19. KAPITEL
Weder Andrea noch Giorgia Wahrig hatten bemerkt, dass er sie bis ins Café am Ernst-Reuter-Platz verfolgt hatte. Er war ein Meister des Beobachtens. Der Rest war ein Kinderspiel gewesen. Er war mit dem Auto zur S-Bahn-Station Hermsdorf gefahren und hatte in aller Seelenruhe gewartet, ob Andreas Mutter vorhatte, nach Hause zu fahren. Als er sie aus dem Gebäude kommen sah, war er mit dem Auto in Richtung ihrer Adresse gefahren. Er kannte inzwischen die einsamen Straßen, wusste, wo die geeigneten Stellen auf ihrem Nachhauseweg lagen. Er war eben gut in dem, was er tat. Und doch war alles anders als sonst. Er kannte ihren Namen. Außerdem war sie schwer gewesen, und er war in Schweiß gebadet, bevor sie in der Senkrechten hing und alle Gurte saßen. Es hatte Zeit gekostet und Kraft, und inzwischen war es bereits einundzwanzig Uhr. Zeit für die Vorbereitung der Platte. Farben und Stifte hervorholen. Kontrollieren, ob es noch genug Kerzen in der Kiste gab. Doch unfähig, zu planen, holte er die Pritsche hervor und legte sich darauf.
Wie ein Murmeltier hatte er geschlafen, als ihre Schreie ihn weckten. Sie sagte nichts. Sie schrie nur. Laute und schrille Schreie, die durch das Gewölbe hallten. Seine Schläge ins Gesicht halfen nichts, und auch die Drohungen mit dem Messer zeigten keine Wirkung. Schließlich riss er einen Lappen entzwei und zwängte ihn als Knebel in ihren Mund. Vorsichtig, damit sie nicht erstickte. Wie gelähmt stand er vor ihr und wusste nicht, ob er imstande war zu tun, was er tun musste, wenn es ihm noch nicht einmal gelang, ihre Stimme auszublenden. Der Schlaf hatte nicht die ersehnte Kraft zurückgebracht. Im Gegenteil. Er fühlte sich bleiern, und es schien ihm, als liefe alles in seinem Körper in Zeitlupe.
Er stieg nach oben, stellte sich genau in die Mitte der Hoffläche, die hufeisenförmig von seinem Haus und den Nebengebäuden umschlossen wurde, und atmete tief durch. Immer wieder. Am Horizont zeigte sich das erste Grau des Tagesanbruchs. In der Verfassung, in der er war, würde er nichts Gutes zustande bringen. Es war doch ein Fehler gewesen, sie als Bild zu wählen. Er hatte sich durch die Ähnlichkeit mit seiner Mutter hinreißen lassen. Aus dem Auto holte er die Schachtel mit den Schlaftabletten und aus dem Haus ein Glas Wasser. Mit beidem ging er wieder in die Gruft. Er zog ihr den Knebel aus dem Mund, darauf gefasst, dass sie sofort wieder schreien würde. Aber sie weinte lautlos.
„Ich bin müde und muss noch ein paar Stunden ausruhen. Das hier sind Schlaftabletten. Es liegt an Ihnen, sich die nächsten Stunden durch Schlaf leichter zu machen. Trinken Sie oder lassen Sie es bleiben.“
Er flößte ihr langsam die Flüssigkeit ein, und Giorgia trank mit kleinen Schlucken, ihre dunklen Augen unverwandt auf ihn gerichtet. Er konnte ihre Blicke kaum ertragen, und rasch ließ er sie allein.
Es war fast schon Mittagszeit, als er in seinem Schlafzimmer erwachte und einen Augenblick brauchte, bis die Erinnerung klar war. Er fühlte sich munter und kräftig und kehrte ermutigt ins Gewölbe zurück.
Sie war bereits wach und sah ihm entgegen, überraschenderweise vollkommen ruhig, als wäre in den letzten Stunden alle Angst aus ihr gewichen. Das Make-up ihrer Augen war verwischt und hatte blassschwarze Streifen hinterlassen. Aber ihre Augen selbst waren trocken und klar. Wie er vermutet hatte, waren sie tiefbraun, fast schwarz. Wieso schminkte sie sich? Sie war wunderschön.
„Sie malen wie ein junger Mann namens Maximilian Ross“, sagte sie heiser.
„Wohl kaum.“
„Doch. Wissen Sie, meine Tochter ist Galeristin. Sie sollten sich einmal mit ihr treffen.“ Sie hustete.
„Billige Kopien.“
„Dann kennen Sie den jungen Mann?“
Er schwieg.
„Könnten Sie mir einen großen Gefallen tun? Der eine Gurt. Er drückt mir zu sehr auf die Brust. Könnten Sie ihn etwas lockern? Und ein Glas Wasser.“
„Vielleicht soll ich Sie auch noch füttern?“
„Sie sehen nicht aus wie jemand, der Freude am Leid anderer hat. Gewalt ist primitiv. Und Sie sind alles andere als primitiv. Das sehe ich. An Ihnen, an Ihren Bildern. Ich bin sicher, Sie machen das hier aus ganz anderen Gründen.“ Giorgia deutete mit Bewegungen der Augäpfel auf die Fenster gegenüber. „Sie glauben an Gott, nicht wahr?“
„Wenn ich das nicht täte, hätte ich nicht seine Fähigkeiten gelernt.“
„Sind wir nicht alle Werkzeuge des Herrn?“
Sie verstand gar nichts. Mochte sie sich als ein Werkzeug fühlen. Für seine Hände würde sie es auf alle Fälle sein. Aber er ließ sich nicht mehr von einem Gott benutzen. Darüber war er lange hinweg. Wie oft war er in die Kirche gegangen! Hatte dort vergeblich Halt gesucht, als er von einer Minute zur anderen seine gesamte Familie verlor.
„Du Mörder. Gib mir meine Frau und mein Enkelkind wieder“, rief sein Vater immer und immer wieder, und weil er das nicht konnte, war er fortan für ihn ebenfalls gestorben. Dabei trug er keine Schuld an diesem Unfall. Sie hatten einfach nur nicht auf ihn gehört. Und er musste im Gegensatz zu ihnen weiterleben. Ein erbärmliches Leben. Jeden Winter, der kalt genug war, das Wasser der kleinen Seen zu gefrieren, zog es ihn dorthin. Und eines Tages sah er sie: Beate. Er drehte sich suchend nach Marc um. Und nach seiner Mutter. Sie waren doch zusammen gefahren. Er wollte nicht glauben, dass die Frau angeblich nicht wusste, wer er war. Doch plötzlich traf ihn die Erkenntnis wie ein brutaler Schlag. Natürlich konnte die Frau ihn nicht erkennen. Sie war nicht Beate. Beate war tot. Eine ohnmächtige Wut erfasst ihn, und er folgte der Frau.
„Der Gurt … könnten Sie … bitte …? Wissen Sie, je älter man als Frau wird, umso empfindlicher werden die Brüste. Aber das kennen Sie ja bestimmt von Ihrer Mutter.“
Er starrte sie an. Unfähig, etwas zu antworten. Wie konnte sich diese Frau im Entferntesten mit seiner Mutter vergleichen? Niemals hatte er sich mit ihnen unterhalten. Er hätte es besser wissen und es in der Nacht zu Ende bringen müssen. Beate hatte keine empfindlichen Brüste gehabt. Sie wollte hart angefasst werden. Zu hart für seinen Geschmack. Er hatte Zärtlichkeit gewollt, nicht die Härte seines Vaters. Sagte man das nicht immer? Väter, die schlugen, wurden selbst geschlagen? Aber Marc hatte ihn Tag für Tag, Stunde für Stunde eines Besseren belehrt. Wenn er seine kleinen Ärmchen um ihn geschlungen hatte, damit der Papa ihn ins Bett tragen und noch eine Geschichte vorlesen konnte. Wenn er mit einem Satz – „Papa, ich hab dich lieb“ – allen vorangegangenen Streit mit Beate einfach aus dem Gedächtnis strich. Hatte Marc jemals „Mama, ich hab dich lieb“ gesagt?
Er löste seinen Blick von Giorgia, die im Geiste seiner Mutter von Minute zu Minute weniger ähnelte. Andreas Mutter hatte sicher immer hinter ihrer Tochter gestanden. Oder besser gesagt, vor ihr, um sie zu schützen. Mit einem Mal beneidete er Andrea Wahrig. Er ging zu Giorgia und lockerte den Brustgurt um ein Loch. Dabei vermied er, ihr in die schwarzen Augen zu sehen. Er würde sie überhaupt nicht mehr ansehen und auch nicht mehr mit ihr sprechen. Er war hungrig, und nach dem Essen würde er sich endlich an die Arbeit machen. Sonst reichte der Anblick der in den Gurten hängenden Frauen, und er war aufgeregt und nur von Willenskraft getrieben, die den Glücksmomenten der Vollendung stets vorausgingen. Dieses Mal war alles anders. Er hatte die falsche Entscheidung getroffen und fühlte sich enttäuscht von sich selbst. Aber er war professionell, er würde die Sache hier zu Ende bringen. Und wer wusste schon? Vielleicht übertraf er sich gerade dieses Mal selbst, wo es ihm so viel Kraft abforderte.
„Bitte bleiben Sie. Ich habe Angst, wenn ich allein bin“, tönte es hinter ihm, als er die erste Treppenstufe betreten wollte. Er hielt inne.
„Ich habe keine Angst zu sterben. Aber allein möchte ich nicht sein. Kennen Sie das Gefühl, allein zu sein? Niemand ist da, mit dem man die Freuden und die Sorgen des Lebens teilen kann. Da passiert es leicht, dass man sich vergräbt. Aber das ist falsch. Sie müssen nur unter Leute gehen. Sie sind so ein guter Maler. Sprechen Sie mit meiner Tochter. Bestimmt werden Sie berühmt, und alle Menschen werden Sie bewundern.“
„Reden Sie nicht so einen schrecklichen Schwachsinn. Sie sind nicht allein. Sie haben Mann und Tochter. Und ich bin kein guter Maler. Ich bin ein begnadeter Maler. Ich brauche Ihre Tochter nicht, sie kann mir gestohlen bleiben. Genauso wie Sie. Was wissen Sie denn vom Leben?“
Er drehte sich um und ging schnellen Schrittes auf Giorgia zu, bis sein Gesicht nur Zentimeter von ihrem entfernt war. „Dafür wissen Sie bald etwas vom Tod. Erzählen Sie Ihrem Gott davon. Berichten Sie ihm, wer über Ihren Tod entschieden hat. Er oder ich? Er hat es einmal in meinem Leben entschieden, aber ich habe sie alle zurückgeholt. Meine Mutter, meine Frau, meinen Sohn. Sie sind hier.“ Er trat einige Schritte zurück, breitete die Arme weit aus und drehte sich. Hörte nicht mehr auf sich zu drehen. „Hier bei mir. Und jetzt leben sie. Nicht so ein gottverdammtes kurzes Menschenleben. Nein. Dank mir leben sie ewig.“ Er verlor das Gleichgewicht, torkelte und sank auf den Boden. Halb sitzend und mit tief gebeugtem Kopf strichen seine Hände mit ausladenden Bewegungen auf dem Steinfußboden hin und her, als müsse er ihn glätten.
„Sie werden mich töten, nicht wahr? Werde ich sehr leiden müssen?“
Er sah sie verständnislos an. „Wieso leiden?“ Mühsam rappelte er sich wieder auf. „Jeder muss so viel leiden, wie er es verdient hat, Mutter.“ Mit diesen Worten stieg er die Treppe hinauf.