7. KAPITEL
Tagelang hatte sie versucht ihn zu erreichen, hatte jeden Tag eine E-Mail an ihn gesandt. Jetzt las Andrea die erste Antwortmail Maximilians, und was sie davon verstand oder besser dachte misszuverstehen, schrieb sie ihren angespannten Nerven zu. Glauben konnte sie es jedenfalls nicht. Sie murmelte den Text laut vor sich hin, und als sie begriff, dass sie sich keinesfalls verlesen hatte, pochte ihr Herz so stark, dass ihr schwindelig wurde. Noch einmal las sie, was auf dem Monitor stand:
Guten Tag Frau Wahrig,
es tut mir außerordentlich leid, und ich kann Ihnen die Gründe auch nicht erklären. Aber definitiv sage ich hiermit die in Ihrer Galerie geplante Ausstellung ab. Nicht endgültig. Vielleicht werde ich später noch einmal auf Sie zukommen. Aber zum jetzigen Zeitpunkt ist es mir unmöglich, meine Glasbilder auszustellen. Sollten Sie damit einverstanden sein, nur meine anderen Bilder anzubieten, würde ich selbstverständlich an unserem Vertrag festhalten. Wenn nicht, teilen Sie mir bitte die Ihnen bisher entstandenen Kosten mit.
Mit freundlichen Grüßen und sorry
Maximilian Ross
Er hatte diese Nachricht erst vor einer halben Stunde gesandt. Schnell antwortete sie:
Lieber Maximilian,
so kurz vor der Ausstellungseröffnung bringt uns Ihre Entscheidung in große Schwierigkeiten. Die finanziellen Konsequenzen sind hierbei die geringsten. Bitte lassen Sie uns ein persönliches Treffen vereinbaren. Ich denke, wir werden für alles eine Lösung finden. Ich habe gestern bereits versucht, Sie zu Hause zu besuchen. Leider waren Sie nicht da. Schreiben Sie mir doch, wann ich Sie am besten dort antreffen kann, oder kommen Sie in meine Galerie.
Herzliche Grüße
Andrea Wahrig
Eine halbe Stunde hielt sie es ergebnislos wartend vor dem Monitor aus. Dann fuhr sie wieder in die Reichenberger Straße. Kurzerhand hielt sie in zweiter Reihe vor der Hausnummer 42, sprang aus dem Auto und klingelte bei Maximilian Ross Sturm. Wie Anfang der Woche öffnete niemand.
Wieder im Büro angelangt, prüfte sie im Minutentakt ihren E-Mail-Account und arbeitete nebenbei an dem Konzept einer Ausstellung, die sie für die Vorweihnachtszeit plante. Eine themenbezogene Gemeinschaftsausstellung junger Bildhauer. Einer der Künstler wollte gerne das Thema unter der Überschrift „Das Göttliche“ gefasst wissen. Die vier anderen tendierten eher zu dem, was auch Andrea wollte – „Berührung“. Ihr fiel auf, dass beide Prämissen auch zu den Werken Maximilians passen würden, von dem in diesem Moment gerade und endlich eine Antwort kam.
Liebe Frau Wahrig,
vielen Dank für Ihre Nachricht. Aber ich bin bereits auf Reisen. Daher ist ein persönliches Treffen nicht möglich. Es würde auch nichts bringen. Haben Sie schon eine Entscheidung treffen können, ob Sie bei der Ausstellung auf die Glasbilder verzichten? Dann wäre ich rechtzeitig zur Vernissage wieder in Berlin.
Mit freundlichen Grüßen
Maximilian Ross
Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Was, um Himmels willen, war mit diesem Mann los? Auf Reisen? Fieberhaft überlegte Andrea. Konnte sie es wagen, ihm die geforderte Zusage zu geben, um ihn zurückzulocken? Was, wenn sie es nicht vermochte, ihn nach seinem Kommen zu überzeugen, doch noch die Glasbilder hinzuzunehmen? Wie würde die Presse auf so eine Schmalspurvernissage reagieren? Besser doch ein Ersatz? Aber die Zeit dafür wurde langsam knapp. Alle Pressemitteilungen waren längst verschickt, alle Unterlagen gedruckt. Ihre eigene E-Mail- und Postkampagne in vollem Gange. Ihre Homepage pries die kommende Ausstellung in den höchsten Tönen. Andrea schrieb einfach drauflos.
Lieber Maximilian,
ich würde ungern die Chance vergeben, die ich in der geplanten Ausstellung für uns beide sehe. Dann ist es besser, die gesamte Ausstellung zu einem späteren Zeitpunkt zu starten. Ihre Glasbilder unterscheiden sich von Ihren übrigen Werken so sehr, dass ich befürchte, eine unvollständige Ausstellung wird Ihr Image in nur eine Richtung prägen, und eine zweite spätere Ausstellung liefe ins Leere. Außerdem habe ich in allen Ankündigungen die Glasbilder besonders hervorgehoben. Ich kann und will meine Kunden und vor allem die Presse nicht dahingehend enttäuschen, dass genau diese Werke dann fehlen. Ich hoffe immer noch sehr, dass Sie Ihre Entscheidung überdenken. Wir können uns auch persönlich treffen, wenn Sie sich außerhalb Berlins befinden. Mailen Sie mir Ihre Adresse, und ich werde sofort kommen. Bitte geben Sie uns die Möglichkeit, nochmals face-to-face alles zu durchdenken.
Herzlichst
Ihre Andrea Wahrig
Sie zögerte, die Nachricht zu senden. Hatte sie den richtigen Ton getroffen? Sie nahm das Telefon in die Hand und war im Begriff, ihren Vater anzurufen, besann sich und legte den Hörer wieder hin. Ihr Vater war ein Faktenmensch. Der Drohbrief, die Absage des Künstlers. Alles wäre ein Grund mehr für ihn, den Selbstständigkeitstrip durch den gesättigten Kunstmarkt der Hauptstadt als Flausen seiner Tochter abzutun. Und ihre Mutter? Die würde sich zu Tode ängstigen. Ihr hatte sie noch nicht einmal von Oleg erzählt. Oleg, ihrem … Ja, was war er eigentlich? Kunde, Bekannter, potenzieller Lover oder gar Freund? Für sich selbst würde er wohl eher Verehrer und Bewunderer als Bezeichnung wählen, so antiquiert, wie er daherredete. Und Lover wäre ihm wohl am liebsten. Andrea wusste nicht, ob Oleg jemals in seinem Leben einen gebastelten Brief erhalten hatte, in dem jemand indirekt mit Mord drohte. Aber er war der einzige Mensch, bei dem sie sich vorstellen konnte, dass er zumindest Leute kannte, die in einer solchen Situation nicht gleich vor Schreck umfallen würden. Oleg war Ende vierzig, verheiratet, hatte zwei Kinder und stammte aus Moskau. Vor fünf Wochen war er das erste Mal in ihre Galerie gekommen, und seitdem verging kaum ein Tag, an dem er sie nicht besuchte und umschwirrte wie eine Motte das Licht. An einem Freitagabend, kurz nach Eröffnung der Barbara-Krug-Ausstellung, war sie dem hochgewachsenen späten Besucher entgegengegangen.
„Guten Tag. Möchten Sie sich in Ruhe umschauen, oder darf ich Ihnen helfen? Ich erzähle Ihnen gerne Details zu den Bildern.“
Mit leichtem osteuropäischen Akzent antwortete er: „Ich würde nichts lieber hören als die Stimme einer so schönen Frau.“ Trotz Sommerwetter trug er einen dunklen Anzug, und die Sonnenstrahlen, die durch die geöffnete Tür fielen, ließen die Seide im Anzugstoff schimmern. Doch Andrea musste sich zusammennehmen, um nicht laut loszuprusten. Wie schmalzig war das denn? Sie lächelte ihren Besucher verbindlich an, und er schmunzelte ebenfalls, was sein markantes, streng wirkendes Gesicht erstaunlich veränderte. Kleine Lachfältchen wurden um die braunen Augen sichtbar und reichlich weitere um Mund und Nase. Sie rundeten die eckige Gesichtsform und gaben seiner Miene eine sympathische Wärme. Trotz seines Alters sah er gut aus. Allerdings auch ein wenig eingebildet und arrogant. Er hätte perfekt in die italienische Heimatstadt ihrer Mutter gepasst.
„Sind Sie selbst Künstler?“, fragte sie und wusste bereits, dass dieser Mann nie und nimmer Maler oder Bildhauer war. Geschäftsmann oder Banker vielleicht, ganz sicher aber wohlhabend, was für jeden durch Anzug, Schuhe und Armbanduhr unschwer zu erkennen war, wahrscheinlich auch erkennbar sein sollte. Im Geiste sah sie ihn in ihrem Kriminalroman als perfekte Besetzung eines Mafiabosses in der Berliner Unterwelt. Irgendwann würde sie dieses Buch schreiben. So ein Typ nahm sich, was er wollte, und meistens gaben sie es – zumindest die Frauen – ihm sogar freiwillig.
„Die Künstlerin heißt Barbara Krug. Sie malt ausschließlich in Aquarell. Wie Sie sehen, vorwiegend Naturmotive, aber nicht ausschließlich. Ihre Bilder zeichnen sich durch eine berührende Intensität aus. Alles andere als kitschig. Sehen Sie hier …“ Sie zeigte auf einen Bildausschnitt, in dem Grashalme am Rande einer großen Wiese die ersten Ausläufer von Sanddünen durchbrachen. „So, als seien sie zugeweht worden, und nun im Sonnenlicht des neuen Tages erheben sie sich …“ Weiter sprach sie nicht. Der Besucher, der dicht neben ihr stand, hatte kurz mit der Hand ihren Unterarm berührt, gewiss nicht unabsichtlich.
„Wesselov, Oleg Wesselov.“
„Angenehm, Andrea Wahrig“, erwiderte sie und starrte auf ihren Arm. „Ich kann nur aus eigener Erfahrung sagen: Der Anblick dieser Aquarelle beruhigt die Nerven, unter anderem weil die Farben sich zu einer harmonischen Komposition quasi zusammenschmiegen. Die Preise liegen zwischen zweihundert und sechshundert Euro. Sehr günstig, und ich versichere Ihnen: Das wird nicht lange so bleiben. Die Preise der Künstlerin sind bereits jetzt tendenziell steigend. Die ‚Berliner Morgenpost‘ hat mit Frau Krug ein ausführliches Interview geführt, und nach dem in Kürze erscheinenden Artikel gehen erfahrungsgemäß die Preise …“
Er lachte, und dieses Lachen klang überraschend warmherzig und sympathisch. Wenn er wenigstens tatsächlich etwas kaufen würde, könnte sie dieses Gespräch als „Kundenpflege“ abhaken und seine antiquierte Anmache ganz schnell wieder vergessen.
„Zu welchem würden Sie mir raten?“
Sie lächelte ihn provozierend freundlich an. „Das hier. Es passt wunderbar sowohl in einen Büroraum wie in einen Wohn- oder Schlafbereich. Sozusagen universell einsetzbar. Rosa rugosa, auch Kartoffelrose oder Dünenrose genannt. Die Künstlerin nennt sie Syltrosen. Zarte Rosenblätter in sehr dunklem und saftigem Grün sollten eigentlich in einem Widerspruch mit dem trockenen Sand und der rauen Nordsee stehen. Und doch bildet hier alles zusammen ein harmonisches Ganzes.“ So ratterte Andrea die Bildbeschreibung herunter.
Sie hatte ihm natürlich das teuerste der Bilder empfohlen und freute sich, dass sich Oleg Wesselov ohne Zögern für den Kauf entschied. Er legte sechs Hunderteuroscheine auf den kleinen Glastresen an der Wand und seine Visitenkarte obenauf.
„Ich habe jetzt leider keine Zeit mehr, das Bild mitzunehmen. Könnten Sie es mir bitte schicken? Oder nein. Besser, ich komme morgen Abend noch einmal. Würden Sie so freundlich sein und es mir bis dahin ein wenig einpacken? Ich befürchte nur, es passt nicht in den Kofferraum.“ Oleg griff ihre Hand und deutete mit einer Verbeugung einen Handkuss an. Andrea schüttelte missbilligend den Kopf, doch er stand bereits auf dem Bürgersteig. „So kann ich die schönste Frau der Stadt gleich morgen noch einmal sehen“, rief er.
Durch die Ritzen der nicht ganz geschlossenen Jalousie des Schaufensters sah sie ihm nach. Er verschwand aus ihrem Sichtfeld, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Ein Meter zehn mal neunzig Zentimeter maß das Bild, und es sollte nicht in den Kofferraum passen? Was fuhr der denn für ein Auto? Sie verstaute die Geldscheine in ihrer Handtasche und wollte eine entsprechende Barquittung vorbereiten, zerriss sie aber gleich wieder. Er würde eine Rechnung bevorzugen. Warum sonst hatte er zu den Geldscheinen seine Visitenkarte gelegt, wenn nicht, um die Ausgabe von der Steuer abzusetzen? Oleg Wesselov, W. A. T. O. Handels-GmbH & Co. KG, Mitglied des deutsch-russischen Wirtschaftsförderverbandes e.V., Kurfürstendamm 188, 10707 Berlin.
Was hatte dieser Mann in ihrer kleinen Galerie in Friedrichshain gewollt? Männer seines Alters mit dieser Adresse und Branche kauften am Ku’damm ein, in der Friedrichstraße und Unter den Linden. Sie gingen ins KaDeWe oder in die Galeries Lafayette, suchten sich Bilder bei Lehr Berlin in der Sybelstraße oder ersteigerten welche bei den großen Auktionshäusern in Wilmersdorf.
Eine Stimme riss Andrea aus ihren Erinnerungen, und sie musste sich nicht umdrehen, um Olegs Stimme zu erkennen. Wenn man an den Teufel denkt.
„Guten Tag, schönste Frau des heutigen Abends. Ich sah noch Licht, und ich dachte, Sie könnten vielleicht Hunger haben?“
Sie erwiderte nichts und spürte seine forschenden Blicke.
„Ihr Schweigen wirkt, als hätte ich gerade eine Unverschämtheit von mir gegeben.“
„Ja, nein, natürlich nicht. Aber Sie sind verheiratet und ich nicht interessiert“, antwortete sie.
„Ja. Und das macht Sie hässlich?“
„Wie bitte?“
„Warum seid ihr deutschen Frauen immer so kompliziert? Wenn ich das gleiche Kompliment wie eben einer Frau von siebzig Jahren gemacht hätte, weil sie noch immer sehr gut aussieht, hätten Sie dann ebenfalls angenommen, dass ich diese Frau gleich verführen wollte?“
„Aber auch nicht mit ihr essen gehen, oder?“, konterte Andrea, entspannte sich aber etwas.
„Wenn die alte Dame so ansprechende Bilder verkaufen würde, warum nicht? An den Wänden meines neuen Büros herrscht noch immer gähnende Leere.“
Wieder sah er sie prüfend an. „Was ist los? Kann ich Ihnen helfen?“
Sein plötzlicher ernsthafter Ton irritierte sie. War sie so durchsichtig, dass einer, der sie gerade mal seit vier Wochen kannte, sofort sah, dass sie ein Riesenproblem hatte?
„Es tut mir leid, aber ich habe noch zu arbeiten. Oder möchten Sie noch etwas kaufen? Die restlichen Bilder werden morgen abgebaut.“
„Ich weiß. Am kommenden Montag ist die Vernissage Rüdiger Hauswald.“
„Ich weiß sehr wohl, dass Sie Ihren Job hier außerordentlich gut machen. Ich würde nur gerne trotzdem helfen. Das macht man unter Freunden so. Umgekehrt würden Sie doch auch …“
„Wir sind Freunde?“ Sie zog das Wort in die Länge, fand ihre Reaktion aber selbst gerade ziemlich kindisch. Es hatte außer seinen blöden Sprüchen bisher nichts gegeben, was ihn disqualifiziert hätte. Bisher war wohl sie es, die ihn in eine Schublade steckte, in die ein großer Teil von ihm sicherlich auch gehörte. Aber immer wieder einmal hatte er überraschend anders gehandelt.
„Wollen Sie einen Kaffee?“
Er nickte und folgte ihr ins Büro. „Um was geht es? Die Ausstellung Maximilian Ross?“
„Woher wissen Sie?“
„Ich verfolge alle Presseberichte von und über Sie.“ Er lächelte breit, wurde aber gleich wieder ernst, als sie sein Lächeln nicht erwiderte.
„Ja. Er hat abgesagt.“
„Er hat abgesagt?“
„Sagte ich ja gerade.“ Sie reichte ihm die gefüllte Kaffeetasse. „Ein Künstler, der seine eigene Ausstellung absagt, muss entweder verrückt oder bereits ausreichend bekannt sein und Promotion, gleich welcher Art, nicht mehr nötig haben. Bei Maximilian bleibt also eigentlich nur – verrückt“, antwortete sie. Oder aber er hatte wie sie einen ernst zu nehmenden Drohbrief erhalten. Ernst zu nehmend? Oleg war ein erfahrener Geschäftsmann, er wollte helfen, und er war nicht ihr Vater. Es schadete nichts, seine Meinung zu hören. Sie berichtete ihm von Maximilians E-Mails und ihren Überlegungen und las ihm ihre letzte Antwort vor, die sie noch nicht gesendet hatte.
„Was meinen Sie? Sollte ich das wegschicken oder anders formulieren?“
„Das Wichtigste ist, dass Sie persönlich mit ihm reden. Hinter E-Mails kann man sich wunderbar verstecken. Wenn Sie Pech haben, antwortet er nicht einmal mehr. Aber schicken Sie die E-Mail erst einmal weg.“
„Da ist noch etwas.“
Oleg sah sie an. Das ehrliche Interesse, das sie in seinen Augen lesen konnte, schob ihre Zweifel beiseite. Sie holte die Botschaft des Unbekannten aus der Schreibtischschublade hervor und schob sie Oleg entgegen.
Er las und sah sie daraufhin lange und ernst an. Noch mal wandte er den Blick auf den Text.
„Scheint eine interessante Geschichte zu haben, dieser Maximilian Ross. Schade, dass ich ihn nicht selbst kennengelernt habe.“
„Meinen Sie, er hat ihn geschrieben?“
„Wohl eher nicht. Aber Zufall ist das sicher nicht, dass er nur eine Woche, nachdem Sie den Brief erhalten haben, seine Ausstellung absagt.“
„Würden Sie an meiner Stelle …?“
„… die Ausstellung absagen?“, setzte Oleg ihre Frage fort. „Ich muss darüber nachdenken. Aber diese E-Mail würde ich in jedem Fall erst einmal abschicken.“
Andrea holte tief Luft und drückte auf Senden. „Hoffentlich reagiert er darauf. Ich habe nicht die geringste Idee, wie ich herausfinden soll, wo er ist. Meines Wissens nach hat er keine Familie. Seine Freunde und Bekannten kenne ich nicht. Vielleicht die Nachbarn fragen?“
„Das wäre eine Möglichkeit. Aber warten wir erst einmal ab. Notfalls fällt mir das ein oder andere noch ein.“ Oleg grinste sie verschmitzt an. „Ihr Kaffee schmeckt übrigens hervorragend. War nicht billig, die Maschine, nicht wahr?“
„Wie meinen Sie das?“
„Na ja, solche Maschinen …“
„Das ein oder andere?“, unterbrach ihn Andrea verärgert.
„Ich kenne eine Menge Leute in der Stadt. Und nicht alle sind … sagen wir mal, so geradeaus wie ich.“
„Sie sind geradeaus?“ Sie lachte laut auf.
„Sagen Sie mir, wie ich bin.“
„Was ist mit der Polizei?“, fragte Andrea.
„Das bringt nichts. Noch nicht. Aber vielleicht …“ Er unterbrach und trank einen großen Schluck.
„Was vielleicht?“, drängte sie.
„Ich lasse gerne andere für mich arbeiten. Das erleichtert den Blick auf das Wesentliche.“
Andrea verstand nicht. Warum kam er nicht auf den Punkt?
„Vielleicht wäre eine Vermisstenanzeige eine Hilfe. Sie müssten nichts von dem Drohbrief oder sonstigen Merkwürdigkeiten erzählen und könnten auch die Absage unseres Malers verschweigen. Sagen Sie der Polizei, dass Sie sich große Sorgen machen und Angst hätten, dass Maximilian Ross etwas zugestoßen sei. So wichtig, wie ihm seine erste große Ausstellung in der Galerie sei, könnten Sie sich keine harmlose Erklärung für sein Verschwinden vorstellen.“
„Das wäre gelogen“, widersprach sie. „Im Erfolgsfall wäre Maximilian stinksauer auf mich, wenn ich ihm die Polizei auf die Fersen hetze.“
Doch die Idee hatte schon begonnen, sich in ihrem Kopf einzunisten. Vielleicht würde sie damit die Ausstellung nicht retten können, aber der Maler könnte Licht ins Dunkel bringen, wer um Himmels willen seinetwegen ihrer Mutter mit dem Tod drohte. Und vor allen Dingen: warum?
„Jetzt doch essen gehen?“, fragte Oleg mit zur Seite geneigtem Kopf.
„Also gut, warum nicht!“ Sie hoffte eh nicht mehr, heute noch eine weitere Reaktion Maximilians zu erhalten. Und wenn doch, könnte sie diese auch auf ihrem Handy lesen. Oleg begegnete ihrem Blick mit einer unschuldigen Jungenmiene, und sie musste lachen.
„Aber irgendetwas in der Nähe. Ich hab nicht so viel Zeit. Dafür aber einen Riesenhunger.“
„Ich liebe hungrige Frauen“, antwortete er und schlug sich sofort mit gespielter Empörung selbst auf den Mund.
Sie liefen zu Fuß in die Simon-Dach-Straße, die Andrea sonst eher mied, weil der Großteil der Passanten in dieser Straße Touristen waren. Aber für eine schnelle Restaurant-Entscheidung war die Straße fast unschlagbar. Eine Gaststätte reihte sich an die nächste. Der kurze Spaziergang tat ihr gut. Oleg schlug ein kleines italienisches Restaurant vor, und sie bedauerten, dass der Hochsommer, der bisher der Stadt regelrecht den Atem genommen hatte, gerade eine Pause machte. Jedenfalls war die Luft zu kühl, um an einem der Tische auf dem Gehweg Platz zu nehmen. Als Oleg bestellte, musterte Andrea ihn. Wieder fragte sie sich, warum Oleg nicht bei seiner Familie war. Sie schätzte ihn auf Mitte vierzig. Er war nicht ganz so schlank, aber genauso groß wie Martin. Aber die verbliebenen dunklen Haare und sein markantes eckiges Gesicht unterschieden ihn ganz deutlich von ihrem schmalen hellblonden Ex. Er verdiente mit Sicherheit so viel Geld wie ihr Vater, war mit noch größerer Sicherheit ebenso wie dieser der Ansicht, Mann und Frau trennten nicht nur körperlich ganze Universen. Mit zwei großen Unterschieden. Womit ihr Vater sein Geld verdiente, wusste sie. Er war Unternehmensberater, und seine Klienten zahlten gut. Was allerdings Oleg mit seiner Firma im- und exportierte, war ihr immer noch nicht ganz klar. Als er vorhin in der Galerie davon sprach, dass er eine Menge Leute in der Stadt kenne, hatte sie sofort an die Russenmafia denken müssen, hatte den Gedanken aber gleich als völlig überzogen wieder verworfen. Nicht jeder reiche Russe in der Stadt hatte etwas mit der Mafia zu tun. Es war kindisch, so etwas zu denken. Und Oleg schien ihr das ganze Gegenteil eines Unterweltlers zu sein. Außerdem machte es überraschenderweise Spaß, sich mit ihm zu unterhalten, und er hatte ein erstaunliches Verständnis für die Bilder in ihrer Galerie bewiesen.
„Sie beobachten mich?“
Andrea nickte und strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Ich höre jetzt aber damit auf. Warum haben Sie als Erstes das Bild mit den Syltrosen gekauft? Es passt nicht zu Ihnen.“
„Es ist schön und lädt zum Träumen ein. So wie Ihr Anblick.“
Nach dem dritten Glas Weißwein einer Güteklasse, die Andrea sich verkniff, wenn sie selbst zahlen musste, machten ihr Olegs antiquierten Komplimente nichts mehr aus, und sie vergaß den Drohbrief und Maximilians Verschwinden.