26
Kanonikus Pennyfather war in einem Taxi zum Britischen Museum gefahren. Miss Marple hatte es sich auf Wunsch des Chefinspektors in der Hotelhalle bequem gemacht. Würde sie vielleicht so freundlich sein und hier zehn Minuten auf ihn warten?
Miss Marple hatte nichts dagegen. Sie begrüßte diese Gelegenheit, hier etwas Umschau zu halten und über manches nachzudenken.
Das Leben in Bertrams Hotel ging seinen gewohnten Gang. Nein, entschied Miss Marple, nicht seinen gewohnten Gang. Es war ein Unterschied da, obwohl sie nicht hätte definieren können, worin er lag. Eine unter der Oberfläche schwelende Unsicherheit vielleicht?
Die Türen schwangen auf, und der Chefinspektor, behäbig und schwerfällig wie immer, kam herein und ging direkt auf Miss Marple zu.
»Startklar?«, fragte er jovial.
»Wohin entführen Sie mich denn jetzt?«
»Wir wollen Lady Sedgwick einen Besuch abstatten.«
»Wohnt sie noch hier?«
»Ja. Mit ihrer Tochter.«
Sie fuhren im Lift zum oberen Stockwerk, wo Lady Sedgwick und ihre Tochter eine Zimmerflucht bewohnten.
Chefinspektor Davy klopfte an die Tür, und auf das »Herein« hin traten er und Miss Marple ein.
Bess Sedgwick saß in einem hochlehnigen Sessel am Fenster, auf ihren Knien ein geschlossenes Buch.
»Sie sind’s also wieder, Chefinspektor.« Ihr Blick streifte ihn und fiel dann auf Miss Marple. Sie schien etwas überrascht zu sein.
»Darf ich Sie mit Miss Marple bekannt machen?«, sagte Davy. »Miss Marple – Lady Sedgwick.«
»Ich habe Sie schon gesehen«, sagte Lady Sedgwick. »Sie saßen neulich mit Selina Hazy an einem Tisch, nicht wahr? Nehmen Sie doch bitte Platz.« Dann wandte sie sich wieder an Chefinspektor Davy. »Haben Sie etwas Neues über den Mann in Erfahrung gebracht, der auf meine Tochter geschossen hat?«
»Eigentlich nichts, was man als neu bezeichnen könnte.«
»Ich möchte auch bezweifeln, dass Sie in der Angelegenheit weiterkommen werden. Bei einem solchen Nebel schleichen alle möglichen Gestalten herum auf der Suche nach Frauen, die allein auf der Straße sind.«
»Stimmt bis zu einem gewissen Punkt«, sagte Vater. »Wie geht es Ihrer Tochter?«
»Oh, Elvira ist wieder ganz mobil.«
»Sie haben sie hier bei sich?«
»Ja. Ich rief Colonel Luscombe, ihren Vormund, an. Er war ganz begeistert, dass ich mich um sie kümmern will.« Sie lachte plötzlich auf. »Der gute alte Knabe. Er hat immer auf eine Vereinigung von Mutter und Tochter gedrängt!«
»Daran hat er vielleicht ganz recht getan.«
»O nein, ganz und gar nicht. Im Augenblick halte ich es allerdings auch für das Beste.« Sie wandte den Kopf, um aus dem Fenster zu blicken, und sprach nun in verändertem Ton. »Wie ich höre, haben Sie einen meiner Freunde verhaftet – Ladislaus Malinowski. Unter welcher Anklage?«
»Nicht verhaftet«, berichtigte sie Chefinspektor Davy. »Er unterstützt uns nur bei unseren Ermittlungen.«
»Ich habe ihm meinen Anwalt geschickt, der ihn beraten soll.«
»Sehr weise«, billigte Vater. »Für jeden, der Schwierigkeiten mit der Polizei hat, ist es ratsam, einen Anwalt zu haben. Sonst kann der Betreffende leicht etwas Verkehrtes sagen.«
»Selbst wenn er völlig unschuldig ist?«
»Vielleicht ist es in dem Fall sogar noch notwendiger.«
»Sie sind ziemlich zynisch, nicht wahr? Worüber vernehmen Sie ihn eigentlich, wenn ich fragen darf? Oder darf ich das nicht wissen?«
»Wir möchten zum Beispiel genau wissen, was er an dem Abend gemacht hat, als Michael Gorman erschossen wurde.«
Bess Sedgwick richtete sich im Sessel auf.
»Sind Sie etwa auf die lächerliche Idee gekommen, dass Ladislaus auf Elvira geschossen hat? Sie kannten sich ja nicht einmal.«
»Es wäre möglich gewesen. Sein Wagen stand gerade um die Ecke.«
»Blödsinn«, erklärte Lady Sedgwick entschieden.
»Wie sehr hat diese Schießerei Sie eigentlich mitgenommen, Lady Sedgwick?«
Sie blickte leicht überrascht auf.
»Es hat mich natürlich beunruhigt, dass meine Tochter um ein Haar ums Leben gekommen wäre.«
»Das meinte ich nicht. Ich wollte wissen, wie sehr der Tod Michael Gormans Sie berührt hat?«
»Es hat mir leidgetan, dass er sterben musste. Er war ein tapferer Mann.«
»Mehr hat es Ihnen nicht ausgemacht?«
»Weshalb?«
»Sie haben ihn gekannt, nicht wahr?«
»Natürlich. Er war hier beschäftigt.«
»Sie haben ihn doch etwas besser gekannt, nicht wahr?«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Na, Lady Sedgwick. Er war doch Ihr Mann. Stimmt’s?«
Sie antwortete nicht sofort, obwohl man ihr weder Erregung noch Erstaunen ansah.
»Sie wissen sehr viel, Chefinspektor, ja?« Sie seufzte und lehnte sich im Sessel zurück. »Ich hatte ihn seit langer Zeit nicht mehr gesehen, seit über zwanzig Jahren. Dann, als ich eines Tages aus dem Fenster sah, entdeckte ich Micky plötzlich.«
»Und er hat Sie auch erkannt?«
»Ganz erstaunlich, dass wir beide uns wieder erkannten«, sagte Bess Sedgwick. »Wir waren nur etwa eine Woche lang zusammen gewesen. Dann holte mich meine Familie in Ungnade zurück. Man zahlte Micky eine Abfindungssumme.«
Sie hielt einen Moment inne.
»Ich war noch sehr jung, als ich damals mit ihm durchbrannte. Ich war nur ein törichtes Mädchen, hatte nichts als romantische Ideen im Kopf. Er war in meinen Augen ein Held, hauptsächlich, weil er so gut reiten konnte. Er kannte keine Furcht und war ein hübscher Bursche, und lustig war er, wie es die Iren sind. Eigentlich bin ich wohl mit ihm davongelaufen! Ihm wäre es wahrscheinlich nie in den Sinn gekommen. Aber ich war wild, halsstarrig und rasend verliebt!« Sie schüttelte den Kopf. »Es hat nicht lange gedauert… Die ersten vierundzwanzig Stunden genügten, um mir meine Illusionen zu rauben. Er trank und war brutal. Als meine Familie erschien und mich wieder mit nachhause nahm, war ich dankbar. Ich wollte ihn nie wieder sehen, nie wieder etwas von ihm hören.«
»Wusste Ihre Familie, dass Sie mit ihm verheiratet waren?«
»Nein.«
»Haben Sie es verschwiegen?«
»Ich lebte in dem Glauben, gar nicht verheiratet zu sein.«
»Wie das?«
»Wir wurden in Ballygowlan getraut, aber als meine Angehörigen mich zurückholten, sagte mir Micky, die Trauung sei nur ein Schwindel gewesen. Er und seine Freunde hätten die ganze Sache inszeniert. Damals hielt ich es für durchaus möglich, dass er sich so etwas geleistet haben könnte. Ob er die Abfindung haben wollte oder ob er fürchtete, gegen das Gesetz verstoßen zu haben, weil er eine Minderjährige heiratete, weiß ich nicht. Jedenfalls zweifelte ich auch nicht einen Augenblick daran, dass er mir die Wahrheit gesagt hatte – damals nicht.«
»Und später?«
Sie schien in Gedanken versunken. »Erst etliche Jahre hinterher, als ich etwas mehr vom Leben und von juristischen Dingen wusste, ging mir plötzlich auf, dass ich wahrscheinlich doch mit Micky Gorman verheiratet war!«
»Ihre Eheschließung mit Lord Coniston war demnach Bigamie.«
»Ja, und auch die mit Johnny Sedgwick und ebenfalls die mit meinem amerikanischen Mann Ridgway Becker.« Sie blickte Chefinspektor Davy an und lachte. Ihre Heiterkeit war offenbar echt.
»So viel Bigamie«, fuhr sie fort. »Es kommt einem wirklich lächerlich vor.«
»Haben Sie nie an eine Scheidung gedacht?«
Sie zuckte die Achseln. »Die ganze Episode erschien mir wie ein törichter Traum. Warum sollte man alles wieder aufrühren? Johnny habe ich es natürlich gestanden.« Ihre Stimme klang weicher und wärmer, als sie seinen Namen erwähnte.
»Und was hat er dazu gesagt?«
»Ihm machte es nichts aus. Weder Johnny noch ich haben uns je um Konventionen geschert.«
»Bigamie ist strafbar, Lady Sedgwick.«
Sie blickte ihn an und lachte.
»Wer sollte sich je Gedanken machen über etwas, was vor Jahren in Irland geschah? Micky hatte sein Geld genommen und war abgezogen. Oh, verstehen Sie das denn nicht? Es war in meinen Augen nur ein dummer kleiner Zwischenfall, den ich vergessen wollte. Für mich war die Geschichte erledigt – genauso wie viele andere Dinge, die im Leben keine Rolle spielen.«
»Und dann«, sagte Vater in gelassenem Ton, »tauchte Michael Gorman eines Tages im November wieder auf und versuchte, Sie zu erpressen.«
»Unsinn! Wer behauptet denn so etwas?«
Langsam wanderten Vaters Augen zu der alten Dame, die so ruhig und kerzengerade in ihrem Sessel saß.
»Sie?« Bess Sedgwick starrte Miss Marple an. »Was können Sie schon davon wissen?«
Ihre Stimme klang eher neugierig als anklagend.
»Die Sessel in diesem Hotel haben sehr hohe Rückenlehnen«, sagte Miss Marple. »Äußerst bequeme Lehnen. Eines Morgens saß ich im Schreibzimmer in einem solchen Sessel vor dem Feuer, um mich etwas auszuruhen, ehe ich ausging. Sie kamen herein, um einen Brief zu schreiben. Vermutlich haben Sie nicht gemerkt, dass noch jemand im Zimmer war. Und so wurde ich Zeuge Ihrer Unterhaltung mit diesem Gorman.«
»Haben Sie etwa zugehört?«
»Natürlich. Warum auch nicht? Es war ja ein allgemein zugänglicher Raum. Als Sie das Fenster aufstießen und dem Mann da draußen etwas zuriefen, hatte ich keine Ahnung, dass sich daraus ein vertrauliches Gespräch zwischen Ihnen entwickeln würde.«
Bess starrte sie eine Weile an, dann nickte sie langsam.
»Nun, das lasse ich gelten«, sagte sie. »Dennoch haben Sie das, was Sie gehört haben, falsch ausgelegt. Micky hat mich nicht erpresst. Er hat vielleicht mit dem Gedanken gespielt, aber ich habe ihn gewarnt, ehe er einen Versuch unternehmen konnte!« Ihre Lippen verzogen sich wieder zu dem breiten, großzügigen Lächeln, das ihr Gesicht so anziehend machte. »Ich habe ihn abgeschreckt.«
»Ja«, pflichtete ihr Miss Marple bei. »Ich glaube, das ist Ihnen wohl gelungen. Sie drohten, ihn zu erschießen. In der Tat, Sie haben die ganze Sache sehr gut gedeichselt, wenn ich mir diese Bemerkung gestatten darf, ohne unverschämt zu erscheinen.«
Bess Sedgwick zog amüsiert die Augenbrauen hoch.
»Aber ich war nicht die Einzige, die Ihre Unterhaltung mit angehört hat«, fuhr Miss Marple fort.
»Du lieber Himmel! War das ganze Hotel im Zimmer?«
»Im anderen Sessel saß auch jemand.«
»Und wer?«
Miss Marple presste die Lippen zusammen. Sie schaute zu Chefinspektor Davy hinüber, und es war ein fast flehender Blick, der besagte: ›Wenn es unbedingt sein muss, dann sagen Sie es ihr, aber ich kann es nicht…‹
»Ihre Tochter saß in dem anderen Sessel«, sagte Chefinspektor Davy.
»Nein!« Heftige Abwehr lag in ihrer Stimme. »O nein. Nicht Elvira! Nun verstehe ich. Sie muss gedacht haben…«
»Sie war so beeindruckt von dem, was sie hörte, dass sie nach Irland geflogen ist, um nach der Wahrheit zu forschen. Es war nicht schwierig, sie herauszufinden.«
Abermals sagte Bess Sedgwick bestürzt: »O nein…« Und dann: »Armes Kind!… Sie hat nie eine Frage an mich gestellt, selbst jetzt nicht. Sie hat alles für sich behalten, alles in sich hineingefressen. Wenn sie sich nur ausgesprochen hätte, dann hätte ich ihr alles erklären können – hätte ihr zeigen können, dass es ohne Bedeutung ist.«
»Darüber hätte sie vielleicht ganz anders gedacht«, sagte Chefinspektor Davy. »Es ist eigentlich komisch, wissen Sie«, fuhr er in einer beinahe geschwätzigen Art fort, wobei er wie ein Farmer aussah, der über sein Vieh und sein Land spricht, »jahrelange Erfahrung hat mich gelehrt, einer Sache nicht zu trauen, wenn sie zu einfach und logisch aussieht. Einfache Kausalzusammenhänge sind oft zu schön, um wahr zu sein. Der Mord neulich abends gehörte auch in diese Kategorie. Das Mädchen sagte, jemand habe auf sie geschossen und sein Ziel verfehlt. Der Portier lief herbei, um sie zu retten, und die zweite Kugel erwischte ihn. Das kann ja alles stimmen. So mag es in den Augen Ihrer Tochter ausgesehen haben. Aber die Dinge können auch anders liegen.
Sie behaupteten soeben mit ziemlicher Heftigkeit, Lady Sedgwick, dass Ladislaus Malinowski keinen Grund gehabt habe, einen Anschlag auf das Leben Ihrer Tochter zu verüben. Nun, ich möchte Ihnen da Recht geben. Ich glaube, es gab keinen Grund für ihn. Er ist der Typ, der bei einem Streit mit einer Frau vielleicht ein Messer zieht und sie damit ersticht. Aber wahrscheinlich würde er sich nicht in einem Kellervorhof verstecken und kaltblütig warten, um sie zu erschießen. Nehmen wir doch einmal an, er wollte jemand anders erschießen. Schreie und Schüsse – das tatsächliche Ereignis aber ist, dass Michael Gorman getötet wurde. Vielleicht war das beabsichtigt. Malinowski legt sich sorgfältig einen Plan zurecht. Er wählt eine neblige Nacht, versteckt sich in dem Kellervorhof und wartet, bis Ihre Tochter die Straße entlangkommt. Er weiß, dass sie kommt, da er es so eingerichtet hat. Er feuert einen Schuss ab, der das Mädchen aber gar nicht treffen soll. Im Gegenteil, Malinowski schießt absichtlich daneben. Sie aber nimmt an, dass man auf sie gezielt habe. Sie schreit. Der Portier des Hotels, der den Schuss und den Schrei gehört hat, stürzt auf die Straße, und dann erschießt Malinowski den Mann, dem er die Kugel zugedacht hat. Michael Gorman.«
»Ich glaube kein Wort davon! Warum in aller Welt hätte Ladislaus Michael Gorman erschießen wollen?«
»Ein kleiner Erpressungsversuch könnte der Grund gewesen sein.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Micky Ladislaus erpresste? Weshalb?«
»Vielleicht«, erwiderte Vater, »wegen der Dinge, die in Bertrams Hotel vor sich gehen. Michael Gorman war möglicherweise in dieser Hinsicht hinter allerlei gekommen.«
»Dinge, die in Bertrams Hotel vor sich gehen? Was soll das heißen?«
»Es ist ein tadellos geplantes Unternehmen, glänzend organisiert«, sagte Vater. »Aber nichts währt ewig. Miss Marple fragte mich vor Kurzem, was eigentlich an diesem Hotel nicht stimme. Diese Frage will ich jetzt beantworten. Bertrams Hotel ist in Wirklichkeit das Hauptquartier eines der besten und größten Verbrechersyndikate, dem wir seit Jahren begegnet sind.«