4. KAPITEL
Maximilian legte den Pinsel beiseite und ging ins Bad. Er presste das Handtuch an sein Gesicht und sog den Duft des Frotteestoffes tief ein: die Frische einer angeschnittenen Limone und ein Hauch würziges Rosenholz. Wenigstens dieser Geruch seiner Mutter sollte von allen verlorenen Dingen der Kindheit erhalten bleiben. Der Duft tröstete, schob dunkle Gedanken beiseite und ließ die hässliche Parterrewohnung in Berlin-Kreuzberg um ein Vielfaches heller erscheinen. Er sehnte sich nach einer luftigen Atelierwohnung, die das Wort verdiente und von denen es gerade in Berlin sehr viele gab; leider nicht für ihn und seine mäßigen Einkünfte aus dem Verkauf seiner Bilder auf den Straßenfesten. Wenn es ihm eines Tages vergönnt wäre, aus dem Fenster über die Dächer der Stadt zu sehen, würde er vielleicht darauf verzichten, jeden Morgen das Parfum zu versprühen.
Mit dem Handtuch vor seinem Gesicht träumte er vom elterlichen Hof. So wie er es auch tat, wenn die Ein-Euro-Jobber im Volkspark Friedrichshain den Rasen mähten. Dann sah er vor sich die Felder rund um sein Dorf, so weit das Auge reichte, und sah sich selbst seine ersten Bilder in den Sand malen. Bilder von kleinen Brüdern oder Schwestern. Später hatte er einen imaginären besten Freund gemalt.
Er ging zurück ins Wohnzimmer, in dem er notgedrungen auch schlief, denn Malutensilien und seine Werke füllten den zweiten Raum der Wohnung komplett aus, setzte sich an den Tisch und starrte die Farbspritzer auf der Tischplatte an. Andrea Wahrig machte einen ehrlichen Eindruck. Er wollte ja Maler sein. Wollte damit wenigstens so viel verdienen, dass er eines Tages aus diesem Loch hier herauskam. Aber er spürte, dass die Entscheidung falsch gewesen war, ihr, überhaupt irgendjemandem, seine Glasbilder anzuvertrauen. Es war viel zu gefährlich, um damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Ich muss besser aufpassen, wenn ich die Farben mische. Die Kleckse bekam er aus dem Holz nicht mehr heraus. Acrylfarbe, wasserfest, wenn sie erst einmal getrocknet war. Es gab auch wasserlösliche Acrylfarben. Aber er wollte dauerhafte Bilder, keine, die man einfach wieder so vom Glas wischen konnte.
Ein Hungergefühl ließ ihn in die Küche gehen und den Kühlschrank öffnen, um festzustellen, dass der bis auf Margarine und zwei Apfelsinen leer war. Er griff nach den Schlüsseln und lief auf die Straße in Richtung des nahe gelegenen Supermarktes.
„Entschuldigung“, sagte die junge Frau und ließ den Beutel Pommes nicht los.
„Entschuldigung“, sagte er im selben Moment und zog seine Hand zurück. Sein Blick blieb an ihren Augen hängen. Graublau, trotzdem leuchteten sie. Er fand ihr Gesicht hübsch, wenn es auch im Moment trotzig, beinahe kindlich wirkte. Eine braune Locke fiel über ihre Augen, und sie pustete sie zur Seite weg.
„Nehmen Sie ruhig die letzte Tüte.“ Er würde eben Nudeln essen.
„Danke.“ Der Trotz verschwand aus ihrem Blick.
Er lächelte, und augenblicklich spürte er das Verlangen, sie zu malen. Dieses Gesicht mit den ausgeprägten Augenbrauen, der Stupsnase und dem vollen Kussmund. Wie würde der wohl aussehen, wenn er schrie? Von den Lippen wäre noch genug zu sehen, auch wenn sie sich kräftig dehnen mussten. Die Fältchen um ihre Augen würde er in seinem Bild zu tiefen Gräben werden lassen. Denn noch in Todesangst wäre ihr Gesicht sonst zu niedlich. Er würde auch die runde Form etwas korrigieren müssen.
„Wenn ich mir’s recht überlege, könnte ich auch Puffer machen. Wollen Sie?“ Sie hielt ihm die Tiefkühlpackung entgegen.
„Wir könnten sie zusammen essen“, sagte er und wunderte sich über seine ungewohnte Spontaneität.
Sie lachte laut auf. Ein bisschen zu kokett, wie er fand, aber es fühlte sich gut an, mit ihr zu sprechen.
„Also heute nicht. Ich muss noch zur Arbeit. Aber ein andermal … warum nicht?“ Ihre Stimme klang fröhlich, beinahe übermütig.
„Wohnen Sie hier in der Nähe?“
„Ja. Und du?“
Das Du verwirrte ihn. Er ging nirgendwohin, wo man so mir nichts, dir nichts junge Frauen kennenlernte, noch dazu so hübsch und so unbeschwert, das fremde Gegenüber gleich zu duzen. Er hatte es versucht, aber nach einigen Malen feststellen müssen, dass er sich selbst auch nicht angesprochen hätte. Mit seinen zu kurzen Beinen und einem Haarschopf, für den die Bezeichnung aschblond erfunden worden war, ging er in den suchenden Blicken junger Frauen unter.
„Dann kaufen Sie … kaufst du öfter hier ein?“
„Nee, eigentlich nicht. Zu teuer. Hatte heut nur zu wenig Zeit.“
„Wo dann?“
„Meistens Lidl. Der in der Kottbusser.“
„Dann sehen wir uns da. Was isst du zu den Pommes?“
„Hähnchenschnitzel. Oder Pute. Warum?“
Wieder lächelte er sie an und freute sich, dass er so locker mit einer wildfremden Frau sprach. „Ich kann doch nicht nur Pommes machen, wenn wir zusammen essen wollen.“
„Ich muss los. Lassen wir den Zufall sprechen. Wenn wir uns noch mal treffen, nehm ich deine Einladung an, okay?“ Sie griff sich ein Paket Kartoffelpuffer und ging. Er blieb an der Tiefkühltruhe stehen und starrte ihr nach. Als sie sich noch einmal umdrehte, winkte sie lächelnd. Was für ein zauberhaftes Model! dachte er.
Als er in seine Straße einbog, beobachtete er, wie die Bedienung des Cafés an der Ecke Tische und Stühle vom Staub säuberte. Er blieb stehen, überlegte und setzte sich kurzerhand an einen der Tische. Während er auf ein XXL-Frühstück wartete, lehnte er sich entspannt zurück und beobachtete die bunte Mischung aus Rentnern, Müttern mit kleinen Kindern und Studenten, die im unterschiedlichen Tempo am Café vorbeiliefen. Die Pommes würden auftauen, fiel ihm ein. Er stellte den Einkaufsbeutel in den Schatten unter den Tisch. Gleich morgen würde er neue kaufen. Bei Lidl in der Kottbusser Straße. Das waren zu Fuß vielleicht fünfzehn oder zwanzig Minuten. Er könnte das Rad nehmen und am Ufer entlangfahren. Wieder verzog sich sein Mund zu einem breiten Lächeln.