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Die Büroräume der Anwaltsfirma Egerton, Forbes & Wilborough lagen in Bloomsbury, und zwar an einem jener imposanten und würdevollen Plätze, die dem Wandel der Zeit standgehalten hatten. Ihr Messingschild war – wie sich das für eine alte Firma gehört – bis zur Unkenntlichkeit abgenützt. Die Firma bestand seit über hundert Jahren, und ein ansehnlicher Teil des englischen Landadels gehörte zu ihren Klienten. In der Firma existierte kein Forbes mehr und auch kein Wilborough. Allerdings war noch ein Egerton vorhanden, ein Nachkomme des ursprünglichen Egerton. Er war ein Mann von zweiundfünfzig Jahren und Ratgeber mehrerer Familien, die in früheren Tagen schon von seinem Großvater, seinem Onkel und seinem Vater beraten worden waren.

In diesem Augenblick saß er hinter einem riesigen Mahagonischreibtisch in seinem hübsch ausgestatteten Zimmer im ersten Stock und nahm den Hörer von der Gabel. »Lord Frederick ist fort. Schicken Sie bitte Miss Blake herauf.«

Während er auf sie wartete, stellte er eine kurze Berechnung auf seinem Notizblock an. Wie viele Jahre waren vergangen, seit – sie musste jetzt fünfzehn oder sechzehn sein oder siebzehn, vielleicht sogar noch älter. Die Zeit flog ja nur so dahin. Conistons Tochter, dachte er, und Bess’ Tochter. Wem sie wohl nachschlägt?

Die Tür öffnete sich. Der Angestellte meldete Miss Elvira Blake, und das Mädchen trat ins Zimmer. Egerton erhob sich von seinem Stuhl und kam auf sie zu. Äußerlich, dachte er, ähnelt sie weder ihr noch ihm.

»Wahrscheinlich«, meinte Elvira ein wenig unsicher, »hätte ich Ihnen erst schreiben sollen, um einen Termin auszumachen. Aber ich habe mich eigentlich ganz plötzlich zu diesem Besuch entschlossen; ich wollte die Gelegenheit wahrnehmen, da ich gerade in London bin.«

»Und was machen Sie hier?«

»Ich muss meine Zähne nachsehen lassen.«

»Ekelhafte Dinger, diese Zähne«, meinte Egerton. »Bereiten uns Scherereien von der Wiege bis zur Bahre. Aber ich bin Ihren Zähnen dankbar, dass sie mir das Vergnügen verschaffen, Sie zu sehen. Warten Sie mal, Sie waren gerade in Italien, nicht wahr, in einem Pensionat…«

»Ja«, erwiderte Elvira, »bei der Contessa Martinelli. Aber ich kehre nicht mehr dorthin zurück. Im Augenblick wohne ich bei den Melfords in Kent, bis ich mir überlegt habe, was ich unternehmen will.«

»Na, ich hoffe, Sie finden etwas Befriedigendes. Sie denken wohl nicht an ein Studium?«

»Nein«, entgegnete Elvira, »ich glaube nicht, dass ich klug genug dafür bin.« Sie ließ eine kleine Pause eintreten, ehe sie fortfuhr: »Ich nehme an, dass Sie zu allen meinen Plänen Ihre Zustimmung geben müssen.«

Egerton warf ihr einen scharfen Blick zu.

»Ja. Ich bin einer Ihrer Vormunde und ein Treuhänder entsprechend dem Testament Ihres Vaters. Sie sind daher durchaus berechtigt, sich jederzeit an mich zu wenden.«

Elvira sagte höflich: »Danke.«

»Haben Sie irgendetwas auf dem Herzen?«

»Nein. Eigentlich nicht. Aber sehen Sie, ich bin überhaupt nicht im Bilde. Niemand hat mich jemals über den Stand der Dinge aufgeklärt. Man mag auch nicht immer fragen.«

Er blickte sie aufmerksam an.

»Sie möchten wohl mehr über sich selbst erfahren, wie?«

»Ja«, sagte Elvira. »Wie schön, dass Sie Verständnis dafür haben. Onkel Derek…« Sie zögerte.

»Derek Luscombe, meinen Sie?«

»Ja. Ich habe ihn immer Onkel genannt.«

»Ach so.«

»Er ist sehr gütig«, fuhr Elvira fort. »Aber es ist nicht seine Art, etwas mit mir zu besprechen. Er arrangiert einfach alles und blickt mich ängstlich fragend an, ob es auch nach meinem Geschmack sei. Er hört natürlich viel auf andere – Frauen, meine ich –, die ihm so mancherlei erzählen. Wie die Contessa Martinelli. Er sucht Schulen und Pensionate für mich aus.«

»Und es waren solche, die Sie selbst nicht gewählt hätten?«

»Das habe ich nicht gemeint. Sie waren ganz ordentlich. Ich wollte nur sagen: Sie waren mehr oder weniger das gesellschaftlich Übliche.«

»Ich verstehe.«

»Aber ich weiß nichts über mich selbst. Zum Beispiel, wie viel Geld ich habe und was ich damit anfangen könnte, wenn ich wollte.«

»Mit anderen Worten«, sagte Egerton mit seinem anziehenden Lächeln, »Sie wollen übers Geschäftliche sprechen, nicht wahr? Nun, meiner Ansicht nach haben Sie ganz Recht. Einen Augenblick mal. Wie alt sind Sie jetzt eigentlich? Sechzehn – siebzehn?«

»Ich bin fast zwanzig.«

»Oje. Das wusste ich gar nicht.«

»Ich habe dauernd das Gefühl, dass ich behütet und beschützt werde«, erklärte Elvira. »In gewisser Hinsicht ganz schön, aber es kann auch sehr lästig sein.«

»Eine etwas altmodische Einstellung«, pflichtete Egerton ihr bei, »aber sie passt zu Derek Luscombe. Nun, was wissen Sie eigentlich über sich, Elvira, oder, genauer gesagt, über Ihre Familienverhältnisse?«

»Ich weiß, dass mein Vater starb, als ich fünf Jahre alt war, und dass meine Mutter ihm mit einem anderen davongelaufen ist, als ich etwa zwei war. An sie erinnere ich mich überhaupt nicht mehr und an meinen Vater kaum noch. Er war sehr alt und hatte ein Bein meistens auf einem Stuhl hochgelegt. Er fluchte häufig, und ich hatte ziemliche Angst vor ihm. Nach seinem Tod lebte ich zunächst bei einer Tante oder Kusine meines Vaters, bis auch sie starb, und dann kam ich zu Onkel Derek und seiner Schwester. Als seine Schwester starb, ging ich nach Italien. Und jetzt hat Onkel Derek dafür gesorgt, dass ich bei seinen Kusinen, den Melfords, unterkomme. Sie sind sehr freundlich und haben zwei Töchter ungefähr in meinem Alter.«

»Fühlen Sie sich dort wohl?«

»Das kann ich noch nicht beurteilen. Ich bin gerade erst angekommen. Sie sind alle ziemlich langweilig. Ich möchte wirklich gern wissen, wie viel Geld ich zu erwarten habe.«

»Sie wünschen also eine Auskunft über Ihre finanziellen Verhältnisse?«

»Ja«, antwortete Elvira. »Ich habe Geld, das weiß ich. Ist es viel?«

Egerton war jetzt ganz ernst.

»Ja«, sagte er. »Sie haben eine Menge Geld. Ihr Vater war ein sehr reicher Mann, und Sie waren sein einziges Kind. Bei seinem Tod erbte ein Vetter den Titel und den Landsitz. Ihr Vater mochte diesen Vetter nicht. Daher vermachte er seinen ganzen, ziemlich beträchtlichen persönlichen Besitz seiner Tochter – Ihnen, Elvira. Sie sind ein sehr reiches Mädchen oder werden es sein, wenn Sie einundzwanzig sind.«

»Soll das heißen, dass ich jetzt nicht reich bin?«

»Doch, Sie sind auch jetzt wohlhabend, aber Sie können erst darüber verfügen, wenn Sie einundzwanzig sind oder heiraten. Bis zu dem Zeitpunkt wird Ihr Vermögen von Ihren Treuhändern verwaltet, von Luscombe, mir und noch einem dritten.« Er lächelte ihr zu. »Wir haben es nicht unterschlagen, es ist immer noch da. Durch gute Anlagen haben wir Ihr Kapital sogar bedeutend vermehrt.«

»Wie viel werde ich haben?«

»Im Alter von einundzwanzig Jahren oder bei Ihrer Heirat wird Ihnen eine Summe zur Verfügung stehen, die nach grober Schätzung etwa sechs- oder siebenhunderttausend Pfund betragen dürfte.«

»Das ist allerdings sehr viel«, sagte Elvira beeindruckt.

»Ja, das kann man wohl behaupten. Eben weil es so viel ist, hat wahrscheinlich niemand groß mit Ihnen darüber geredet.«

Er beobachtete sie, während sie sich dies durch den Kopf gehen ließ. Ein ganz interessanter Typ, dachte er. Sah aus, als könnte sie kein Wässerchen trüben, aber es steckte mehr dahinter. Sehr viel mehr. Mit leicht ironischem Lächeln sagte er:

»War die Auskunft zufrieden stellend?«

Sie lächelte ihn plötzlich an.

»Das sollte man annehmen, nicht wahr?«

»Bedeutend besser als ein Totogewinn«, bemerkte er.

Sie nickte, aber ihre Gedanken waren woanders. Dann stellte sie eine überraschende Frage.

»Wer bekommt das Geld, wenn ich sterbe?«

»Wie die Dinge jetzt liegen, würde es Ihrem nächsten Verwandten zufallen.«

»Jemand hat mir gesagt, ich könne jetzt kein Testament machen. Erst mit einundzwanzig Jahren. Das stimmt also?«

»Der Betreffende hatte durchaus Recht.«

»Das ist eigentlich ziemlich ärgerlich. Wenn ich verheiratet wäre, würde bei meinem Tod mein Mann wohl das Geld erben, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und wenn ich unverheiratet wäre, bekäme es meine Mutter als nächste Verwandte. Ich scheine tatsächlich sehr wenige Verwandte zu haben. Ich kenne nicht einmal meine Mutter. Wie ist sie eigentlich?«

»Sie ist eine sehr bemerkenswerte Frau«, entgegnete Egerton schroff. »Das ist wohl das Urteil aller.«

»Hat sie je den Wunsch gehabt, mich zu sehen?«

»Vielleicht… ich halte es für durchaus möglich. Da sie jedoch – in gewisser Beziehung wenigstens – ihr eigenes Leben ziemlich vermasselt hat, hielt sie es wohl für richtiger, dass Sie fern von ihr aufwuchsen.«

»Wissen Sie bestimmt, dass sie so denkt?«

»Nein. Ich weiß in Wirklichkeit nichts darüber.«

Elvira erhob sich.

»Ich danke Ihnen vielmals«, sagte sie. »Es war sehr freundlich von Ihnen, mir dies alles mitzuteilen.« Sie reichte ihm ihre Hand und sagte sehr charmant: »Ich bin Ihnen sehr dankbar. Hoffentlich habe ich Sie nicht bei einer wichtigen Arbeit gestört.« Damit ging sie hinaus.

Egerton stand eine Weile da und blickte auf die Tür, die sich hinter ihr geschlossen hatte. Er spitzte die Lippen, pfiff leise vor sich hin, setzte sich dann kopfschüttelnd an den Schreibtisch und nahm den Hörer von der Gabel.

»Miss Cordell, verbinden Sie mich bitte mit Colonel Luscombe. Versuchen Sie es erst in seinem Klub.«

Er legte den Hörer wieder auf. Alsbald ertönte der Summer.

»Colonel Luscombe ist jetzt am Apparat, Mr Egerton.«

»Gut. Stellen Sie durch. Hallo, Derek. Hier ist Richard Egerton. Wie geht es dir? Ich habe soeben Besuch gehabt von jemandem, den du auch kennst. Von deinem Mündel.«

»Von Elvira?« Derek Luscombe schien erstaunt zu sein.

»Ja.«

»Aber warum denn nur – warum um Himmels willen hat sie dich aufgesucht? Hat doch keine Dummheiten gemacht, wie?«

»Nein, im Gegenteil, sie schien ziemlich – zufrieden mit sich zu sein. Sie wollte sich über ihre finanziellen Verhältnisse orientieren.«

»Du hast sie doch hoffentlich nicht aufgeklärt«, sagte Colonel Luscombe voller Besorgnis.

»Warum nicht? Was hat diese Geheimniskrämerei für einen Sinn?«

»Nun, ich habe das Gefühl, es ist unklug, ein Mädchen wissenzulassen, dass es eine so große Summe zu erwarten hat.«

»Wenn wir es nicht tun, wird sie es von anderer Seite erfahren. Sie muss darauf vorbereitet werden, weißt du. Geld bedeutet eine große Verantwortung.«

»Ja, aber sie ist noch so kindlich.«

»Bist du dessen so sicher?«

»Was soll das heißen? Natürlich ist sie noch ein Kind.«

»Ich würde sie nicht als Kind bezeichnen. Wer ist der Verehrer?«

»Wie bitte?«

»Wer der Verehrer ist, habe ich gefragt. Es ist doch ein Mann im Spiel, nicht wahr?«

»Nein, wirklich nicht. Wie kommst du darauf?«

»Sie hat es zwar nicht deutlich ausgesprochen. Aber ich besitze so meine Erfahrungen, weißt du. Ich glaube, dass sie einen Freund hat.«

»Ich kann dir versichern, dass du dich irrst. Ich meine, sie ist höchst sorgfältig erzogen worden. Sie hat sehr strenge Schulen besucht und war in einem der vornehmsten Pensionate in Italien. Ich wüsste es bestimmt, wenn sie irgendein Techtelmechtel hätte. Sicherlich hat sie ein paar nette junge Burschen kennen gelernt, aber ich bin überzeugt, dass kein solches Verhältnis besteht, wie du es andeutest.«

»Nun, meine Diagnose lautet: ein Verehrer – und wahrscheinlich ein unerwünschter.«

»Aber warum, Richard, warum? Was weißt du denn schon von jungen Mädchen?«

»Eine ganze Menge«, erwiderte Egerton trocken. »Du solltest ein wachsames Auge auf sie haben, Derek. Hör dich mal etwas um und versuch, in Erfahrung zu bringen, was sie sich so alles geleistet hat.«

»Unsinn. Sie ist nichts weiter als ein liebes Mädchen.«

»Was dir von lieben Mädchen nicht bekannt ist, würde ein ganzes Buch füllen! Ihre Mutter rannte davon und verursachte einen Skandal – erinnerst du dich noch? –, als sie jünger war, als Elvira heute ist. Und der alte Coniston war einer der schlimmsten Wüstlinge von England.«

»Was du mir sagst, Richard, bringt mich ganz aus der Fassung.«

»Es ist ganz gut, dass du darauf aufmerksam gemacht wirst. Eine ihrer anderen Fragen gefiel mir auch nicht recht. Warum ist sie so erpicht darauf, zu erfahren, wer ihr Geld erben wird, wenn sie stirbt?«

»Merkwürdig, dass sie dich danach gefragt hat, denn sie wollte von mir das Gleiche wissen.«

»Wirklich? Warum sollte sie sich mit ihrem vorzeitigen Tod befassen? Sie hat sich übrigens nach ihrer Mutter erkundigt.«

Colonel Luscombes Stimme klang besorgt, als er sagte: »Ich wollte, Bess würde sich des Mädchens annehmen.«

»Hast du mit ihr über das Thema gesprochen – mit Bess, meine ich?«

»Nun, ja… ja, allerdings. Ich habe sie zufällig getroffen. Wir wohnten im selben Hotel. Ich habe es Bess dringend nahe gelegt, sich um Elvira zu kümmern.«

»Und was hat sie darauf erwidert?«, fragte Egerton neugierig.

»Hat sich glatt geweigert. Sie hat mir praktisch zu verstehen gegeben, dass sie kein passender Umgang für das Mädchen sei.«

»In gewisser Hinsicht hat sie da meiner Ansicht nach sogar Recht«, meinte Egerton. »Sie hat sich mit diesem Rennfahrer eingelassen, nicht wahr?«

»Ich habe so etwas munkeln hören.«

»Ja, ich auch. Ich weiß nicht, ob wirklich etwas dahinter steckt, aber es könnte wohl stimmen. Das ist vielleicht auch ein Grund ihrer Einstellung zu Elvira. Von Zeit zu Zeit sind Bess’ Freunde ein etwas starker Tobak. Aber was für eine Frau sie ist, nicht wahr? Derek? Was für eine Frau!«

»Hat sich selbst immer am meisten im Weg gestanden.«

»Eine wirklich nette konventionelle Bemerkung«, kommentierte Egerton. »Nun, Derek, entschuldige bitte die Störung, aber halt die Augen offen, falls unerwünschte Elemente im Hintergrund lauern sollten. Jedenfalls kannst du nicht sagen, du seist nicht gewarnt worden.«