21. KAPITEL

Er stieg die Treppe hinunter und würdigte Giorgia keines Blickes. Unter dem Arm eine Flasche Glasreiniger.

„Jetzt ist es so weit?“ Ihre Stimme klang wie ein Reibeisen. Es war besser, ihr noch ein paar Schlucke Wasser zu geben. Sie wirkte sonst nachher so ausgetrocknet. Gerade die Älteren brauchten ausreichend Flüssigkeit. Als er ihr das Glas an die Lippen führte, roch er den Urin. Es hatte sich eine Pfütze auf dem Sims gebildet. Ihm machte es nichts aus, das Malheur zu säubern und zu trocknen. Das passierte öfter. Nur konnte er keine zusätzliche Feuchtigkeit, eines der Hauptprobleme, die er in der Durchführung hatte, hinter der Platte gebrauchen. Und die Granulatkissen herzustellen hatte er nicht mehr geschafft. Sie würden das nächste Mal zum Einsatz kommen.

„Sie werden mich jetzt wirklich töten?“

Was sollten diese ständigen Fragen? Er mochte das Wort „töten“ nicht. Er erhob sie in die Ewigkeit seiner Werke. Was zählte dagegen ein erbärmliches menschliches Leben? Sprach sie nicht gestern noch davon, dass alle Menschen Werkzeuge Gottes seien? Nun. Sie konnte jetzt sogar sein Werkzeug sein.

„Sieh mich an.“

Wie bitte? Er dachte gar nicht daran, den Blick auf sie zu richten.

„Sieh mich an“, wiederholte Giorgia.

Er sortierte die Farbtuben auf dem kleinen runden Gartentisch und schob den Regiestuhl heran. Dann fiel ihm ein, dass die übliche Phase, in der er wartete, bis das Model erwachte, dieses Mal entfiel. Eine Tatsache, die ihn mehr durcheinanderbrachte, als er vermutet hatte. Der Vorlauf der Ruhe und Konzentration fehlte ihm. Auch das Weinglas und das geschnittene Brot. Er schob den Gedanken daran beiseite und begann die gebrauchten Kerzen auszutauschen.

„Findest du nicht, dass sich gegenüber einer Mutter ein wenig mehr Respekt gehört?“

Ihre Worte bildeten in seinem Kopf eine Endlosschleife. Sieh mich an – Mutter – Respekt – sieh mich an – Mutter – Respekt.

„Schluss jetzt“, brüllte er. „Sie können sich Ihre Küchenpsychologie sparen.“

„Es stimmt aber. Ich bin eine Mutter.“ Ihre Stimme hatte sich gewandelt. Hatte sie noch eben beinahe liebevoll geklungen, war sie jetzt fordernd und hart. Das passte nicht zu ihr. Er hatte noch immer ihr Jammern und leises Weinen im Ohr, wenn sie am späten Abend statt seiner ihrem Vater hilflos ausgeliefert war, während er schon im Bett seines kleinen Kinderzimmers lag. Und ganz besonders weich war ihre Stimme, wenn sie ihn in den Armen wiegte und die roten Striemen auf seiner Haut mit nassen Tüchern kühlte.

Er wuchtete die schwere Glasscheibe von der Wand an der Treppe näher an sie heran. Verdammt, wo waren die Saugnäpfe? Er fand sie unter der Treppe. Säuberte die Platte sorgfältig von beiden Seiten und befestigte die Tragehilfen.

„Mir ist übel. Es ist so lange her, dass ich etwas gegessen habe.“

Gab sie denn niemals Ruhe? Diese ewigen Forderungen. Sein ganzes Leben hatte aus Forderungen bestanden, die er nicht erfüllen konnte. Als er damals die fristlose Kündigung seines Arbeitgebers in den Händen hielt, hatte er sich ein für alle Mal weiteren Forderungen entzogen. „Verlust einer vertrauensvollen Zusammenarbeit und ein teilweise aggressiver Umgang mit den Mandanten“, stand in der Begründung des Steuerberaters. Er nahm das Geld aus Versicherung und Verkauf des Hauses, das bisschen Erbschaft der Mutter, das der Vater widerwillig abgeben musste, und ging fort. Und seither hatte er etwas so Großes geschaffen, das andere in ihrem ganzen Leben nicht zustande brachten.

Er kontrollierte die Gummidichtungen, die rund um den Mauerschrein bereits angebracht waren, hob die Platte hoch und drückte sie gegen die Öffnung. Schnell schob er die Halteriegel vor. Schwer atmend trat er ein paar Schritte zurück. Jetzt endlich konnte er sie ansehen. Lange und intensiv. Ihre Augen sahen ihn ungläubig an, so als hätte sie nicht geglaubt, dass er es zustande brachte. Dann füllten sie sich mit Tränen. Sie atmete durch den geöffneten Mund. Das taten sie alle. Um zu kontrollieren, ob genug Luft da war. Natürlich war genug da. Es würde noch lange dauern, bis der Sauerstoff zu Ende ging. Doch je mehr sie sich dagegen wehrten, umso schneller verbrauchten sie die Luft, statt einfach ruhig zu bleiben. Dumm waren sie, sie wussten doch, dass sie sowieso sterben mussten. Aber für ihn war ihre Dummheit gut. Nur ihre Panik erlaubte es ihm, in sie hineinzusehen. Und sie sahen ihn. Durch die Glasplatte, die sie nicht wegdrücken konnten. Sie verstanden, dass er es war, der ihren Tod bestimmte. Nicht ein blöder Zufall, nicht irgendein Unfall, sondern, weil er es so wollte. Der Blick durch das Glas nahm jede Verwirrung der Minuten zuvor von ihm. Er fühlte, wie Kraft und Konzentration zurückkehrten und endlich, endlich auch wieder die erregende Vorfreude. Er hatte die Krise überwunden, in die sie ihn durch die Gespräche gestürzt hatte. Jetzt, im Eis, war sie Mutter. Sie musste nicht mehr darum betteln.

Sie hatte Augen und Mund inzwischen geschlossen und schien ruhig und flach zu atmen. Wahrscheinlich betete sie gerade. Ihre Atemfrequenz würde nachher, ohne dass sie es wollte, zunehmen. Danach kam eine Steigerung der muskulären und psychischen Erregbarkeit, manchmal bis hin zu einem euphorischen Zustand, bevor dann der Blutdruck anstieg, das Herz schneller schlug und danach die Bewusstseinstrübung eintrat. Er musste vor diesem Zeitpunkt der Euphorie die Skizze fertig haben. Bis dahin war genug Zeit, sich sein Weinglas und das Brot zu holen. Normalerweise ein früheres Ritual zur Überbrückung der Wartezeit, bis sie wach wurden. Nun würde er es zelebrieren, bis hinter dem Glas der Moment der Erkenntnis gekommen war und er zum Stift greifen konnte. Rituale führten zur Perfektion. Obwohl er auch immer wieder hatte erleben müssen, dass Rituale ihren Wert verloren. Dann hatte er sich neu orientiert. Es noch besser gemacht.

Er hockte sich mit dem Rücken zu Giorgia und betrachtete nacheinander seine Bilder an der gegenüberliegenden Wand. Schon zwei Mal hatte er gedacht, er könne aufhören. Es war das dritte Jahr, 1989. Wie in den beiden Jahren zuvor hatte er den Jahrestag einhalten wollen. Ausgerechnet bei dem ersten Jungen fuhr ein Auto überraschend aus einem Feldweg heraus, an dem er bereits das betäubte Kind ins Auto getragen hatte. Er konnte in das Gesicht des Fahrers sehen, und der sah ihn an, direkt in die Augen. Er überlegte lange und trug dann den Jungen an den Wegesrand, deponierte das bereits versteckte Fahrrad direkt neben ihn und ließ ihn unverrichteter Dinge dort zurück. Er hoffte, es sei ein Wink des Schicksals, aufzuhören.

Bis Mai hielt er es aus, dann holte er das verpatzte Mal nach. Er konnte doch nicht mittendrin das Werk unterbrechen. Aber das Bild wurde nicht gut, und der Junge war es nicht wert, auf dem Fußboden zu liegen. Er musste weitersuchen. Doch auch den zweiten Jungen hängte er frustriert über sich selbst an die Wand. Viel zu früh war das Kind erwacht, und es war ihm nicht gelungen, ein würdiges Bild für den auserwählten Platz am Boden zu malen. Eine sofortige Wiederholung des Jungenbildes kam nicht infrage. Noch nie hatte er die Reihenfolge verlassen: Beate, Mutter, Marc. So nutzte er die nächsten zwei Jahre, wurde immer perfekter, seine Bilder immer besser. Alle seine Hoffnungen lagen auf dem Jahr 1995, auf dem zehnten Jahrestag. Und das fing gut an, denn Anfang Januar sah er es: das perfekte Ebenbild Marcs. Ein Junge von ungefähr acht Jahren. Er hatte richtig gehandelt, die beiden anderen Jungen nicht in den Boden zu lassen. Doch dann schlug ihm der 22. Januar ein zweites Mal in seinem Leben mit aller Brutalität ins Gesicht. Mit einer geballten Faust. Ohne Achtung vor der Umgebung, vor ihm, dem Meister, lief der Junge davon. War er zu aufgeregt gewesen? Allein der Gedanke an sein Versagen trieb ihm den Schweiß aus allen Poren. Sein Herz hämmerte, als wollte es den angestammten Brustkorb verlassen, um sich in einem seiner Bilder einen neuen würdigen Geist zu suchen. Er hatte nur eine Antwort auf diese Schande gefunden: das zehnte Jahr zu nutzen, um einen kompletten Zyklus zu malen und damit auch endlich sein Werk zu beenden.

Danach fühlte er sich ausgelaugt und am Ende seiner Kräfte. Er ignorierte den nächsten Winter, fuhr in den Urlaub. Das erste Mal seit vierzehn Jahren. Allein wanderte er durch die Berge Tirols. Hier gab es keine Erinnerungen. Alles sah so anders aus, und mit jedem Tag, den er wanderte, schöpfte er neuen Mut. Er würde mit der Vergangenheit abschließen. Vielleicht gab es irgendwo da draußen eine neue Liebe für ihn? Sechs lange Jahre wartete er darauf, traf die eine oder andere Frau, mit der er es versuchte und zu ihr zog. Sogar eine Aushilfsanstellung in seinem gelernten Beruf als Steuerfachgehilfe fand er, aber die dauerte nicht lange, wie auch die Beziehungen nicht hielten. Jedes Mal war er es, der sie beendete. Zuerst waren sie verliebt und bemüht, umgarnten ihn, bewunderten ihn. Doch mit der Zeit wollten sie das Ruder in die Hand nehmen, und Stück für Stück wurden sie Beate ähnlicher. Fingen an zu meckern – und sogar, sich über ihn lustig zu machen. Verhöhnten ihn als Faulpelz, weil er keine Arbeit hatte. Nach fünf Jahren Auf und Ab zog er endgültig zurück nach Paulinenaue, wo er an einem heißen Sommertag im See badete. Eine Gruppe neun- bis höchstens zehnjähriger Jungen tobte im Wasser. Wieder und wieder stießen sie einen der Jungen unter Wasser. Als er anfing, bitterlich zu weinen, packten die anderen lachend ihre Sachen zusammen und fuhren mit ihren Fahrrädern davon. Zurück blieb ein einzelner trauriger Junge. Er konnte einfach nicht anders. Er musste sich seiner annehmen.

Lange ließ er die Blicke auf dem Bild dieses Kindes ruhen, mit dem im Sommer 2000 alles wieder von vorn begonnen hatte. Und das erste Mal spürte er fast körperlich die Härte des Glases, die verhinderte, ihn in den Arm zu nehmen. Hastig stand er auf und verließ das Gewölbe.

Überrascht stellte er fest, dass auf dem Hof noch immer hell die Sonne schien. Auch das war eine neue Erfahrung. Er trank auch niemals Wein am Tage. Sollte er lieber auf das Ritual verzichten? Dieses Mal waren so viele Dinge anders gelaufen. Sonst war es Nacht, während er arbeitete. Dunkelheit vermittelte ein Gefühl von Geborgenheit. Vielleicht war der Moment, auf den er die ganzen Jahre hingearbeitet hatte, ganz nah. Der Moment der Perfektion, der strahlendes Licht erforderte, damit alle Welt es sehen konnte.