22. KAPITEL
Olegs Handy klingelte. „Okay, welche Sektion?“, fragte er den Anrufer, griff nach dem Plan in Andreas Hand und beendete die Verbindung.
„Maximilian Ross hat etwas erkannt. Hier.“ Er tippte auf eine Straße.
Ihr Puls zog an. Ihr Gehirn war leer bis auf einen Gedanken. Bitte lieber Gott, lass es nicht zu spät sein.
„Wir sind ganz in der Nähe. Dahinten musst du rechts abbiegen in Richtung Paulinenaue“, sagte sie atemlos.
Nur fünf Minuten später fuhren sie eine Landstraße entlang, die aus dem Ort Paulinenaue gleich wieder hinausführte. Sie sahen Matussek am Straßenrand stehen, neben ihm Maximilian. Oleg hatte das Auto noch nicht vollständig zum Stillstand gebracht, als Andrea bereits heraussprang und zu Maximilian rannte. Sie sah sich um, aber kein Bauernhof, nicht einmal ein Haus befand sich in unmittelbarer Nähe. „Bist du sicher?“ Vor ihnen machte die Straße eine sanfte Kurve, und erst dahinter waren am rechten Straßenrand Gebäude zu sehen. Jetzt verstand sie. Sie sollten hier anhalten, um noch außer Sichtweite vom Haus zu bleiben.
„Ich spüre, dass es der richtige ist. Aber wie soll ich mir nach so langer Zeit sicher sein?“
„Worauf warten wir?“ Ihr Magen flatterte, und ihre Muskeln waren angespannt wie vor einem Sprung vom Zehnmeterbrett.
„Auf meine Männer“, antwortete Matussek.
„Muss das sein? Können wir nicht wenigstens mal klingeln?“, fragte Andrea ungeduldig.
Er war dabei, telefonische Anweisungen zu geben, und deutete ihr nur mit einer harten Armbewegung an, dass sie stehen bleiben und schweigen sollte. Es fiel ihr schwer, aber die Angst, im letzten Moment womöglich etwas zu verderben, siegte.
Endlich war er fertig mit Telefonieren.
„Frau Wahrig, Sie setzen sich jetzt mit Herrn Wesselov wieder in Ihr Auto, und dort bleiben Sie. Und Ihre Männer, Herr Wesselov, ebenfalls. Kann ich mich darauf verlassen, dass hier keiner dazwischenfunkt?“
Er hatte schon wieder das Handy am Ohr, und die ersten Fahrzeuge trafen ein, hielten kurz und fuhren dann die Straße weiter, an dem Hof vorbei, bis Andrea sie nicht mehr sehen konnte.
„Komm, lass uns machen, was Matussek sagt. Er wird wissen, was er tun muss, um deine Mutter nicht zu gefährden.“
„Ich sehe, Sie verstehen die Polizeiarbeit“, sagte Matussek und grinste ihn an.
Weshalb dauerte das so lange? Alle Beamten waren inzwischen eingetroffen und wieder verschwunden. Maximilian hatten sie mitgenommen. Oleg stand draußen am Straßenrand und unterhielt sich mit seinen Männern. Matussek stieg mit zwei weiteren Beamten in seinen Wagen, der sich endlich in Bewegung setzte. Vor dem Hof hielt er, und nur Matussek stieg aus und ging auf das Gebäude zu. Bäume und Sträucher ließen eine weitere Beobachtung nicht zu. Sie hielt den Atem an. Nichts passierte. Dann ging Matussek wieder ein paar Schritte auf den Wagen zu, und die beiden Kollegen stiegen ebenfalls aus. Danach waren alle drei Männer verschwunden.
Sie konnte doch nicht untätig hier sitzen, während ganz in der Nähe ihre Mutter auf Rettung hoffte. War sie noch in der Lage zu hoffen oder längst … Andrea griff sich an den Brustkorb, der mit einem Mal zu klein schien, um ihre Angst und Unruhe auch nur einen Moment länger zu beherbergen. Sie rutschte vom Beifahrersitz hinter das Steuer und startete den Wagen. „Andrea!“, rief Oleg mit entsetzter Stimme und war schon neben dem Wagen.
„Steig ein oder lass es.“
„Ich versteh dich ja, aber …“ Er saß bereits neben ihr.
„Du willst doch nicht jetzt noch etwas kaputt machen“, beendete er das aber.
„Ich fahre einfach nur mit normaler Geschwindigkeit am Haus vorbei. Was sollte ich da bitte kaputt machen?“
Nichts war zu erkennen. Kein Matussek, keiner seiner Kollegen, ein geschlossenes Tor. Nur der parkende Wagen bewies, dass sie da sein mussten. Sie fuhr weiter, bis sie am Straßenrand hielt, sicher, weit genug entfernt zu sein, um nichts „kaputt zu machen“, wie Oleg es nannte. Himmel, erwartete er allen Ernstes, dass sie seelenruhig im Auto sitzen bleiben konnte? Sie stieg aus.
„Was machst du denn jetzt schon wieder? Liebes. Andrea. Lass uns den Moment noch warten.“
Doch sie hörte ihm nicht mehr zu, denn weit hinten sah sie Maximilian über das Feld auf sich zukommen und rannte ihm entgegen. Mehrfach knickte sie auf dem holprigen abgemähten Acker um, bis sie den Maler erreicht hatte und ihn an beiden Armen griff. „Und?“, fragte sie atemlos.
„Ich habe nicht geglaubt, dass die Bilder in meinem Kopf so stark der Realität glichen.“
„Und meine Mutter?“
„Ich weiß es nicht. Sie haben mich weggeschickt und wollen jetzt rein.“
„Aber Matussek muss schon drin sein.“
Maximilian zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Ich meinte die Beamten. Sie sind dahinten.“
Sosehr sie sich bemühte, sie erkannte keine Personen, obwohl der Blick von hier bis zur Rückseite der Hofgebäude völlig frei schien. Dann, scheinbar aus dem Nichts, kam Bewegung ins Geschehen, und mindestens fünf schwarz gekleidete Beamte hechteten über den kleinen Zaun in den Innenhof und verschwanden wieder zwischen den Gebäudeteilen. Weit weniger als eine halbe Minute hatte die Aktion gedauert. Andrea dachte nicht weiter nach, sondern rannte an Maximilian vorbei in Richtung des Hofes, in Richtung ihrer Mutter.
Je näher sie den Gebäuden kam, umso mehr setzte ihr Verstand wieder ein. Sie änderte ihre Laufrichtung, lief langsamer und parallel zur Straße bis zum Backsteingemäuer, das fensterlos das Ende des Vierseitenhofes zu den Feldern hin beschrieb. Im Schutz der Mauer rannte sie bis dorthin, wo die Beamten kurz zuvor über den Zaun gesprungen waren. Vorsichtig spähte sie um die Ecke und prallte beinahe mit einem der Beamten zusammen.
„Sind Sie wahnsinnig?“, flüsterte er. Zu weiteren Vorwürfen kam er nicht, denn mit einem Mal ging alles sehr schnell. Lautes Rufen, das Getrappel der Stiefel auf dem Betonboden des Innenhofes und mindestens acht Beamte, auch der, der eben noch neben ihr gestanden hatte, stürzten fast gleichzeitig durch das Tor einer Scheune. Dann war wieder gespenstische Ruhe und auf dem gesamten Grundstück kein Mensch mehr zu sehen.
Andrea kletterte über den Zaun und erschrak sich so sehr, dass sie beinahe laut geschrien hätte. Jemand hatte ihr die Hand auf ihre Schulter gelegt.
„Oleg. Du hast mich zu Tode erschreckt.“
„Du mich auch mit deinem Alleingang.“
„Sie sind alle dorthinein.“ Sie zeigte auf das offene Scheunentor. Oleg stieg ebenfalls über den Zaun, und gemeinsam liefen sie zur Scheune. Andrea hätte vermutet, eine laute Geräuschkulisse vorzufinden, aber es war still, die Scheune menschenleer. Nur gedämpft drangen Geräusche zu ihnen. Jetzt erkannte sie eine Treppe, die nach unten führte und die in diesem Moment einer der Beamten hochstieg.
„Wir haben ihn überwältigt. Sie können jetzt ungefährdet nach unten.“
Andrea riss sich von Oleg los und stürmte an dem Beamten vorbei die Treppe hinunter, blieb auf den letzten Stufen erschrocken stehen und sah sich verwirrt um. Töne eines Klavierkonzertes waren zu hören. Vor ihr erstreckte sich ein Raum von mindestens dreißig Meter Länge. Die Decke war in mehreren Abteilungen bogenförmig gewölbt. Der Fußboden mit Terrakottafliesen ausgelegt, in die drei bunte Glasfenster in der Form eingelassen waren, wie sie sie von den Bildern Maximilians kannte. Sie zeigten die gleichen entsetzten angstvollen Gesichter. Doch nicht genug. An den Wänden links und rechts waren weitere Bilderfenster. Von innen beleuchtet, sahen sie auf den ersten Blick wunderschön aus. Wenn man nur nicht genau hinsah und die Motive betrachtete. Zwischen ihnen brannten rote Kerzen in verzierten Messinghaltern und verstärkten das anheimelnde Licht im Raum. Schwarze Uniformrücken bildeten auf der linken Seite am Ende des Kellergewölbes eine Sichtmauer. Die Köpfe der Beamten waren auf den Fußboden vor ihnen gerichtet.
„Wo ist Frau Wahrig-Bertani?“ Die Frage kam aus Matusseks Mund und verursachte Andrea körperliche Schmerzen.
„Mama?“, schrie sie in den Raum.
Jetzt kam Bewegung in den Pulk der schwarzen Beamten. Er rückte auseinander, um ihr Platz zu machen, und gab den Blick frei auf einen Mann am Boden, die Hände hinter dem Rücken mit einer Plastikfessel zusammengebunden, das Gesicht auf die Steine gepresst.
„Wir wissen, dass Sie eine Frau hierher entführt haben. Sagen Sie uns, wo. Sonst machen Sie Ihre Situation noch viel schlimmer.“ Während er sprach, gab Matussek einigen der Beamten mit Gesten zu verstehen, dass sie ihre Durchsuchung des Hofes und der Gebäude fortsetzen sollten. Zwei der Beamten blieben zur Bewachung des Verdächtigen stehen.
In diesem Moment hörte sie ein leises Knacken, und mehrere große Leuchtstoffröhren an der Gewölbedecke sprachen an und ließen den Raum taghell werden.
„Wir haben die Lichtschalter gefunden“, tönte es völlig überflüssig aus der vorher dunkelsten Ecke unter der Treppe.
Findet keinen blöden Lichtschalter, ihr Idioten. Findet endlich meine Mutter.
Sie war drauf und dran, den Beamten zu folgen, aber Matussek hielt ihren Arm fest. „Sie sind hier nützlicher für Ihre Mutter“, flüsterte er ihr zu. „Reden Sie mit ihm, vielleicht erreichen Sie einen Funken Mitleid in diesem abartigen Hirn.“
„Bitte. Sagen Sie mir, wo Sie meine Mutter versteckt halten. Was haben Sie mit ihr gemacht? Ich verspreche Ihnen: Wenn Sie mir jetzt helfen, meine Mutter gesund nach Hause zu bringen, werde ich alles tun, damit Sie einen guten Anwalt bekommen.“
Wo hatte sie diesen verquirlten Mist her? Niemals würde sie diesem Typen helfen. Am liebsten würde sie die Auskunft aus ihm heraustrampeln. Würde auf seinen Rücken springen und bei jedem weiteren Schweigen einen seiner Wirbel brechen.
„Sie kommen zu spät.“ Die Stimme des Mannes am Boden klang trotz seiner Lage vollkommen entspannt.
Zu spät? Das konnte … Das durfte nicht sein. Hilflos sah sie sich um, als ob ihr der Raum eine Antwort auf diesen Irrsinn geben könnte; drehte sich, und die vielen Glasbilder wollten von den Wänden auf sie herabfallen. Was hat er mit dir gemacht, Mama? Sie ließ sich auf die Knie fallen und schlug die Hände vor das Gesicht.
„Es gibt keinen Grund zu trauern. Ihre Mutter war eine Auserwählte. Zur Vollendung meiner Werke. Und sie war es wert, ausgewählt zu sein.“
Der Mann hatte sein Gesicht zu ihrer Seite gedreht und sah sie nun aus dunklen Augen an. Nur eine Sekunde länger und sie würde sich übergeben müssen. Sie wandte sich ab. Ihr Blick fiel durch die Beine der Beamten, die den Entführer bewachten, auf das untere Ende des Bildes, bei dessen Vollendung die Beamten den Mann offenbar gestört hatten. Eine erste Schicht bunter Farben bedeckte das Glas, die später die typischen Mosaiken darstellen sollte. Doch die Farbe war noch nicht überall deckend. Andrea stieß einen grellen Schrei aus. Oleg war sofort bei ihr. Auch Matussek wandte sich ihr zu. Unfähig, Worte zu artikulieren, zeigte sie mit beiden Armen auf die Wand. Die beiden Beamten, die das Bild mit ihren Körpern halb verdeckten, traten erschrocken beiseite. Alle Blicke folgten der Richtung ihrer fuchtelnden Arme. Endlich fand sie Worte: „Das … Die Schuhe … Das ist meine Mutter“, schrie sie mit überschlagender Stimme.
Matussek begriff die Bedeutung ihrer Worte als Erster. Er prüfte die Befestigung der Platte an der Wand, fand die Riegel und schob sie beiseite. „Los, Männer“, forderte er. Zu dritt wuchteten sie die Platte von der Wand. „Holen Sie meine Männer zurück. Sie sollen den Notarzt anfordern und die Spurensicherung … Sie wissen schon“, schrie Matussek Oleg zu, der sofort losrannte.
Andrea kauerte noch immer auf dem Boden und starrte auf die Wand vor ihr. Sie griff sich an die Brust, denn als sie ihre Mutter ansah, drohte ihr Herz einfach mit dem Schlagen aufzuhören. Der Fußboden war kalt und feindselig, und trotzdem wünschte sie sich, er würde sich auftun und sie verschlingen. Sie wollte nicht glauben, was sie sah, und konnte sich doch nicht abwenden. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Beamten einschließlich Matussek die vielen breiten Ledergurte, die den Körper wie festgeklebt senkrecht in der Wandauslassung gefangen hielten, endlich geöffnet hatten und den leblosen Körper ihrer Mutter vorsichtig auf dem Boden ablegten. Ihre Augen waren geschlossen. Sie atmete nicht. Ihre Gesichtsfarbe war grau, und ihre Lippen waren nur blaue Striche. Einer der Beamten griff in die zusammengebundenen Arme des Entführers und schleifte ihn wie ein wertloses Bündel Müll einige Meter über den Fußboden, weg von ihrer Mutter. Sie wunderte sich, dass sie in diesem Moment Dankbarkeit empfand. Aber sie tat es. Es wäre unerträglich, ihre Mutter neben ihrem Peiniger liegen zu sehen. Er lebte und sie …
„Ist sie …?“ Sie konnte ihre Befürchtungen nicht aussprechen und griff eine Hand ihrer Mutter. Doch die Hand war nicht so kalt, wie sie es erwartet hatte. Sie sah hoch zu Matussek, der ihr beruhigend zunickte.
„Der Arzt wird gleich hier sein. Sie lebt. Fühlen Sie“, forderte Matussek Andrea auf und legte seine Finger an den Hals ihrer Mutter.
„Hypoxie. Aber sie atmet. Sie braucht nur noch mehr Sauerstoff. Den wird sie gleich bekommen.“
Andrea verstand nicht, was Matussek ihr erklären wollte, aber noch niemals war ihr etwas gleichgültiger gewesen. Mama lebt. Ihre Mutter hatte überlebt. Sie waren doch noch rechtzeitig gekommen. Sie beugte sich über das Gesicht und küsste ihre Stirn. Jetzt spürte auch sie den ganz leichten Atemhauch, den ihre Mutter ausstieß. „Jetzt wird alles gut, Mama.“ Sie musste ihren Vater anrufen. Sobald ihre Mutter in den sicheren Händen eines Arztes war.
„Sie haben mein Werk zerstört. Sie verstehen nichts. Absolut nichts. Ihre Mutter konnte sich glücklich schätzen, hierherzugehören.“
„Kann ihm nicht jemand mal das Maul stopfen?“, hörte Andrea Olegs Stimme.
„Sie haben sie um ein würdevolles Ende gebracht. Ihre eigene Mutter. Bei Ihnen ist sie nur eine unter vielen. Bei mir …“ Weiter kam er nicht. Dann gab er nur noch stöhnende Laute von sich. Beamte rissen ihn in den Stand. Laufen konnte er wegen der zusammengebundenen Fußgelenke nicht. So schleiften sie ihn mehr, als dass sie ihn hoben, über die Steintreppe hinauf.
Andrea hielt sich die Ohren zu. Das Stöhnen des Peinigers schien ihr wie der Widerhall der Qualen, die ihre Mutter hatte erleiden müssen.
Der eingetroffene Notarzt bestätigte, was Matussek gesagt hatte. „Wir geben ihr jetzt mit Sauerstoff angereicherte Atemluft. Reiner Sauerstoff wäre eher schädlich. Es war sehr knapp. Wahrscheinlich war der Sauerstoff in dem abgedichteten Wandauslass fast aufgebraucht. Aber es sieht gut aus. Bald wird Ihre Mutter wieder bei Bewusstsein sein.“
„Selbstverständlich.“
Sie bat Oleg, sie nach oben zu begleiten. Es wimmelte inzwischen vor Menschen, die sich auf dem Gelände und in den einzelnen Gebäudeteilen zu schaffen machten. Menschen in weißen Ganzkörperanzügen, Beamte in schwarzen Kampfuniformen und Beamte in Zivil wussten trotz des Chaos offenbar genau, was sie zu tun hatten. In Andreas Kopf hämmerten die Schmerzen der Anspannung. Sie atmete mehrmals tief ein und aus, als sie eine schreckliche Erkenntnis wie ein Schlag ins Gesicht traf. „Oleg!“, schrie sie. „Hinter den anderen Bildern … sind auch Menschen?“
Er nickte ernst und drückte sie liebevoll an sich. Ein Weinkrampf schüttelte sie. Erst als er langsam nachließ, fand sie die Kraft, ihren Vater anzurufen und auch ihn aus seiner Angst zu erlösen.
„Danke“, sagte sie zu Oleg, und es kam aus tiefstem Herzen. Dann beeilte sie sich, in den Krankenwagen zu steigen, wo ihre Mutter bereits gesichert auf der Trage lag. Die Tür schloss sich, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Das Letzte, das Andrea von diesem Bauernhof des Schreckens durch das Fenster wahrnahm, war das aufgewühlte und bleiche Gesicht Maximilians, der hilflos in dem Chaos der hektisch arbeitenden Beamten stand.
Sie waren kaum aus dem Tor des Bauernhofes gefahren, als ihre Mutter die Augen aufschlug. „Ich möchte bitte Wasser.“
„Das ist ein sehr gutes Zeichen.“ Der Notarzt neben ihnen griff nach einer kleinen Wasserflasche, stützte Giorgias Kopf und führte die Flasche an ihren Mund. „Nur einen winzigen Schluck. Wir möchten erst sicher sein, dass alle Funktionen wieder voll da sind.“
„Andrina, Liebling, ich hatte gedacht, ich sehe dich nie wieder. Gerhard?“ Mühsam versuchte sie den Kopf zu drehen. „Ich habe solche Kopfschmerzen.“
„Das ist ganz normal. Die werden gleich nachlassen“, antwortete der Arzt und hantierte an der Infusionsflasche, die über ihr baumelte.
„Papa wartet im Krankenhaus auf dich. Mein Gott, was musst du erlebt haben.“
„Er ist krank. Ich habe versucht, so zu tun, als sei ich seine Mutter. Ich hatte gehofft, dass er mich dann nicht umbringen kann. Aber ich habe es nicht geschafft.“
Sie sah Andreas Tränen. „Nicht weinen, Andrina. Ich lebe ja. Hast du mich gefunden?“
„Das ist eine lange Geschichte. Ruh dich aus, Mama. Jetzt haben wir noch so viel Zeit.“
„Hinter all den anderen Bildern …?“
Andrea schüttelte den Kopf. „Später, Mama.“
Ihr Vater stand blass und ungekämmt am Hintereingang der Notaufnahme. Nach einer langen Umarmung seiner Frau, bei der erstaunlicherweise nicht nur bei ihrer Mutter die Tränen liefen, drehte er sich zu ihr um und suchte den Augenkontakt. Andrea wandte sich ab. Sie hatte keine Kraft mehr, sich jetzt auch noch um seine bettelnden Entschuldigungsblicke zu kümmern. Sie blieb abseits stehen, bis die Ärzte bestätigen konnten, dass alle Körperfunktionen bei Giorgia hundertprozentig in Ordnung seien und sie nur vorsorglich die kommende Nacht zur Beobachtung bleiben solle.
Ihre Mutter war jetzt in guten Händen, und nach einer liebevollen Umarmung stand Andrea unschlüssig vor dem Krankenhauseingang. Ihr Körper fühlte sich an wie ein Boxsack, dem man die Hälfte der Füllung entnommen hatte. Neidisch beobachtete sie, wie sich ein junger Mann eine Zigarette ansteckte. Das wär’s jetzt. Die Zigarette, dein Freund und Helfer in der Not. Sie erinnerte sich an dieses Gefühl. Erst mit fünfundzwanzig Jahren hatte sie erkannt, wie trügerisch Zigaretten Hilfe, Halt und Freundschaft vorgaukeln konnten, und hatte von einem Tag auf den anderen aufgehört.
Sie lächelte. Da kam eine andere Hilfe auf sie zu, die wesentlich verlässlicher schien. Auch Oleg lächelte, als er sie erkannte.
„Was ist in diesem Gruselkeller noch passiert?“
„Nachdem sie die erste Platte entfernt haben, bin ich gegangen. Ich habe noch nie eine Leiche gesehen. Da wollte ich mir die weiteren nicht mehr antun.“
„Maximilian?“
„Matussek hat ihn verhört. Er wollte wohl auch nach unten. Aber Matussek hat ihn nicht gelassen. Ich habe ihn zu seinem Elternhaus zurückgebracht, wo sein Auto stand, und vorsorglich gewartet, bis er losfuhr. Ich bin dann, bis ich hierher abbiegen musste, hinter ihm hergefahren. Ich denke, er ist nach Berlin weitergefahren.“
„Ich werde ihn morgen anrufen. Aber jetzt will ich nur noch in mein Bett. Wo ist eigentlich mein Auto?“
„Einer von Michaels Leuten hat es dir zu Hause vor die Tür gestellt.“
Sie schlenderten in Richtung Parkplatz. Sie wollte ihn schon die ganzen letzten Tage fragen und hatte es jedes Mal vergessen. „Woher weißt du eigentlich meine Privatanschrift?“
Er grinste und sah fast ein wenig verlegen zur Seite. „Ich bin halt ziemlich verliebt.“
„Was keine Erklärung ist“, lachte sie.
„Ich bin dir eines Abends von der Galerie nachgefahren.“
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Reicht es nicht, dass mich offenbar ein irrer Serienmörder verfolgt hat?“
„Und verwechselst du jetzt nicht Gut und Böse? Ich wollte einfach nur mehr von dir wissen. Ich war vom ersten Moment an fasziniert von dir.“
„Danke. Aber es würde mir wesentlich mehr schmeicheln, wenn es da nicht eine Frau Wesselov und zwei Kinder Wesselov in Kleinmachnow geben würde. Findest du nicht, dass du dorthin gehörst, anstatt dich so viele Stunden um mich und meine Probleme zu kümmern? Wobei ich heilfroh bin, dass du genau dieses in letzter Zeit getan hast. Ohne dich …“
Oleg schwieg, und sie stiegen in sein Fahrzeug. Eine lähmende Müdigkeit erfasste Andrea, kaum dass sich das Auto in Bewegung gesetzt hatte. Erst nach Minuten sprach Oleg wieder. „Meine Frau und ich haben uns bereits vor drei Jahren getrennt. Und zwar einvernehmlich.“
Sie war wieder wach. Das erklärte vieles. Seine fehlenden Skrupel, die Zeit, die er immer hatte. Die Abende in Berlin. Sie ärgerte sich, dass sie dieses Thema bisher so feige umschifft hatte, nur um die Momente der Nähe nicht zu zerstören.
„Aber in einem hast du recht. Ich gehöre trotzdem nach Kleinmachnow. Zu meinen Kindern. Meine Frau ist eine tolle Frau, und für die Kinder ist der Papa wegen der Arbeit so oft weg. Aber wenn ich da bin …“
Auch, wenn sie es verstand, es stach trotzdem. „Und diese tolle Frau hast du verlassen?“
„Liebes, nicht alles passt in deine Schubladen. Sie hat mich verlassen. Aber das ist kein Thema für diesen Moment. Wenn ich eines Tages sicher bin, eine glückliche Beziehung mit einer anderen Frau zu haben, wird es auch eine Lösung geben, den Kindern das beizubringen.“
Andrea nickte. Er war offenbar ein liebevoller und verantwortungsvoller Vater, und sie könnte sich gerade backpfeifen. Sie schloss die Augen und wollte wieder wegdämmern.
„Ich denke, dass dieser Zeitpunkt unmittelbar bevorsteht. Oder, was meinst du?“
Sie antwortete nicht, aber das erste Mal seit vierundzwanzig Stunden fühlte sie wieder so etwas wie Glück. Diese Nacht schickte sie Oleg nicht fort.