24. KAPITEL

„Ey, du brauchst das. Du musst das verarbeiten. Kannst dich nicht hier vergraben.“ Mit diesen Worten hatte Alisha ihn jeden Tag des Prozesses genervt. Aber er würde nur dieses eine Mal den Gerichtssaal betreten. Und nur, weil er es musste, denn am heutigen Tag war er als Zeuge geladen. Wie oft hatte er sich diese Situation ausgemalt: Er könne seine Geschichte erzählen, und alle würden ihm endlich glauben. Seine Eltern, seine Oma, seine Lehrer. Jetzt graute ihm davor. Er ließ den Blick über die Zuschauerbänke schweifen. Aber außer Andrea, Oleg und Alisha kannte er niemanden. Trotzdem starrten ihn alle an, als sei er die Reinkarnation des verlorenen Glücks. Der Einzige, der außer Giorgia Wahrig-Bertani das Monster überlebt hatte. Er nahm nach Aufforderung des Vorsitzenden Richters am Zeugentisch Platz und starrte ausschließlich nach vorn zu den Richtern und Schöffen, fünf an der Zahl, die nebeneinander aufgereiht hinter einer Holzbarriere auf ihn warteten.

Während seiner Aussage stach ihm hin und wieder ein Schluchzen oder verhaltenes Stöhnen aus den Zuschauerreihen hinter ihm direkt ins Gehirn. Warum taten sich die Angehörigen das an? „Weil die Wahrheit besser ist, als niemals den Grund für ihr Verschwinden zu wissen, niemals zu wissen, was passiert ist oder ob die vermisste Person nicht doch noch irgendwo lebt. Endlich abzuschließen mit dieser Ungewissheit. Und genau das musst du auch tun“, hatten Andrea und Alisha ihm immer wieder erklärt. Das mochte ja stimmen, aber allein den vorgetragenen Fakten zuzuhören, war zu schrecklich. Nur zwei Jahre nach dem tragischen Tod seiner Familie durch das Einbrechen beim Schlittschuhlaufen hatte der Mörder, dessen Namen, Reinhard Stoll, nun die ganze Welt kannte, mit dem Morden begonnen. Die Geschichten seiner Gräueltaten, die er in den folgenden neunundzwanzig Jahren den Menschen angetan hatte, die in seinem Gewölbe im wahrsten Sinne des Wortes ihr Leben ausgehaucht hatten, füllten nun Hunderte von Aktenordnern. Neun Frauen im Alter um die sechzig, elf junge Frauen von ungefähr dreißig Jahren und neun Jungen im Alter zwischen acht und elf Jahren. Allein siebzehn Opfer wurden am Jahrestag des Familienunglücks, dem 22. Januar, hinter dem Glas erstickt. So wie im Jahr 1995, dem zehnten Jahrestag des Familiendramas, wollte Stoll auch das 2014 mit drei Bildern abschließen. Als endgültigen Abschluss seines Werkes, wie er behauptete; weil seine körperlichen Kräfte nachließen, sagten die Gutachter.

Es schien Maximilian ganz und gar unerträglich, mit diesem Monster in einem Raum zu sitzen oder ihn sogar anzusehen. Er weigerte sich jedenfalls, sein Gesicht nach links zu drehen, wo der sechzigjährige Mann neben seinem Verteidiger sitzen musste. Aus der Presse wusste er, dass Reinhard Stoll keine Reue zeigte. Im Gegenteil, die Aufmerksamkeit, die ihm durch den Prozess, besonders vonseiten der Presse, zuteil wurde, hatte ihn noch weiter in seine eigene Welt gedrängt. Dort, wo er besser als Gott sein Handwerk verstand. Dort, wo die Menschen in den Gurten nur Objekte waren, um sein großes Werk zu vollenden, Abbilder seiner verstorbenen Ehefrau, Mutter und seines Sohnes. Er hatte jeden restlichen Bezug zur Realität verloren, der vielleicht noch vorhanden gewesen war, solange er nach außen hin ein normales Leben zeigen musste.

Maximilian brachte seine Zeugenaussage hinter sich und konnte anschließend nicht einmal Alisha an seiner Seite aushalten. Er rannte durch das Blitzlichtgewitter der Presse vor der Tür des Versammlungssaales, wunderte sich, dass sie ihn nicht lynchten, nun, nachdem alle Welt gehört hatte, welche Schuld er durch sein jahrelanges Schweigen auf sich geladen hatte. Er rannte aus dem Gerichtsgebäude und irrte ziellos durch die Straßen. Er würde sich umbringen, so viel war gewiss. Dabei hatte er sich vor Kurzem noch mit jeder Faser seiner Seele danach gesehnt, überhaupt endlich mit dem Leben zu beginnen.

Völlig erschöpft kam er am Abend in der Reichenberger Straße an, zog bereits den Haustürschlüssel aus der Hosentasche und stoppte dann. Er konnte seine Bilder jetzt nicht ertragen. Er wusste nicht einmal, ob er jemals wieder würde malen können. Alisha trat auf den Balkon. „Warte, ich komme raus.“

Einen Moment später trat sie aus der Haustür, hakte ihn unter und sagte nur: „Wir gehen zu mir.“

Willenlos ließ er sich mitziehen.

„Ma… Clemens“, begann Andrea am Telefon. Er lächelte. Auch Andrea musste sich offenbar erst daran gewöhnen, dass er nun wieder Clemens Borchert hieß. Seit alle Welt seine Geschichte kannte und der Grund für seine Namensänderung nun endlich nach wochenlangem Prozess lebenslang hinter Schloss und Riegel saß, hatte er seinen richtigen Namen wieder angenommen. Die Gutachter vor Gericht hatten Reinhard Stoll entgegen den Erwartungen nicht für vollständig unzurechnungsfähig erkannt. Und sie schienen recht zu haben. Denn nun war er mit einer Veröffentlichung in der Zeitung überraschend in die Realität zurückgekehrt. Per Zeitungsinserat am 21. März 2015 wünschte er Clemens zu sprechen und ließ verlauten, er habe im Gefängnis eine notarielle Schenkung beurkunden lassen, mit der er Clemens seine Glasbilder geschenkt habe, und bat nun um Annahme der Schenkung.

„Lass mal alle ethischen Vorbehalte weg“, fuhr Andrea fort. „Wir haben alle so viel durchmachen müssen – und besonders meine Mutter. Warum sollten wir jetzt nicht davon profitieren? Damals haben wir uns deinen und meinen Durchbruch gewünscht: durch eine Ausstellung. Nun würden wir durch eine Ausstellung mit dir sogar in die Geschichte eingehen.“

Er glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Im letzten Jahr und besonders während des Prozesses waren Andrea und auch Oleg zu wirklich guten Freunden geworden, und nun schlug diese Freundin allen Ernstes vor, er solle die Schenkung annehmen und damit eine Ausstellung machen? Er hatte die Welt noch nie verstanden und ab diesem Moment erst recht nicht mehr.

„Soll ich vielleicht den Bildern auch noch Namen geben? Die Namen der Menschen, die hinter ihnen gestorben sind? Du spinnst ja total. Dieses Schwein! Was bildet er sich ein, sich noch einmal in mein Leben zu drängen? Der kann sich seine stümperhaften Bilder sonst wohin stecken. Ich denke gar nicht daran.“ Clemens hätte dem Notar, der die Schenkung im Gefängnis beurkundet hatte, am liebsten den Hals umgedreht. Rechtsstaat hin oder her. Wie konnte sich jemand für die Wünsche eines Serienmörders überhaupt einsetzen?

„Ich meine ja auch keine Ausstellung mit seinen Bildern, sondern mit deinen, Clemens. Was denkst du denn von mir?“

„Das verstehe ich nicht. Was hat das mit der Schenkung zu tun?“

„Du weißt doch ganz genau, wie die Menschen ticken. Wenn du jetzt die Schenkung annimmst – du musst es nicht einmal bestätigen, nur eben auch nicht dementieren –, wird jeder in die Ausstellung kommen. In der Hoffnung, dass er dort auch die Bilder des Mörders sehen kann.“

„Ich dachte, du seiest Galeristin geworden, weil dir Kunst alles bedeutet. Ich wusste nicht, dass dich auch nur die Geldgier treibt.“

Am anderen Ende der Leitung schwieg Andrea.

„Ich muss jetzt los. Sorry, aber lass uns lieber ein anderes Mal telefonieren“, beendete er das Gespräch.

Alisha sah ihn fragend an.

„Lass uns später darüber reden“, bat er. „Wir haben noch genug mit der Renovierung zu tun.“ Seit dem Tag seiner Zeugenaussage vor Gericht hatte er seine Wohnung nur noch ein einziges Mal betreten. In Gegenwart Alishas hatte er seine persönlichen Dinge gepackt und wohnte seitdem bei ihr im WG-Zimmer. Auch gemalt hatte er nicht mehr. Nun hatten sie eine bezahlbare Dreieinhalbzimmerwohnung zum Kauf gefunden, die Clemens mit seiner noch immer unangetasteten Erbschaft bezahlte. In einer Woche würden sie gemeinsam dort einziehen. Und wer wusste es? Vielleicht könnte er in dem lichtdurchfluteten halben Zimmer tatsächlich wieder zu malen beginnen. Leinwandbilder nahmen bei Weitem weniger Platz ein als mannshohe Glasbilder.

Clemens schlief schlecht in dieser Nacht. Immer wieder wachte er aus Träumen auf, in denen er sich abwechselnd als vergötterter Künstler und als eiskalt berechnender Galerist sah. Beide Male in einer großzügigen Villa am Wannsee, einen Fuhrpark vor dem Haus und mehrere Angestellte im Inneren. Alisha hatte ihn verlassen. Die vielen Fenster der Villa waren ihr zu bunt gewesen. Sie bestanden aus Reinhard Stolls Glasbildern. Auch er lief in den Träumen nur mit einer dunklen Sonnenbrille durch das Haus. Wie Rumpelstilzchen hüpfte er in einem großen Wohnzimmer, das eher einem Ballsaal glich, und rief immer und immer wieder: „Ich bin reich! Ich bin berühmt! Ich bin reich!“ Die Wände der Villa waren bedeckt mit seinen eigenen Leinwandbildern und draußen auf der Straße standen Wachen mit scharfer Munition, um die Meute zurückzuhalten, die alles tun würde, um eines seiner Bilder zu ergattern.

Clemens war schlecht von sich selbst. Wie tief war er in diesem Traum gesunken? Er stand im Bad und gurgelte mit Mundwasser, als könne er diese erbärmliche Traumfigur Clemens Borchert herunterspülen. Nein. Niemals. Auch nicht dir zuliebe, Andrea.

Als Alisha aufstand, hatte er sich einigermaßen beruhigt. Er sah sie liebevoll an. Sie würden in wenigen Monaten heiraten, und sie wollte eines Tages an der Uni studieren. Sie brauchten Geld. Würde sein zweifelhafter Ruhm, den er als einziges überlebendes Opfer des Serienmörders Stoll erworben hatte, nicht ausreichen, seine anderen Bilder zu verkaufen und sich damit einen Namen zu machen? Brauchte es dafür wirklich die sensationsgeilen Käufer seiner Glasplatten?

„Anna schläft noch wie ein Murmeltier“, sagte Alisha und putzte sich ebenfalls die Zähne.

„Das ist ein gutes Zeichen“, antwortete er.

Das Telefon klingelte und zeigte auf dem Display Andreas Nummer. Er lächelte. War ja klar, dass ihr der Streit von gestern Abend keine Ruhe gelassen hatte. Ihm ja auch nicht.

„Clemens. Du hast das gestern wirklich völlig falsch verstanden.“

„Das ist mir inzwischen auch klar. Ich weiß noch nicht, was ich mit dieser verdammten Schenkung tun werde. Aber auf jeden Fall werde ich ins Gefängnis gehen und mit Stoll sprechen.“

„Willst du dir das wirklich antun? Für die Annahme der Schenkung brauchst du das nicht.“

„Ich muss es ihm einmal ins Gesicht sagen, was er mir angetan hat, auch, wenn ich überlebt habe. Ihr habt die ganze Zeit recht gehabt. Ich kann nicht vor ihm davonlaufen. Ich muss ihm noch einmal die Stirn bieten.“

Im Schlafzimmer lachten Alisha und Anna miteinander.

„Ist Anna wieder bei dir?“, fragte Andrea.

„Ja, sie war sogar über Nacht hier.“

„Clemens. Übertreib es nicht mit deinem Wiedergutmachungsbedürfnis“, warnte sie.

„Es ist das Einzige, das ich tun kann, um meinen Achttausender-Schuldberg um einen einzigen Meter abzubauen.“

Kurz nach Aufdeckung der Mordserie war die kranke Mutter des letzten Opfers, die alleinerziehende Mutter der vierjährigen Anna, Marlies von Graefen, gestorben, und die kleine Anna war in ein Heim gekommen. Seit der Prozess die näheren Umstände bekannt gemacht hatte, waren Clemens und Alisha in jeder freien Minute dort und kümmerten sich um das Mädchen.

„Eines Tages wirst du Anna sagen müssen, welche Rolle du gespielt hast. Glaubst du, sie wird verstehen, dass sie für dich nichts weiter als eine Möglichkeit deiner Schuldbewältigung war? Dass womöglich ihre Mutter noch leben könnte, wenn du früher …?“, hatte Andrea ihn gefragt, als die Häufigkeit seiner Besuche im Waisenhaus zunahm.

„Sie ist längst viel mehr als das. Alisha und ich werden sie eines Tages adoptieren. Mach dir keine Sorgen. Ich gehe wieder zu einer Therapie. Dieses Mal eine Therapeutin. Und im Gegensatz zu meinem damaligen Therapeuten ist sie gut. Kommst du mit ins Gefängnis?“

„Ich fahr dich hin. Rein will ich auf gar keinen Fall.“

„Gut. Dann sage ich seinem Anwalt Bescheid wegen der Besuchserlaubnis.“

„Hoffentlich schlägst du ihm jetzt gehörig in die Fresse“, rief ihm Alisha hinterher, als Clemens Andrea und sie auf dem Parkplatz der Haftanstalt Brandenburg zurückließ und in Richtung Eingang ging. Er konnte nicht einmal über ihren herzhaften Rat lachen, so erbärmlich fühlte er sich. Sein Puls raste, und seine Hände waren eiskalt. Er wurde in einen kahlen Raum geführt, in dem nur ein Tisch und mehrere Stühle standen. Er setzte sich auf einen der Tür entgegengesetzten Stuhl, schlug die Beine übereinander und probierte, wie er eine möglichst überlegene Haltung präsentieren konnte, sobald Reinhard Stoll hereingeführt wurde. Es war albern. Er stand wieder auf und ging hin und her, was in dem kleinen Raum nur wenige Schritte bedeutete. Ebenfalls nicht gerade die Verfassung, in der er seinem Fast-Mörder gegenübertreten wollte. Er setzte sich wieder hin, zog den Stuhl dicht an den Tisch und legte die Arme verschränkt darauf. So blickte er Reinhard Stoll entgegen, der in Anstaltskleidung und Handschellen den Raum betrat. Er war kaum größer als Clemens und schlank. Seit dem Prozessbeginn hatte er sich eine Glatze rasiert, was seinen länglichen Kopf noch schmaler machte. Ein harmloser Gefangener. Man durfte ihm nur nicht ins Gesicht sehen. Unweigerlich erinnerte er an Kevin Spacey in dem Thriller „Sieben“, den sich Clemens eine Zeit lang wieder und wieder angesehen hatte, ansehen musste.

Als sich Stoll ihm gegenübersetzte, rückte Clemens unwillkürlich mit seinem Stuhl etwas ab, behielt die Arme verschränkt vor seinem Körper.

„Ich werde die Schenkung nicht annehmen.“

„Doch, das wirst du. Denn von jetzt an musst du dich an mir messen lassen. Und das wird dich immer ärgern, bis du sie in deinen Händen halten kannst.“

„Wieder eines Ihrer Fehlurteile.“

„Es wird niemals etwas Vergleichbares geben. Egal, wie gut du bist. Es sind die Todesbilder von Paulinenaue, die die Leute von dir sehen wollen. Nichts anderes.“

„Diese Leute wollen keinen Künstler sehen. Kein Kunstwerk. Nicht Ihre verdammten Farben und nicht Ihre verdammten Kompositionen. Diese Menschen sind einfach nur sensationsgeil.“

„Deine Kunden werden genau das sein. Egal, was du malst. Und hinter deinen Bildern werden sie mich sehen. Ihre Bewunderung wird mir gelten. Mir und meinen Taten.“

„Gräueltaten.“

„Die die Menschen selbst gern täten. Deshalb achten sie mich. Für das, was ich für sie getan habe.“

„So ein Irrsinn! Sie haben das alles nur für sich selbst getan. Für Ihr kleines erbärmliches Ego. Für den hässlichen kleinen Mann, der in Ihnen steckt.“

„Gut, dass mein Vater dich nicht hören kann.“

„Ich bedauere, dass es in Deutschland keine Todesstrafe mehr gibt.“

„Du bist doch davongekommen.“

„Sie haben mir meine Kindheit gestohlen. Und noch viel mehr.“

„Du bist noch immer ein Kind. Sonst würdest du die Bilder nehmen und mir dankbar sein.“

„Wie lange hat es gedauert? Der Todeskampf dieser vielen armen Menschen. Haben Sie es ihnen vorher gesagt? Bevor Sie das Glas auf sie gelegt und sie damit langsam erstickt haben? Sie hätten ihnen mehr Tabletten geben können. Das hätte wenigstens einen winzigen Rest von Menschlichkeit in Ihnen gezeigt. Was war mit den Kindern? Hatten Sie wenigstens mit denen ein Erbarmen?“

„Du sprichst wie der Anstaltspfarrer.“

„Ich werde sie auf keinen Fall nehmen. Stecken Sie sich Ihre Bilder sonst wohin.“

„Wie du weißt, ist die Pressemeldung längst herausgegeben. Die Welt da draußen weiß es schon und wird dich überrennen.“

„Lässt man so etwas hier wirklich zu? Ein Serienmörder darf Hof halten und Pressemeldungen rausgeben? Nicht zu fassen.“

„Möchtest du zurück in die Barbarei?“

„Barbarei. Das sagt der Richtige!“

Clemens stand auf. Er wollte seine innere Unruhe durch die Bewegung seiner Beine loswerden. Aber es waren nur wenige Schritte, bis eine weiß getünchte Wand ihn zur Umkehr zwang. Dreimal bewegte er sich von Wand zu Wand. Stoll schwieg, aber seine Augen blieben an Clemens haften, der die herausfordernden Blicke kaum noch ertragen konnte. Er war im Begriff, an die Tür zu klopfen.

„Warum willst du schon gehen? Ich wollte dir noch so viele Tipps geben.“

„Halt deine Schnauze.“

„Alle Kinder haben geschlafen. Wie mein Marc damals.“

„Wer ist Marc? Auch eines deiner vielen Opfer?“

Stoll schwieg. Etwas in seinem Blick ließ Clemens zurückkehren und sich wieder setzen.

„Ich bin die Bilder in meinem Kopf nicht wieder losgeworden. Ich musste sie malen. Immer wieder. Nur so habe ich Marc behalten können. Und du warst der Auserkorene, der einzige Junge, den ich für den Boden vorgesehen hatte. Die davor waren es nicht wert. Aber du, du sahst genauso aus wie Marc.“

Er machte eine Pause, und Clemens wartete. Wollte hören, was das kranke Hirn zu diesen Bildern gebracht hatte. Bilder, die um so vieles besser waren, als seine eigenen. Auch, wenn er ständig das Gegenteil äußerte. Musste man verrückt sein, um so malen zu können?

„Ich habe sie retten wollen. Wirklich. Alle drei. Aber ich war selbst so entkräftet, als ich es endlich geschafft hatte, zurück zum Einbruchsloch zu schwimmen und mich aus dem Wasser hochzuziehen. Sie trieben längst weiter. Ich bin, so schnell ich konnte, hinterhergerobbt. Vorsichtig, damit das Eis nicht wieder brach. Dann sah ich sie. Meine nasse Kleidung, die Tropfen aus meinen Haaren, machten das Eis glasklar.“

Wieder schwieg er. Erst als Clemens aufstand, unschlüssig, ob er jetzt gehen wollte oder nicht, sprach er wieder.

„Es war geschickt von dir, den Namen zu ändern.“

„Das habe ich erst als Erwachsener.“

„Wenn ich gewusst hätte, dass du hinter Maximilian Ross steckst, hätte ich doch niemals versucht, die Ausstellung zu stoppen. Ich habe mir quasi mein eigenes Grab geschaufelt.“

„Schade, dass Sie es nicht wirklich getan haben, ein eigenes Grab. Ich wäre gekommen und hätte eigenhändig die Platte aufgelegt und genüsslich zugesehen, wie die Atemluft immer weniger wird.“

„Ich sage ja: Taten, die die Menschen selbst gern täten. Hast du dir nicht manches Mal gewünscht, deine Models würden tatsächlich die Panik so empfinden, wie du es ihnen als Aufgabe gestellt hast? Dass es kein Job ist, wo das Model nur spielt, sondern Realität? Und du dadurch ein viel besserer Maler?“

„Sie haben mich durch die Entführung und den Drohbrief doch erst dazu gebracht, überhaupt dieses Motiv zu malen. Ich war sieben Jahre alt! Es ist krank. Und es macht keinen Sinn, mit einem Irren zu sprechen.“ Clemens stolperte über ein Tischbein, fing sich wieder und hastete zur Tür. Durch das kleine Fenster sah er das Gesicht des Beamten, der sofort öffnete.

„Alles in Ordnung?“

Clemens war nicht in der Lage zu antworten. Er wollte raus. Weg von diesem Mann, der die dunkelsten Seiten seiner Seele ansprach.