12. KAPITEL

Die Weckmelodie ihres Handys drang in ihr Bewusstsein, und trotz der nur knapp vier Stunden Schlaf, die hinter ihr lagen, war Andrea sogleich wach. Mühsam sammelte sie in ihrem Gedächtnis die Einzelheiten des gestrigen Abends und der letzten Nacht, bis die Erinnerungsfetzen ein vollständiges Bild ergaben. Sie nahm eine Wasserflasche und trank sie im Gehen zur Hälfte aus. Über die Tatsache, dass sie ausgerechnet im Beisein eines Mannes wie Oleg abgestürzt war, würde sie später nachdenken. Jetzt ging es um ihren jungen Hoffnungsträger und dass sie schnellstmöglich zur Polizei ging, denn es war keine weitere Nachricht von Maximilian eingetroffen. Im Stehen schrieb sie:

Lieber Maximilian,

ich bin heute den ganzen Tag in der Galerie. Rufen Sie mich an, wann immer Sie Zeit haben, oder besser noch: Kommen Sie einfach vorbei. Dann reden wir über alles.

Liebe Grüße

Andrea

Sie drückte auf Senden und ging in die Küche. Unruhig lief sie auf und ab, bis der Kaffee durchgelaufen war. Mit der Tasse in der Hand wollte sie zurück zum MacBook, als es an der Wohnungstür klingelte. Sie öffnete, und ein Junge von ungefähr vierzehn Jahren fragte, ob sie Andrea Wahrig sei. Sie nickte. „Was willst du?“

„Ich soll Ihnen den hier geben.“ Der Junge zog aus seinem Rucksack einen Briefumschlag hervor und hielt ihn ihr entgegen. Mit zitternder Hand nahm sie ihn an. Bitte nicht schon wieder. „Für Andrea“, stand in dünnem roten Filzstift geschrieben. Es war kein zusammengefalteter Bogen mit ausgeschnittenen Wörtern, sondern eine Grußkarte, die sie herauszog, deren Vorderseite aus einer Seidenmalerei bestand. Ein rosafarbener Rosenstrauch, ähnlich wie die Syltrosen auf dem ersten Bild, das Oleg bei ihr gekauft hatte. Warte noch mit der Polizei. Ich habe einen Plan. Komme nachher in die Galerie. Dein Oleg, las sie und freute sich, dass die Nachricht nicht vom Erpresser kam. Trotzdem erschrak sie. Sie hatte Oleg bisher nicht ihre Privatanschrift genannt. Sie hatten sich immer nur in der Galerie gesehen. Sie kam nicht weiter zum Nachdenken, woher Oleg die Adresse wusste, die auch im Telefonbuch nicht zu finden war, denn Skype meldete, dass Martin gerade online ging. Sie musste sich zusammenreißen, als Sekunden später der Anrufton kam, um ihn mit einem fröhlich klingenden „Guten Morgen“ zu begrüßen.

„Du bist ja schwer zu erreichen. Warum machst du dein Video nicht an?“

„Weiß nicht, falsche Taste? Ich hab verschlafen. Bin noch nicht einmal angezogen.“

„Aber sonst alles gut? Guck mal, ich schick dir die ersten Fotos. Singapur ist eine wirklich beeindruckende Stadt.“ Andrea sah auf dem Bildschirm, wie Martin ihr eine Zipdatei übermittelte. Sein Videobild flackerte etwas, aber sie konnte deutlich das große Fenster hinter seinem Schreibtisch sehen und den grandiosen Ausblick auf das Häusermeer dahinter ahnen.

„Ich treff mich gleich mit einem Kollegen, der so nett ist, mir noch etwas mehr von der Stadt zu zeigen. Deshalb wollte ich mich unbedingt vorher mal melden.“

„Ja, alles gut. Aber du, sei nicht böse. Ich muss in die Galerie. Bin schon viel zu spät.“

„Es ist Sonntag. Und die Fotos …“

„Ja, lass die Verbindung laufen. Ich geh inzwischen ins Bad, okay. Bis gleich. Küsschen.“

Auf der anderen Seite des Globusses schwieg Martin.

Sollte sie die Gelegenheit ergreifen und ihm von den ungeheuerlichen Entwicklungen der letzten Tage berichten? Sie sah, wie Martin ihr winkte und mit dem Mund einen Kuss imitierte. Nein. Ihre Beziehung hatte sich gewandelt, und sie würde allein mit ihrem Leben klarkommen. So wie er dort drüben in Singapur ohne sie auskommen musste und es ja offensichtlich prima schaffte.

Als sie aus dem Bad kam, war der Upload der Fotodatei abgeschlossen und das Videobild schwarz. Sie würde die Datei in der Galerie entpacken und ansehen. Aber erst nachdem sie wusste, was Oleg für einen Plan hatte.

Die Türglocke kündigte seinen Besuch an. Sie ging ihm gespannt entgegen, obwohl es ihr peinlich war, ihm nach ihrem Absturz gestern Abend in die Augen zu sehen.

„Ich brauche kein Kindermädchen mehr. Ich hab es heute Morgen tatsächlich geschafft, mich selbst anzuziehen.“

„Guten Morgen, schöne Andrea. Zu wenig Schlaf, nicht wahr?“

„Musst du nicht arbeiten? Die Benzinkosten für deinen Porsche sind hoch.“ Sie lief zwischen Büro und Ausstellungsraum hin und her. Rückte im Vorbeigehen Dinge zurecht, nahm ein feuchtes Tuch und wischte Fensterbänke und Türgriffe ab. „Was ist das für ein Plan? Und woher hast du eigentlich meine Privatadresse?“ Wurde er etwa verlegen?

Er ignorierte ihre zweite Frage und antwortete: „Ich finde, wir sollten uns einmal in der Wohnung deines Malers umsehen. Mit Sicherheit werden wir dort etwas finden, was uns weiterhilft. Entweder uns etwas erklären kann, was er mit deiner Mutter zu tun hat, oder einen Hinweis gibt, wo er sich jetzt aufhalten könnte.“

„Einbrechen? Ist nicht Ihr … dein Ernst?“ Vor Schreck hatte sie vergessen, dass Oleg und sie sich seit gestern Abend duzten.

„Keine Sorge. Niemand wird etwas merken. Aber es ist besser, so viel wie möglich über deinen Maximilian zu erfahren. Und das wollte ich noch erledigen, bevor du zur Polizei gehst. Ich möchte der ungern dabei in die Hände laufen.“

„Ach. Wir könnten doch sagen: Wissen Sie, wenn Sie weitere Informationen haben möchten – bitte sehr. Das haben wir in der Wohnung des Künstlers gefunden. Wir sind dort nämlich eingebrochen.“ Sie verzog verächtlich den Mund.

„Also was jetzt? Bist du dabei, oder soll ich allein?“

Als sie Oleg das erste Mal gesehen hatte, hatte sie ihn als eine super Vorlage für die Hauptfigur eines Mafiakrimis empfunden. Doch dann hatte er sich als integrer und sympathischer Geschäftsmann gezeigt. Würde ein solcher ihr einen Einbruch in eine private Wohnung vorschlagen? War ihr erster Eindruck doch richtig gewesen? Doch der Gedanke, mehr zu erfahren und endlich aus ihren momentanen Qualen erlöst zu werden, verursachte ein angenehmes Kribbeln. Hatte sie eben gerade genickt? Es schien ihr, als würden ihre Nerven ihr andauernd einen Streich spielen.

Morgen schon würde die Eröffnung der Ausstellung Rüdiger Hauswald sein. Es war noch so viel zu tun. Heute Abend würde der Künstler seine Werke vorbeibringen, und gemeinsam würden sie sie ins rechte Licht setzen. Und vorher würde sie mal eben kurz einbrechen, in die Wohnung des Künstlers, über den sich in nur drei Wochen eigentlich die Presse schon hermachen sollte. Ihr wurde schlecht bei der Vorstellung, dass ihr Ruf als Galeristin ein für alle Mal zerstört sein würde. Aber sie musste in den nächsten Tagen eine Entscheidung treffen. Absage der Vernissage wegen überraschender Krankheit des Künstlers – wer wusste, wie Maximilian Ross auf diese Lüge reagieren würde? – oder russisches Roulette spielen und hoffen, den vertragsbrüchigen Künstler doch noch vor Ablauf des Ultimatums zu finden und zu klären, ob die schrecklichen Briefe von ihm kamen. Der Gedanke, Maximilian wäre möglicherweise viel verrückter als angenommen und hätte die Drohbriefe selbst geschrieben, beruhigte sie merkwürdigerweise. Alles andere war so schrecklich, dass sie sich im Moment weigerte, weiter über das Thema nachzudenken.

„In einer Stunde vor der Wohnung?“, fragte Oleg und erhob sich. Wieder nickte sie, obwohl sie wusste: In diesem Moment betrat sie eine Eisfläche, dünn genug, um jederzeit zu brechen und sie in die eiskalten Fluten darunter zu entlassen. Wie hätte sie diese Entscheidung auch noch mit Worten bekräftigen können? Bei allen Zweifeln blieb ihr nur, auf Oleg zu vertrauen und nachher zur Polizei zu gehen.

„Das ist Michael“, stellte Oleg seinen Begleiter vor. Der Mann ohne Nachnamen schien ein Jahrzehnt jünger als Oleg zu sein. Sein hellgrauer Anzug und die aschblonden sauber gescheitelten Haare passten gut zur Mittelmäßigkeit von Attraktivität und Vertrauenswürdigkeit, die er ausstrahlte.

Sie liefen gemeinsam die Reichenberger Straße hinunter, Michael wenige Schritte hinter Oleg, und er schien das gewohnt zu sein. Am liebsten hätte Andrea die ganze Sache abgeblasen.

„Welche Nummer?“, fragte Oleg.

„Diese Wohnung ist es.“ Andrea zeigte auf Maximilians Balkon im ersten Stock. Die Jalousien waren noch immer vollständig heruntergelassen.

Auch die Haustür war verschlossen. Andrea betätigte die Klingelknöpfe des obersten Stockwerks.

„Ja bitte?“

„Fleurop. Ich habe eine Lieferung für Frau Zimmer im ersten OG. Leider ist sie nicht da. Ich würde ihr den Strauß gerne vor die Tür legen. Machen Sie mir kurz auf?“, bat Andrea.

Einige unverständlich gemurmelte Worte und das Summen des Türöffners waren die Antwort. Leise schlichen sie die Treppe bis zur ersten Etage hoch und horchten an Maximilians Tür. Sollte er wirklich in der Wohnung sein, verriet er sich jedenfalls nicht durch irgendwelche Geräusche. Sie drückte zweimal kurz hintereinander den Klingelknopf. Nach einer Weile ohne jede Reaktion hinter der Tür klingelte sie erneut, dieses Mal lang anhaltend. Doch es blieb still.

„Na, dann wollen wir mal“, flüsterte Oleg, seinen Mund viel zu dicht an ihren Haaren. Sie fuhr mit beiden Händen durch ihre dichten Locken und schüttelte sie kräftig nach hinten.

Michael hielt in der Hand etwas, das aussah wie zwei einfache Metallhaken. Er machte sich damit am Türschloss zu schaffen, und Andrea hatte gerade einmal Zeit, sich vollständig an eine kürzlich gesehene Filmszene zu erinnern, als die Wohnungstür bereits offen stand.

„Ich liebe Altbautüren“, sagte Michael und ließ ihnen den Vortritt. Ganz wohl war Andrea nicht, aber schließlich standen sie schon in der Diele, die Tür hinter ihr war wieder geschlossen und das Eindringen in Maximilians Privatsphäre somit bereits geschehen. Was spielte es also noch für eine Rolle, wie lange sie sich hier aufhielten? Die Sicherheit ihrer Mutter war wichtiger.

Ihr Aufpasser Michael hatte längst die beiden Zimmer, Küche und Bad kontrolliert. Doch Maximilian hatte sich natürlich nicht, Telefon und Wohnungsklingel beharrlich ignorierend, in seiner Wohnung verschanzt. Als würden sie täglich nichts anderes tun, machten sich beide Männer daran, Schubläden aufzuziehen, Schranktüren zu öffnen und Abdecklaken im Bilderzimmer hochzuheben. Oleg blätterte gerade in einem Aktenordner mit der Aufschrift „Bankauszüge“.

„Lass das, und zwar sofort“, herrschte sie ihn an. „Wir wollen wissen, wo er ist, und nicht, wie es um seine Finanzen steht.“

„Entschuldigung. Das Kaufmännische liegt mir im Blut.“ Oleg grinste und stellte den Ordner zurück in den Schrank.

„Das hier ist vielleicht interessant“, merkte Michael an, ebenfalls mit einem aufgeschlagenen Ordner in den Händen. „Hier gibt es eine Menge amtliches Zeugs. Meldebescheinigungen.“ Er blätterte weiter. „Ein Erbschein nach dem Tode von Dietlinde und Hans Borchert. Katasterunterlagen zu einem Haus in Retzow.“

„Wo liegt Retzow?“, fragte Oleg.

Michael nahm sein iPhone zu Hilfe. „Retzow ist eine Gemeinde im Landkreis Havelland in Brandenburg. Gehört zu Friesack. Retzow hat fünfhundertachtundsechzig Einwohner“, zitierte er aus dem Eintrag bei Wikipedia. Er vertiefte sich wieder in den Inhalt des Ordners, um kurze Zeit später triumphierend zu verkünden: „Alle diese Unterlagen sind für einen Typen namens Clemens Borchert. Hier ist ein Studentenausweis. Ist das euer Typ?“

Andrea und Oleg betrachteten das Bild. Es handelte sich bei dem jungen Mann, der mit ernstem Gesicht, den Kopf leicht schräg und die Augen wie mühsam aufgerissen in die Kamera sah, eindeutig um Maximilian Ross.

„Ein Künstlername?“, fragte Oleg.

„Muss wohl so sein“, antwortete Andrea und überlegte, was für den Maler der gravierende Vorteil des Pseudonyms Maximilian Ross gegenüber dem durchaus einprägsamen und wohlklingenden Namen Clemens Borchert gewesen sein mochte.

„Dann werden Dietlinde und Hans Borchert seine Eltern gewesen sein. Aber er ist noch so jung und beide Elternteile schon tot?“, überlegte sie. Warum nicht? Irgendjemand da draußen drohte ihr ja auch damit, selbst bald Halbwaise zu sein. Sie betrachtete vom Türrahmen aus eines der Glasbilder, von dem Oleg das Tuch bereits abgezogen hatte. Sie erkannte es von den Fotos wieder, das Abbild eines jungen Mannes, dessen trauriger Blick ihr im Gegensatz zu den sonst angstvollen und entsetzten Augen bereits aufgefallen war. Der junge Mann klagte seinen Schöpfer und damit auch seinen Betrachter an, forderte eine Erklärung, was gerade mit ihm geschah. Das Gesicht wies eine gewisse Ähnlichkeit mit dem von Maximilian auf.

„So jung waren sie nicht. 1936 und 1938 geboren.“

Maximilians Mutter war also schon Ende vierzig, als er geboren worden war.

„Spätüberraschung oder adoptiert. Das bringt uns allerdings nicht viel. Schade, denn ein Besuch im Elternhaus wäre eine einfache Lösung gewesen“, meinte Oleg.

„Es ist nicht ausgeschlossen, dass er das Haus noch immer hat. Schließlich wird es sein Elternhaus gewesen sein. Sollten wir nicht trotzdem hinfahren? Wie weit ist das denn?“, schlug Andrea vor.

„Lass uns erst einmal schauen, was wir noch herausfinden“, widersprach Oleg.

Michael machte sich an seinem Handy zu schaffen. „Rund fünfundsechzig Kilometer von Berlin-Zentrum bis Retzow“, gab er das Ergebnis der Routenberechnung bekannt.

„Ich könnte sofort losfahren“, sagte Andrea.

„Hilf uns lieber beim Suchen, meine Schöne“, forderte Oleg mit einem Lächeln, das einen kurzen Moment wirkte wie das ihres Vaters. Es ärgerte sie. Andererseits stünde sie ohne ihn nicht hier mit der Chance, etwas herauszufinden, das sie zu Maximilian führen könnte. Unter dem Tisch stand ein Ablagekorb mit diversen geöffneten und noch verschlossenen Briefumschlägen und weiteren Papieren. Sie konnte Olegs Blicke spüren, wie er sie beobachtete. Mit dem Korb in der Hand flüchtete sie in die Küche.

Die Briefe waren Bankauszüge oder kamen von der Hausverwaltung, dem Handybetreiber oder betrafen sonstige alltägliche Dinge.

„Meine liebste Andrea. Sei nicht mehr böse und komm. Ich habe etwas gefunden“, rief Oleg aus dem Zimmer.

Idiot. Rede nicht mit mir wie mit einem Kleinkind. Sie erhob sich sofort und sah sich in ihrem Geiste als seine vorgesetzte Kriminalhauptkommissarin, die sich gerade eine coole Entgegnung einfallen ließ, um den vorlauten Untergebenen in seine Schranken zu weisen. Leider fiel ihr ein solcher Spruch nicht ein, und so bedachte sie Oleg nur schweigend mit dem unfreundlichsten Blick, der ihr trotz ihrer Neugier möglich war.

„Dein Maximilian scheint ein Sammler zu sein. Also, das sind wir Männer ja irgendwie alle, aber deiner hier sammelte offenbar Vermisste.“ Sie stellte sich neben ihn und sah über seinen Arm in eine aufgeschlagene Mappe mit losen übereinanderliegenden Zeitungsausschnitten und gedruckten Seiten aus dem Internet. Sie wollte eines dieser Papiere aufnehmen, als Oleg ihren Arm festhielt.

„Warum deine Fingerabdrücke auf der offen herumliegenden Post unseres lieben Malers sind, könnte man noch mit weiblichem Interesse erklären. Aber auf diesen Fundstückchen hier bräuchte es schon einige Ausreden mehr. Er hatte sie gut versteckt.“ Erst jetzt sah Andrea, dass Oleg Handschuhe trug. Sie waren so dünn und zudem fleischfarben, dass es ihr zuvor nicht aufgefallen war. Sie sah zu Michael, der ihre Blicke zu spüren schien und von einem Aktenordner mit der Aufschrift „Uni/6.– 8. Sem.“ aufblickte. Auch er trug Handschuhe. Wortlos griff er in seine Hosentasche und zog ein weiteres Paar hervor.

„Kleiner Tipp: Mach deine Ringe vorher ab“, sagte Oleg und lächelte sie unschuldig an.

Wenn ich so was so oft machen würde wie du, wüsste ich das auch, du Klugscheißer, dachte sie und antwortete:

„Danke. Ich war noch niemals in einem OP-Team.“

Oleg lächelte unverändert, und selbst Michael verzog sein Gesicht zu einem Grinsen, vertiefte sich aber sofort wieder in die Unterlagen in seinen Händen.

„Wir sollten die Mappe mitnehmen und ein wenig recherchieren“, schlug Oleg vor. „Du könntest dir ja mal den Schrank mit seiner Kleidung vornehmen? Frauen haben da den besseren Blick.“ Resigniert zuckte Andrea mit den Achseln. Wenn’s ihm Spaß machte, spielte sie ihren erneut aufsteigenden Ärger herunter.

Auf dem Regal im Malzimmer lag ein Handy. Sie nahm es in die Hand, aber es war ausgeschaltet. Sie öffnete Kleiderschrank und Kommode, die sich dicht nebeneinander an der einzigen von Malutensilien und Bildern freien Wand drängten. Nichts schien ihr ungewöhnlich. Die Kleidung passte zu dem, was sie bereits an Maximilian kannte. Leere Bügel und nur halb gefüllte Schubladen zeugten davon, dass er einige Kleidungsstücke auf seine Reise, wohin auch immer, mitgenommen hatte. Unwillkürlich fasste Andrea in die Jacken- und Hosentaschen der verbliebenen Kleidung im Schrank. Nichts. Nicht einmal Münzen, Stifte, Notizzettel oder gebrauchte Kinokarten, die man üblicherweise dort vergaß. Wenn Andrea an das Chaos unter Maximilians Malutensilien dachte, lag der Grund für die leeren Taschen sicher weniger in einem übertriebenen Ordnungssinn des Malers als in seiner Einsamkeit. Nur, um eine gewisse Beharrlichkeit ihrer Nachprüfungen gegenüber Oleg zeigen zu können, griff sie auch noch in die letzten Taschen. In einer Strickjacke, die nicht einmal mehr ihr Vater tragen würde, weil sie mit braunen und grauen Karos und der groben Wolle eher an die letzten Kriegstage der Großeltern erinnerte, steckte ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Der DIN-A4-Bogen fühlte sich abgegriffen an, und seine Ränder zeigten Schmutzspuren, so als hätten Finger das Papier schon viele Male auseinandergefaltet und wieder zusammengelegt. Andrea öffnete vorsichtig den Bogen und erschrak zutiefst. Der Anblick kam ihr nur zu bekannt vor. Einzelne Worte und Buchstaben waren aus Zeitungen oder Zeitschriften ausgeschnitten und zu einem Text zusammengeklebt worden. „Oleg“, rief sie laut, während sie bereits las:

Ich weiß, wo du wohnst, und meine Rache wird kommen. Ich werde dich kriegen, so sicher wie das Amen in deiner Kirche.

Oleg betrachtete schweigend den Zettel in ihrer Hand. Auch Michael war zu ihnen getreten. Andrea fasste erneut in die Strickjackentasche und holte ein weiteres Papier hervor. Vier Blätter, ähnlich wie diejenigen, die die Männer im Wohnzimmer gefunden hatten. Gemeinsam studierten sie den Inhalt. Wieder waren es Artikel über Vermisste, und der Inhalt war mehr oder weniger identisch. Jungen im Alter zwischen acht und zehn Jahren, die spurlos verschwunden waren. Großflächige Suchaktionen hatten begonnen. Bisher ohne Erfolg … Handschriftlich waren das Presseorgan und die Daten der Artikel auf der Rückseite notiert: 24. Januar 2003, 26. Januar 2006, 24. Januar 2009 und 23. Januar 2011. Es handelte sich um Artikel aus unterschiedlichen Online-Tageszeitungen in Hamburg, Berlin und Brandenburg.

„In der Mappe, die Michael gefunden hat, geht es meist um vermisste Frauen“, sagte Oleg.

„Alle Jungen sind am 22. Januar verschwunden“, murmelte Andrea, nachdem sie alle Texte gelesen hatte. Obwohl es in der Wohnung warm war, fror sie. Was hatte Clemens Borchert alias Maximilian Ross mit verschwundenen Personen zu tun? Warum interessierte ihn das? Hatte er selbst etwas zu verbergen? Etwas, das mit der Ausstellung seiner Glasbilder ans Licht zu kommen drohte? Sie drehte sich zu Oleg um, der ähnlich nachdenklich schien. Michael war wieder ins Nachbarzimmer verschwunden. Mit den Fundstücken in der Hand folgten sie ihm.

„Die meisten sind auch aus dem Januar. Die letzten stammen aus völlig unterschiedlichen Monaten“, berichtete Michael. „Und hier der Letzte. Eine Zeitungsseite.“

Es hätte Andrea nicht gewundert, wenn die Druckerschwärze auf ihre behandschuhten Fingerkuppen abgefärbt hätte. Sie musste schlucken, als sie den emotionalen Aufruf einer Familie von Graefen an den Entführer las, ihnen doch bitte einen Hinweis über den Verbleib der Mutter der kleinen Anna zu geben, und sei es auch die Gewissheit ihres Todes. Dann sah sie das Datum der Zeitung und wurde starr vor Entsetzen. „Der Artikel ist von vorgestern“, flüsterte sie. „Er muss hier gewesen sein.“

„Lass uns das alles mitnehmen und in Ruhe prüfen“, schlug Oleg vor. Auch seine Stimme klang belegt.

„Und wenn Maximilian zurückkommt?“ Ihr wurde übel bei dem Gedanken, dass der Künstler keineswegs auf Reisen war, wie er behauptet hatte, und jeden Moment diese Wohnung betreten könnte.

„Er wird kaum auf dich kommen. Habt ihr einen Laptop oder PC irgendwo entdeckt?“ Oleg sah sich suchend um.

Michael schüttelte den Kopf. „Nichts.“

Oleg fasste ihre Hand. Sanft zog er sie näher an sich heran und sah ihr eindringlich in die Augen. „Mit Verbrechern kenne ich mich ein wenig aus. Mit Irren nicht. Ich fahr dich jetzt gleich zur Polizei.“

Der Beamte der Wache telefonierte und bat Andrea anschließend, ihm zu folgen. Hinter einer Glastür ging der linoleumbelegte Gang scheinbar endlos weiter, bis plötzlich die Gummisohlen ihres jungen Begleiters aufhörten zu quietschen. Er war stehen geblieben und wies auf einen Mann, der ihnen entgegenkam.

„Mein Kollege wird Ihre Anzeige aufnehmen.“

Der Kollege wirkte unfreundlich, war dick und hatte Atembeschwerden. Kurz bevor er Andrea erreichte, schloss er eine Tür auf, und im Hineingehen winkte er sie ungeduldig hinter sich her, als hätte er Wichtigeres zu tun.

„Sie wollen eine Vermisstenanzeige aufgeben?“

„Ja.“

„Wie lange?“

Was für eine Horrorvorstellung für eine Mutter, bei diesem Mann zu landen, während sie sich um ihr Kind, das nicht nach Hause gekommen ist, zu Tode ängstigte.

„Wie lange vermissen Sie die Person?“, wiederholte er ungeduldig.

„Seit drei Tagen.“

Ruckartig hob er das Gesicht. „Die vermisste Person steht Ihnen nicht nahe?“

„Nein.“

Er setzte sich an einen Schreibtisch und kramte aus einer Schublade ein Formular hervor. „Nehmen Sie Platz. Heute ist Sonntag, und da hat meine Kollegin frei, und ich kann mit den Dingern nicht umgehen.“ Er zeigte auf die Tastatur nebst Monitor vor sich. „Name?“

„Andrea Wahrig.“

„Die Vermisste ist eine Freundin?“

„Wie? Nein. Der Vermisste heißt Maximilian Ross. Er könnte allerdings auch Clemens Borchert heißen. Geboren 23. 11. 1987 in 14641 Retzow. Jetzige Anschrift: Reichenberger Straße 42, Berlin-Kreuzberg. Postleitzahl weiß ich nicht.“

Der Beamte grinste. Seine Stimmung schien sich überhaupt schlagartig gebessert zu haben, jetzt, da ihn offenbar kein Gefühlsdrama erwartete. Aufmerksam hörte er Andrea zu. Sie übergab ihm eine gelochte Plastikhülle mit den Artikeln und Berichten, die Maximilian gesammelt hatte, und behauptete, sie hätte diese Hülle in einem Leitzordner gefunden, den der Maler anlässlich einer Besprechung in der Galerie versehentlich vergessen hatte. Der Drohbrief, den sie in der Jackentasche gefunden hatte, war nicht in der Hülle. „So etwas mit sich herumzutragen wäre ziemlich merkwürdig, oder?“, hatte Oleg argumentiert. Auch über die Drohbriefe, die sie selbst erhalten hatte, schwieg sie. Warum, wusste sie allerdings selbst nicht. Ein diffuses Gefühl in ihr warnte sie davor, so wichtige Beweise vorzuenthalten. Doch bevor sie ihm nachgeben konnte, war die Anzeigenaufnahme schon erledigt, und der gefühllose Beamte hatte sich erhoben.

Sie verließ das Polizeigebäude mit dem Gefühl, dass der Polizist den Fall in diesem Moment bereits auf den Stapel der zu erledigenden Akten ganz nach unten gesteckt hatte.

„Und?“, fragte Oleg, der ausgestiegen war, um ihr die Beifahrertür zu öffnen.

„Der Polizist war so interessiert an dem Fall wie ein Geier, dem man zum Fressen Sonnenblumenkerne vorgeworfen hat.“

Oleg lachte. „Abwarten. Bei den deutschen Behörden geht alles seinen Gang. Vielleicht spuckt der Computer bei einem der Namen doch noch etwas aus.“

„Dazu müsste dieser hinterwäldlerische Beamte die Daten erst einmal in den Computer eingegeben haben.“ Sie erzählte ihm vom handgeschriebenen Formular.

Bevor er den Wagen startete, beugte sich Oleg zu ihr herüber und küsste sie sanft auf die Wange. Übertrieben lange. Aber sie war noch immer so beschäftigt mit ihrem Ärger über diesen für die Vermisstenabteilung denkbar ungeeigneten Beamten, dass sie es geschehen ließ und überrascht feststellte, dass es sich so schlecht nicht anfühlte.

„Was denkst du? Warum sammelt jemand Berichte über vermisste Personen?“, fragte sie nachdenklich.

„Vielleicht ist jemand aus seiner eigenen Familie urplötzlich verschwunden? Oder ein guter Freund? Oder sogar die Freundin.“

„Aber warum dann auch Artikel über Kinder? Er ist doch selbst viel zu jung, um Kinder zu haben.“

„Mit sechsundzwanzig? Aber du hast recht. Die Jungen waren alle acht oder neun Jahre alt. Und der erste Artikel ist schon aus 2003. Da war er noch nicht einmal sechzehn Jahre alt.“

„Du glaubst also auch nicht, dass Maximilian selbst Menschen entführt, oder?“

Oleg schüttelte den Kopf.

„Aber wer bedroht mich dann? Und offenbar ja wohl auch Maximilian?“

„Falls es einen Zusammenhang dazwischen geben sollte, dass Maximilian Artikel von Vermissten sammelt, und dem Drohbrief, den wir bei ihm gefunden haben, galt der Brief womöglich ihm selbst. Das würde auch den Besitz des Originals erklären. Dann dürfte der, der ihn erneut und jetzt auch dich bedroht, sicher derselbe sein. Und auf jeden Fall gefährlich.“

„Und trotzdem sollte ich nur eine Vermisstenanzeige aufgeben?“

„Michael und einer meiner Mitarbeiter sind ununterbrochen dabei, die kopierten Unterlagen Maximilians zu sichten und die Fälle zu recherchieren. Ich würde gerne noch das Ergebnis abwarten. Dann kannst du immer noch einmal mit denen sprechen. Die Woche, die der Unbekannte dir gegeben hat, ist ja gerade einmal einen Tag alt.“

So richtig überzeugte sie dieses Argument nicht, aber sie war dankbar, dass sie den weiteren Tag alle Hände voll zu tun hatte, um die morgige Vernissage Rüdiger Hauswalds vorzubereiten. Sie entschied, keinesfalls die ganze Woche zu warten, die der Erpresser ihr zugestanden hatte. Drei Tage noch. Das war die Deadline, die sie sich selbst zur Rettung dieser für ihre Galerie so wichtigen Ausstellung gesetzt hatte. Wenn sie Maximilian bis dahin nicht gefunden hatten und sich aus dem Treffen eine Aufklärung ergeben sollte, dann musste sie eben in den sauren Apfel beißen und alles abblasen. An die Reaktionen innerhalb der Branche und bei der Presse durfte sie gar nicht denken.

Sie versuchte sich auf den Entwurf ihrer Eröffnungsrede zu konzentrieren, löschte diesen umgehend wieder. Sie schickte Oleg weg, und überraschenderweise ging er ohne Widerspruch. Trotzdem lagen die Dinge jetzt klarer vor ihr, und ihre Angst hatte wesentlich abgenommen. Ihre Mutter war das Druckmittel gegen sie, um die Ausstellung zu verhindern. Der Erpresser hätte nichts davon, dieses Druckmittel jetzt bereits auszuspielen. Es würde ein Leben nach diesem Irrsinn geben, für den sie jetzt zu arbeiten hatte. Sie konzentrierte sich wieder auf die Rede. Und jetzt gelang es.