1. KAPITEL

Marlies von Graefen war in Eile, denn wieder einmal war es im Büro viel zu spät geworden; ausgerechnet heute, wo der seit Langem vereinbarte Arzttermin anstand. Mit dem Fahrrad hastete sie durch den Feierabendverkehr der kleinen Stadt. Eine Stunde später löste sie das Rezept in der Apotheke ein, das der Arzt ihr soeben ausgestellt hatte, und erledigte im Supermarkt gegenüber eilig ein paar Einkäufe. Dann machte sie sich auf den drei Kilometer langen Heimweg, um möglichst bald ihr Versprechen einzulösen: Ihre kleine Tochter Anna liebte Schokoladenpudding, und die kranke Oma, die auf sie aufpasste, konnte ihn im Moment nicht kochen. Marlies von Graefen hängte die Plastiktüte mit ihren Einkäufen über den Lenker und stieg auf ihr Fahrrad.

Er fuhr dicht hinter ihr. Seine Augen verfolgten die Bewegungen der Einkaufstüte, die im Rhythmus ihrer Fußtritte an den Vorderreifen schlug. Die Frau war höchstens dreißig, und sie passte hierher. Anschmiegsam, wie die gepflegten Vorgärten der Einfamilienhäuser. Ihre langen braunen Locken wehten im Fahrtwind; sie hatte es offenbar eilig. Seit Tagen schon war er die Gegend abgefahren und wusste: Dort hinten begann der Wald, an dem sie vorbeimusste.

Er ließ das Lenkrad los, hielt sich die Ohren zu und hörte sein Blut rauschen. Sein Herz hämmerte übereifrig. Rasch griff er wieder zum Lenkrad. Auch seine Gedanken beschleunigten sich, und er sah die Frau vor sich in seinem Keller an der Wand hängen. Dieses Bild jagte noch mehr Adrenalin durch seine Blutbahnen. Dabei gab es durchaus Tage, an denen sein Kopf bilderlos war. Aber das waren wenige, und dieser gehörte gewiss nicht dazu, denn das Monster hatte längst seine Arbeit begonnen. Es fraß ihn auf, bis nichts mehr von ihm übrig blieb als beherrschtes Planen, um ans Ziel zu kommen: intelligent – der Frau und allen anderen weit überlegen.

Wenn sie nicht auf ihn aufmerksam werden sollte, musste er jetzt vorbeifahren. Nicht zu langsam, aber auch nicht zu schnell. Hinter der Kurve hielt er am Straßenrand und blickte in den Rückspiegel. Er schaltete die Scheinwerfer aus, rutschte tiefer in den Sitz und verstellte den elektrischen Seitenspiegel so, dass er sie sehen konnte, sobald sie um die Kurve bog. Sie würde denken, einer, der vielleicht dringend pinkeln musste.

Alles in ihm verlangte nach Bewegung, aber er beherrschte sich. Eine mühsam antrainierte Fähigkeit. Endlich tauchte ihr Gesicht auf, ein heller Fleck in der Dämmerung, und er spannte die Muskeln an. Seine linke Hand lag auf dem Türgriff, in seiner rechten hielt er ein kleines Stück Leinen. Längst hatte er die dünnen OP-Handschuhe angezogen.

Nur noch wenige Meter. Eine Hitze stieg in ihm auf, die sich so angenehm anfühlte wie das letzte Ausfiebern nach einer Grippe, wenn man schon wusste, dass man das Schlimmste überstanden hat.

Ganz nah war sie jetzt. Ihr Kopf drehte sich zu ihm. Machte sie sich Gedanken, ob jemand im Wagen saß? Als sie direkt neben dem Auto fuhr, drückte er die Tür mit voller Kraft auf. Das Fahrrad kippte zur Seite. Mit ihm die Frau. Sie stürzte auf den Asphalt, lag halb unter dem Fahrrad. Die Tüte mit den Einkäufen platzte auf, und ein Milchkarton, Äpfel und Joghurtbecher verteilten sich auf dem Boden. Die Frau schrie auf und hielt sich ihren Ellenbogen. Sie jammerte. Was er sich einfallen ließe und wie er so rücksichtslos sein könne. Aus vor Zorn funkelnden Augen sah sie ihn an. Sie glaubte wohl, er käme, um ihr aufzuhelfen und sich zu entschuldigen. Sie musste doch sehen, wie er das Leinentuch mit dem Chloroform tränkte, und würde nun auch wissen, dass er nicht der nette, leicht verträumte Nachbar von nebenan war. Es würde der Tag kommen, an dem das nicht nur sie, sondern alle wussten.

Ehe sie sich von ihrem Fahrrad befreien und aufrappeln konnte, war er mit einem Satz bei ihr. Drückte ihren Oberkörper auf den Asphalt und presste ihr das Tuch auf Mund und Nase. Das Chloroform wirkte schnell, und ihr Kopf sank zur Seite.

Er sah sich vorsorglich um. Alles still. Inzwischen war es vollständig dunkel. Er zerrte den Körper der Frau hinter die rechte Fahrzeugseite, wo sie vor den Blicken Vorbeifahrender geschützt war. Ihr Fahrrad trug er in den Wald hinein. Drei, vier Baumreihen. Das reichte, damit es am nächsten Morgen von der Straße her nicht in der Sonne aufblitzen würde. Er rannte zurück; außer Atem stand er wieder auf der Straße.

Die Plastiktüte hatte ein großes Loch. Sie war unbrauchbar. Er fluchte und war kurz davor, auf den Milchkarton daneben zu springen und darauf herumzutrampeln. Warum hatte sie diesen blöden Kram gekauft? Doch dann gab er sich einen Ruck und sammelte die Einkäufe vom Asphalt. Ein wenig Puddingpulver blieb zurück, aber bis zum nächsten Tag würde der Wind es fortgeweht haben.