23. KAPITEL
Am nächsten Morgen holte sie Maximilian in seiner Wohnung ab. Schweigend saß er neben ihr, aber trotzdem schien er dankbar für den Vorschlag zu sein, gemeinsam in einem Auto nach Paulinenaue zu fahren, und hatte auch dem Umweg über das Klinikum Nauen sofort zugestimmt.
Ihre Mutter stand schon abfahrbereit neben dem Bett. Gemeinsam warteten sie auf die Ankunft von Gerhard Wahrig. Bis auf die Schatten unten den Augen sah man Giorgia die physischen Anstrengungen nicht mehr an. Und die psychischen Folgen der Erlebnisse waren gut versteckt. Andrea schüttelte ihren Kopf. Wann würde sie das Bild ihrer Mutter an der Wand aus den Gedanken bekommen?
Als ihr Vater eintrat, im Anzug mit gebügeltem Hemd und in gewohnt selbstsicherer Art, verabschiedete sich Andrea. „Heute Abend komme ich vorbei. Oder ist dir das noch zu viel, Mama?“
„Es tut mir immer gut, wenn du kommst, Andrina. Ich hab ja den ganzen Tag Zeit, mich auszuruhen.“
„Und wehe, du tust das nicht. Ich habe mit Mülli telefoniert. Sie wartet schon auf dich und wird dafür sorgen, dass du keinen Finger krumm machst.“ Andrea winkte ihrer Mutter von der Tür noch einmal zu. „Und bitte lass Papa ans Telefon gehen.“
Die Eltern sahen sie verständnislos an.
„Die Presse wird sich auf dich stürzen, Mama.“ Matussek hatte sie bereits darauf vorbereitet, dass die Journalisten sich vor dem Bauernhof des Serienmörders so zahlreich niedergelassen hatten, dass die Leichenwagen, die die insgesamt achtundzwanzig Leichen oder was von ihnen noch übrig geblieben war, abtransportierten, kaum passieren konnten. Es würde nicht lange dauern, bis nähere Informationen über die Identität des letzten Opfers durchsickerten, das überlebt hatte. Matussek hatte Andrea auf ihre Bitte, mit Maximilian in das Gewölbe hinuntergehen zu dürfen, erstaunlich schnell zugesagt. Noch gestern Abend hatte er ihn lange befragt, das wusste sie von Oleg. Matussek kannte im Gegensatz zu ihr also die Rolle Maximilians in diesem schrecklichen Spiel des Mörders. Und doch war es nicht Neugier, die sie zu diesem erneuten Ausflug nach Paulinenaue trieb. Sie spürte, dass es für den jungen Maler an ihrer Seite lebensnotwendig schien, sich mit dem Ursprung der Glasbilder auseinanderzusetzen.
Bereits als sie sich dem Ort näherten, wimmelte es von Menschen auf der Straße. Sie fuhren durch die Ortschaft, und die meisten Personen, die sie sahen, passten nicht hierher. Schon dreihundert Meter vor dem einsamen Bauernhof am Ortsende parkten Autos und Laster mit Aufschriften von Fernseh- und Rundfunksendern ungeordnet am Straßenrand oder sogar auf den Feldern rund um den weiträumig abgesperrten Tatort.
Andrea fuhr bis an die Absperrung heran. Sie musste warten, bis einer der Beamten Matussek holte.
„Haben Sie überhaupt geschlafen?“, fragte Andrea ihn. Der Profiler sah mitleiderregend aus.
„Sie wissen doch: Ich trinke gerne Kaffee“, sagte er und grinste schief. „Wie die Aasgeier.“ Er deutete auf die Fotografen, die von Maximilian und ihr Fotos machten, ohne zu wissen, wer sie eigentlich waren. „Soll ich denen stecken, wer Sie sind? Würde Ihrer Galerie sicher nichts schaden.“ Er lachte, und sie erwiderte das Lachen. An die Galerie durfte sie überhaupt nicht denken. Sie war seit zwei Tagen geschlossen – und das unmittelbar nach der Vernissage.
„Mach dir über Rüdiger Hauswald mal keine Gedanken“, hatte Oleg heute Morgen zu ihr gesagt. „Der profitiert davon, sobald die Presse deine Rolle in diesem Fall mitbekommt. Er wird dir noch die Füße küssen, so viel Aufmerksamkeit wird der Galerie bald geschenkt.“ Hoffentlich behielt er recht.
Der Beamte schloss das Tor hinter ihnen. Noch immer waren Unmengen an Beamten und Ermittlern auf dem Grundstück. „Dürfen wir?“, fragte sie.
„Nur bitte nichts berühren. Die Spurensicherung ist unten zwar fertig, aber trotzdem …“
Andrea nickte. Sie konzentrierte sich wieder auf Maximilian, der teilnahmslos neben ihr stand. Vorsichtig berührte sie ihn am Arm und ging langsam auf die Treppe zu, als Matussek rief: „Ach, Herr Ross?“
Maximilian drehte sich um.
„Ich möchte nicht in der Haut der Kollegen stecken, die Ihnen damals nicht geglaubt haben. Und ich schäme mich für sie.“
Maximilian nickte Matussek dankbar zu, und langsam ärgerte es Andrea doch noch, dass Matussek bereits alles von Maximilian wusste, während sie noch völlig im Dunkeln tappte.
Als sie hinunterstiegen, kam ihnen ein Gemisch aus süßlichem Verwesungsgeruch und billigem Raumspray entgegen. In der Nähe der Treppe hantierte ein Polizeifotograf mit seinem Equipment.
„Könnten Sie uns einen Moment alleine lassen“, bat sie.
Er nickte. „Aber auf keinen Fall …“
„… etwas berühren, wissen wir.“
Wie in Zeitlupe schritt Maximilian die rechte Wand ab. Das Gewölbe hatte durch das grelle Neonlicht und die fehlenden bunten Glasscheiben jede Schönheit verloren, die es hätte haben können, wenn man um die Dramen nicht wüsste, die sich hier unten ganze neunundzwanzig Mal abgespielt hatten, ihre Mutter nicht eingerechnet. Die Maueröffnungen wirkten bizarr. Im offenen Zustand sah man die Elektroinstallationen für die Beleuchtung und die gemörtelten Mauersteine, die eingefügt worden waren, um die Rundung des oberen Randes zu schaffen. Bei den der Treppe am nächsten liegenden Öffnungen waren die Gurte teilweise geschlossen. Bei der Vorstellung, dass hier die Verwesung schon so weit fortgeschritten war, dass ein Entfernen der Leichenteile ohne Öffnen der Gurte möglich gewesen war, liefen Andrea Kälteschauer über den Körper. Sie blieb dicht hinter Maximilian, der jede der Maueröffnungen prüfend betrachtete. An dem Abstand der angebrachten Gurte konnte man erkennen, wenn es sich um ein Kind gehandelt haben musste, dessen Überreste entnommen worden waren. Den Bereich um die drei mittig im Fußboden eingelassenen Särge hatte man mit Aufstellern, wie sie bei Baustellen im Straßenbau üblich waren, und einem roten Plastikband vor dem zufälligen Hineintreten gesichert. Andrea fragte sich, warum der Mörder auf dem weitläufigen Fußboden nur drei solcher Auslässe geschaffen hatte, während die Wände beinahe voll davon waren. Als sie am Ende des Gewölbes kehrtmachen mussten, blieb sie vor dem letzten der Fensteröffnungen stehen. Wieder sah sie das Bild ihrer Mutter darin, das sich ihnen gestern so schrecklich geboten hatte. Hinter ihr lag noch immer unverändert die Staffelei, die die Beamten bei der Überwältigung des Mörders umgeworfen hatten. Beide starrten sie auf das Foto, das zusammen mit einigen Rosen auf dem Boden lag. Eine ältere Frau mit dunklen kurzen Locken und eine jüngere mit langen braunen Haaren lachten in die Kamera. Sie standen in einem verschneiten Garten, am Bildrand ein halb fertiger Schneemann. Beide Frauen hatten je eine Hand auf die Schultern eines ungefähr achtjährigen Jungen vor ihnen gelegt. Sein verschmitztes Gesicht guckte unter einer bunten Strickmütze hervor.
„Seine Familie?“, fragte Maximilian.
„Meinst du, so ein Monster hat überhaupt eine Familie?“
„Vielleicht in früheren Zeiten einmal.“
Sie gingen langsam weiter. Am letzten Bodenauslass blieb Maximilian stehen.
„Dies sollte mein Grab sein. Und ich hätte es wahrlich verdient, hier zu verwesen.“
Er blieb mit tief gebeugtem Kopf stehen und schwieg. Sie fasste ihn an der Hand, zog ihn zur Treppe und setzte sich auf eine der letzten Stufen. Sie ließ seine Hand nicht los, und so blieb ihm nichts weiter übrig, als sich neben sie zu setzen.
„Bitte erzähl mir endlich, was damals passiert ist“, bat sie mit leiser Stimme.
Dieses Mal verweigerte er sich ihr nicht. Tief nach vorn gebeugt und die Arme auf die Oberschenkel gestützt, erzählte er. „Ich war sieben Jahre alt. Es war der 22. Januar 1995. Ein Datum, das mich bis heute verfolgt.“
Er machte eine kurze Pause, und eigentlich hätte er nicht mehr weitersprechen müssen, denn schon nach diesen beiden ersten Sätzen wusste Andrea, was damals geschehen sein musste. Der Drohbrief in der Jackentasche. Sein Interesse an den vermissten Personen. Seine Bilder.
„Ich war mit Klassenkameraden am See zum Schlittschuhlaufen. Wieder einmal ärgerten sie mich, und ich wollte deshalb früher nach Hause. Er überwältigte mich aus einem Busch heraus. Ich kann mich noch an einen weißen Lappen in seiner Hand erinnern. Dann fiel ich schon. Als ich zu mir kam, wusste ich nicht, wo ich war. Es sah alles so unwirklich aus. Ich lag auf dem Boden. Ich hatte meine Jacke nicht mehr an und fror schrecklich. Sie war neu und hatte Daunen. Sie wirkte wie eine Astronautenjacke, wie aufgepumpt – und war das Neueste. Meine Oma aus Köln hatte sie geschickt. Ich versuchte aufzustehen, konnte mich aber nicht bewegen, nicht einmal meinen Kopf heben. Es war nicht ganz dunkel, denn an der Wand neben mir leuchtete etwas. Wunderschön und bunt. Da wusste ich, ich musste gestorben sein und war aufgebahrt in einer Kirche. Es war das schönste Kirchenfenster, das ich jemals gesehen hatte, und ich musste wirklich viele Kirchen besuchen. Immer, wenn ich mit meinen Großeltern unterwegs war. Doch dann erkannte ich, dass da statt Bibelszenen oberhalb der Mosaiken ein schreckliches Gesicht gemalt war, was auf mich heruntersah. Es machte mir Angst, und ich versuchte zu fühlen, was mich an meinem Kopf, den Armen und Füßen festhielt. Meine Hände waren frei, aber in Höhe meiner Ellenbogen fühlte ich es. Ich strengte mich an, schob meinen Körper so gut es ging nach oben und zur Seite, bis ich meine Arme endlich so weit nach oben ziehen konnte, dass nur noch meine Hand hindurchmusste. Ich versuchte sie ganz schmal zu machen. Endlich gelang es. Meine rechte Hand war frei. So konnte ich an den Gurten am anderen Arm und an meinem Kopf fühlen, bis ich die Öffnungen fand. Die Füße zu befreien war dann ein Kinderspiel. Ich rappelte mich auf, rutschte auf einem glatten Fußboden aus und fiel hin. Bevor ich noch einmal aufstehen konnte, war er über mir. Er sah eigentlich ganz normal aus. Und erschrocken wirkte er. So, als ob er genauso Angst hatte wie ich. Mit sieben Jahren weiß man nichts vom Leben und schon gar nicht vom Tod. Aber trotzdem war mir klar: Ich musste um mein Leben rennen, egal wie harmlos mein Entführer schien. Ich wand mich aus seiner Umklammerung und robbte unter seinen Beinen hindurch. Vor mir sah ich eine Steintreppe, und ich war schneller als er. Ich fand mich in einer Scheune wieder. Durch den Lichtschein von unten sah ich das Tor und stürzte nach draußen. Dort war es bereits dunkel, aber der Schnee auf den Feldern leuchtete. Ich lief einfach drauf los. Quer über den Hof. Ich frage mich bis heute, warum ich nicht zum Tor in Richtung Straße gelaufen bin. Dort, wo sicher andere Menschen wohnten, die mir hätten helfen können. Doch wahrscheinlich hatte ich instinktiv befürchtet, das Tor wäre verschlossen und ich meinem Entführer, der dicht hinter mir keuchte, hilflos ausgeliefert. So rannte ich über ein Feld. Rannte und rannte. Irgendwann waren um mich herum Bäume, und ich traute mich zurückzusehen. Aber niemand war mir gefolgt. Ich fror erbärmlich, und meine Füße waren durch den Schnee schon klitschnass. Ich stolperte mehr, als ich rennen konnte. Durch dichtes Unterholz und über weiches Laub unter dem Schnee. Irgendwann konnte ich nicht mehr laufen. In der Nähe sah ich Gebäude, in denen Licht brannte. Obwohl ich eine Heidenangst hatte, näherte ich mich ihnen, kletterte über einen Zaun und ruckelte vorsichtig an einer Scheunentür. Sie war nicht verschlossen, und ich stieg auf den Heuboden. Irgendwann muss ich eingeschlafen sein. Jedenfalls stand mit einem Mal der Bauer über mir. Ich wollte wieder weglaufen. Aber er hielt mich fest. Ich erzählte ihm, was passiert war, und seine Frau machte mir in der Küche eine heiße Milch und ein Wurstbrot. Dann kam die Polizei und nahm mich mit. Zu Hause weinte meine Mutter, und mein Vater strich mir über den Kopf. Auch ihnen erzählte ich meine Geschichte. Und sie glaubten mir. Am Anfang jedenfalls.“
Er schwieg.
„Natürlich haben sie dir geglaubt“, versicherte Andrea. Doch Maximilian schüttelte den Kopf.
„Die Polizei hat diese Zweifel gesät. Sie behaupteten nach wenigen Tagen, dass sie keine Details meiner Erzählungen bestätigen könnten. Ich hätte alles erfunden, um den Verlust meiner nagelneuen Jacke zu erklären, die ich wahrscheinlich verkauft oder schlicht verloren hatte. Ich spürte, wie sich diese Erklärung nach und nach in den Köpfen meiner Eltern, besonders meines Vaters, festsetzte. Sie stellten immer öfter Fragen in diese Richtung. Und dann …“
„Dann kam der Brief, nicht wahr?“, flüsterte Andrea. „Konntest du denn niemals deine Eltern von der Wahrheit überzeugen? Du hattest doch den Drohbrief.“
„Und ich hatte Angst. Außerdem bekam ich hohes Fieber und eine Lungenentzündung. Ich war ja mitten in der Nacht nur im Pullover und ohne Schuhe geflüchtet und wusste fast selbst nicht mehr, was Realität und was Fiebertraum gewesen war.“
„Spätestens, als du erwachsen warst, hätten sie dir geglaubt.“
„Da sind sie bei einem Fährunglück auf der Ostsee ertrunken. Wem sollte ich es noch erzählen? Und warum? Bis zu ihrem Tod hatte ich immer gehofft, dass ich irgendwann das Gewölbe finde, als Beweis.“
„Du hattest Jahre Zeit, den Hof zu suchen.“ Die Vorstellung, dass sie, dass ihre Mutter niemals in diese Lage gekommen wäre, hätte Maximilian früher zu suchen angefangen, machte sie zornig. „Du musst doch selbst befürchtet haben, dass er Menschen umbringt. Sonst hättest du die Artikel nicht gesammelt. Wer weiß, wie vielen Menschen du hättest das Leben retten können, wenn du früher zur Polizei gegangen wärst!“ Sie musste sich beherrschen, um ihn nicht anzuschreien. Sie sah vor sich ihre Mutter und ihren Anblick, als Matussek und seine Männer im letzten Moment die Glasscheibe abgenommen und ihr so den lebensnotwendigen Sauerstoff geschenkt hatten. Sie wusste, dass dieses Bild sie nie wieder loslassen würde. Wie musste es den Familien der übrigen Opfer, für die es keine Rettung gegeben hatte, jetzt ergehen?
„Ich habe selbst all die Jahre geglaubt, dass ich damals gelogen hatte. Denn ich war mir sicher: Wenn meine Mutter mir nicht glaubte, konnte es nicht stimmen. Ich wusste zwar, dass ich nicht absichtlich und bewusst gelogen hatte, hielt es aber irgendwann selbst für einen bösen Traum. Vielleicht war ich ja auf dem Weg vom Eislaufen gestürzt, bewusstlos geworden, halb erfroren und hatte mir dann das mit dem Entführer, den Kirchenfenstern und dem Keller nur eingebildet. Den Drohbrief hatte ich längst in die hinterste Ecke unter meinem Bett versteckt. Bis die Leute des Magazins auf mich zukamen – und dann du mit der Ausstellung. Ihr habt die Glasbilder zurück in die Realität geholt. Erst da habe ich mit der Suche angefangen. Ich hätte niemals auf die Idee kommen dürfen, in dem Interview die Glasbilder zu zeigen. Dadurch muss ich ihn aufgescheucht haben. Ich habe ihn erinnert, dass es mich noch gibt.“
„Aber die Artikel … Ich habe sie gesehen – wie gelblich das Papier schon war. Du musst schon vorher … Auch als deine Eltern noch lebten.“
Er nickte. „2003 las ich durch Zufall die Nachricht in der Zeitung. Der 22. Januar, der Tag, an dem der achtjährige Junge verschwand, sprang mir förmlich ins Gesicht. Ich sah die Parallelen zu meiner eigenen Geschichte. Das Internet machte es leicht, weitere, auch frühere Fälle zu finden.“ Er hielt inne und sah sie das erste Mal hier unten direkt an. „Andrea, ich weiß, was ich dir, deiner Mutter und all diesen Menschen hier angetan habe. Ich verstehe es selbst nicht, warum ich nicht früher gehandelt habe. Denn es war eigentlich so einfach. Ich kannte den Bauernhof, wo mich die Polizei abgeholt hatte. Ich habe meinen Kopf zermartert, wie lange ich vor dem Entführer davongelaufen bin. Obwohl es mir wie viele Stunden vorkam, glaube ich, dass es nicht mehr als insgesamt drei Stunden waren. Und ich bin nicht die ganze Zeit gelaufen, sondern gestolpert, hingefallen und wieder aufgestanden. Bestimmt war mein Weg auch nicht schnurgerade. Aber ich wusste, am Anfang war das Feld. Dann ein Waldstück und zum Schluss waren es wieder Felder, denn sonst hätte ich wahrscheinlich das Licht nicht sehen können. Jedenfalls habe ich auf dem Plan einen Kreis mit einem Radius von fünfzehn Kilometern markiert. Ich glaube, dass die fünfzehn Kilometer das absolut Höchste sind, was ich in dem Alter und in der Verfassung zurücklegen konnte. In dem Umkreis habe ich in der Nähe von Waldstücken gesucht. Ich verstehe es nicht. Ich hätte die Menschen alle retten können. Stattdessen habe ich diese unsäglichen Bilder gemalt, um damit fertigzuwerden.“
Die tiefe Traurigkeit in seinen Augen vertrieb ihren Zorn über seine Untätigkeit. Ja, es stimmte, dass Maximilian unter Umständen die Opfer der letzten Jahre hätte retten können, aber die Schuld dafür jetzt auf sich allein zu nehmen, hieße alle wirklich Verantwortlichen davon freizusprechen. Die unsagbar stumpfsinnigen Beamten damals. Die Eltern, die den Vertretern der Staatsmacht mehr glaubten als ihrem Jungen. Und schließlich den Mörder selbst. Ein siebenjähriger Junge. Wer wusste schon, ob es nicht unmöglich gewesen war, ohne Hilfe die Erlebnisse zu verarbeiten? Wie schnell man Schuld auf sich laden konnte, hatte sie selbst die letzten Tage erfahren müssen. Nein, sie würde nicht über ihn richten. Und wenn sie ihn jetzt so beobachtete, so tat er das bereits selbst.
In dem Kellerabschnitt links und rechts neben der Treppe standen die Glasbilder mit Decken und Tüchern vor Bruch geschützt senkrecht an der Wand. Was würde wohl aus ihnen werden, wenn die Staatsanwaltschaft sie nicht mehr brauchte? Versonnen betrachtete auch Maximilian die Glasplatten.
„Ich male sie besser als er.“
„Lass uns gehen.“
Das Sonnenlicht blendete sie, als sie aus der Scheune auf den Hof traten. Andrea ging auf Matussek zu. „Was geschieht eigentlich mit den Glasbildern, wenn das alles untersucht ist?“
Der Profiler zuckte mit den Achseln. „Sie sind erst einmal beschlagnahmt. Was weiter mit ihnen passiert, entscheidet der Richter. Entweder werden sie eingezogen. Dann erhält sie der Staat, der sie wahrscheinlich vernichten wird, da sie für ihn wertlos sind, oder sie werden nur als Beweismittel gesehen. Dann könnten sie nach Vorliegen eines rechtskräftigen Urteils wieder an den Eigentümer zurückgegeben werden.“
„An den Mörder? Obwohl der im Knast sitzen wird?“
„Keine Ahnung. Damit muss ich mich Gott sei Dank nicht beschäftigen.“
Andrea stellte sich vor, wie jemand diese Bilder verkaufen könnte. So pietätlos es schien, aber sie würden ganz das Gegenteil von wertlos sein. Es gäbe genug Menschen, die alles dafür zahlen würden, um ein Bild eines Serienmörders zu besitzen.