen aufgesetzt, mit Holz verschalt, aber das wirkte nur im ersten Moment wie ein Stilbruch. Den Abschluss bildete eine kleine Kuppel. Darauf eine Spitze mit einer Kugel und einem Windrichtungspfeil. Lächelnd beobachtete Maximilian, wie Alisha langsam um die Kirche herumschritt, den Kopf weit in den Nacken gelegt, und sich jedes Detail ansah.
„Und diese Fenster sind von deinem Opa? Sie sehen so alt aus.“
„Nicht alle. Guck. Nur die hier.“ Er ging voraus um das Kirchenschiff, das wie ein gleichschenkliges Dreieck endete, und deutete auf die rückseitige Fassade. Alisha betrachtete die Fenster in einem waagerecht dreigeteilten Rahmen, die sich oben bogenförmig der Mauerform anpassten. Die Bleiglasfenster waren unterteilt in viele kleine Rechtecke.
„Sie sind doch gar nicht bemalt.“
„Ja und nein, es ist eine kleine unbedeutende Kirche. Und die Bleiglasfenster gab es gerade erst zu der Zeit, als die Kirche gebaut wurde. Die schönen bunten, die durch ihre Mosaiken Bilder zeigen, konnten sich nur die größeren Kirchen leisten. Aber sieh mal genauer hin. Bei den beiden von meinem Großvater ersetzten Fenstern sind die Bleiruten nur gemalt. Es war nicht genug Geld da. Er hat drei ganz normale Glasplatten in die Rahmen eingefügt, und der Rest ist gemalt.“
„Wow. Ja, jetzt erkenne ich es. Aber auf den ersten Blick …“ Sie lächelte ihm so anerkennend zu, als ob er selbst die Fenster hergestellt hätte. So ganz falsch war ihre Bewunderung nicht. Schließlich hatte er diese Technik bei seiner Glasmalerei perfektioniert. Bei seinen Bildern würde selbst auf diese Entfernung, wie sie beide hier im Kirchengarten standen, niemand erkennen, dass die Bleiruten nur gemalt waren.
„Lass uns gehen. Schließlich wollen wir meinen letzten Urlaubstag noch ausnutzen.“
„Kommt es denn wirklich auf einen Tag an?“, fragte sie enttäuscht, nahm seinen Arm und lehnte sich beim Laufen gegen ihn.
„Ja, leider. Ich habe heute Abend einen Termin, den ich nicht verschieben kann. Aber wenn du magst … Der Sommer ist noch nicht vorbei.“ Er lächelte sie an, obwohl er jetzt schon wusste, dass er das nächste Mal allein hierherfahren musste. Sonst würde er sein Ziel niemals erreichen.
Sie erreichten das Café, und Maximilian versprach, sie in spätestens einer Stunde wieder abzuholen.
„Lass dir Zeit. Ich schmöker ein bisschen in den Zeitschriften.“ Dankbar lächelte er sie an und fuhr zurück nach Retzow. Er versuchte gar nicht, am Tor des Grundstücks zu klingeln, denn er wusste durch den Anruf beim Nachbarn, dass der Hof unbewohnt war. Nur ab und zu hätte der Nachbar jemanden spät abends mit einem Auto kommen, das Tor aufmachen und hineinfahren sehen. Trotzdem sei in den Räumen zur Straße kein Licht angegangen. Aber das hieß nicht viel, denn das Grundstück hatte nur eine kurze Straßenfront, und ein Großteil des Wohngebäudes erstreckte sich wie ein L in Richtung Innenhof. Was er allerdings überhaupt nicht verstand, weshalb der Käufer, dem er 2007 den Bauernhof verkaufte, ihn bis heute nicht bezogen hatte. Wer ließ sieben Jahre lang einen Grundbesitz ungenutzt liegen? Der Nachbar hatte sich ausgiebig über den angeblichen Spekulanten aus Westberlin ausgelassen, der kurze Zeit nach dem Kauf des Grundstücks in die Insolvenz gegangen sei. Und nun sei der Hof für die Gläubigerbank kaum verkäuflich. Noch immer gab es massenhaft Bauernhöfe im Umland für kleines Geld zu kaufen, und nur wenige Interessenten hatten das notwendige Kapital für die Sanierung der maroden Bauwerke. Und diejenigen, die es hatten, die zogen nicht hierher. Maximilian wählte den Weg über die Felder, und wenige Minuten später stand er auf dem Hof.
Als er sich umsah, lebte vor seinem inneren Auge kurz die Vergangenheit wieder auf. Selbst die alte Holzbank stand an unveränderter Stelle. Maximilian setzte sich und ließ sich in die Erinnerungen fallen. Doch der Schmerz, den er vermutet hatte, blieb aus. Nein, es tat nicht weh, hier weggegangen zu sein. Seit der Sache damals hatte er sich hier nie wieder zu Hause gefühlt. Es war nur eine zwingende Folge gewesen, nach dem Tod der Eltern den Hof zu verkaufen. Für seine Mutter und seinen Vater hatte es hier die Sicherheit gegeben, die notwendig war, sich heimisch zu fühlen. Doch für ihn war alle Geborgenheit und Sicherheit in ihren Zweifeln an ihm erstickt.
Heute war er sich sicher, dass seine Enttäuschung über seine Mutter nur deshalb so tief war, weil er ihr einziges Kind gewesen war. „Deine Geburt war ein Gottesgeschenk, ein Lebensglück von unvorstellbarem Wert.“ Wie oft hatte sie diese Worte ausgesprochen. Auch schon, als er noch ein kleiner Junge gewesen war und noch gar nichts von Fehlgeburten verstanden hatte. Später erfuhr er, dass seine Eltern sich insgesamt acht Mal auf ein Baby gefreut hatten, um dann acht Mal alle ihre Hoffnungen zu Grabe zu tragen. Vielleicht hatte das seine Eltern so stark zusammengeschweißt.
Ihm aber machte es ihr Misstrauen noch unverständlicher. Sie hätten ihm besonders beistehen müssen, fühlen müssen, dass er die Wahrheit sprach, egal, was alle Welt für Vermutungen anstellte. Wie oft träumte er als Jugendlicher davon, dass er ihnen eines Tages ihre ganze Schuld würde präsentieren können! Hieb- und stichfest wollte er beweisen, welches Unrecht sie ihm angetan hatten und dass seine Kindheit damit so jäh beendet gewesen war. Und was hatten seine Eltern getan? Sie hatten ihn verlassen, bevor er seine Absichten realisieren konnte. Waren gestorben. Händchen haltend in einen Kurzurlaub aufgebrochen, aus dem sie niemals wiederkamen. Wahrscheinlich waren sie auch Händchen haltend gestorben. Und zwischen ihren Händen war eben kein Platz mehr für ihn gewesen.
Oma zog aus Köln her zu ihm. Doch seine Depressionen waren stärker als die Großmutterliebe. Trotzdem war sie es, die den rettenden Vorschlag machte: „Junge, verkauf den Hof. Er bringt dir nur Unglück. Die ganzen Erinnerungen. Geh. Geh in die Welt. Sie wartet doch auf dich. Du möchtest Kunst studieren? Ja, dann tu es doch. Es ist egal, was deine Eltern wollten. Sie werden dich nicht mehr bewundern können, wenn du eines Tages mit der Lehrertasche unter dem Arm ins Klassenzimmer trittst. Also mach das, was dich glücklich macht, Junge. Studiere Kunst, was du dir immer gewünscht hast. Der liebe Gott hat dir ein Talent geschenkt, das man nicht mit den Füßen treten darf. Komm mit mir nach Köln. Dort ist auch eine Uni, und ich sorge für dich. Und du, du malst dir alle Trauer von der Seele.“
Wenn sie gewusst hätte, dass er sich mehr als Trauer von der Seele malen musste. Er war kurz davor gewesen, ihr zu folgen, und fragte sich, wie seine Großmutter nach all der Last mit ihrem hartherzigen, untreuen Ehemann ein so liebevoller Mensch geblieben war. Gleich nach dem Tod von Großvater war sie zum Entsetzen von Maximilians Eltern beinahe so weit westwärts gezogen, wie es in der Bundesrepublik nur möglich schien. Aber offenbar hatte sie Heilung erfahren, indem sie den Ort ihrer Verletzungen einfach verließ und in der Ferne neu begann. Als sie diese Worte zu ihm sagte, war sie stolze siebenundachtzig Jahre alt und lebte mit einem Witwer gleichen Alters zusammen. Als Maximilian drei Jahre später tatsächlich nach Köln fuhr, war es, um an ihrer Beerdigung teilzunehmen. Warum war es ihm nicht vergönnt? Waren fünfzig Kilometer Entfernung nicht ausreichend, um mit der Vergangenheit abzuschließen? Wahrscheinlich wäre schon die Hälfte ausreichend für jemanden, der nicht so viel Schuld auf sich geladen hatte wie er.