20
Nebel hatte sich an diesem Abend plötzlich auf London herabgesenkt. Chefinspektor Davy schlug seinen Mantelkragen hoch und bog in die Pond Street ein. Er schlenderte langsam dahin wie ein Mann, der mit seinen Gedanken woanders ist. Pond Street war an diesem Abend ruhig. Wenige Autos waren zu sehen. Anfangs war es nur stellenweise neblig gewesen, dann hatte es aufgeklart, und jetzt hatte sich der Nebel wieder verdichtet. Der Verkehrslärm der Park Lane klang so gedämpft herüber, dass man glaubte, in einer vorstädtischen Nebenstraße zu sein. Die meisten Busse hatten den Verkehr eingestellt. Nur Personenwagen kamen von Zeit zu Zeit vorbei. Chefinspektor Davy bog in eine Sackgasse ein, ging bis ans Ende und kehrte wieder um. Er schlug erst die eine Richtung ein, dann eine andere – wanderte offenbar ziellos umher. Aber er handelte nicht ziellos. In Wirklichkeit schlich er um ein besonderes Gebäude herum. Bertrams Hotel. Er stellte sorgfältig fest, was im Osten, im Westen, im Norden und im Süden des Hauses lag. Er prüfte die Wagen, die am Gehsteig geparkt waren, und er betrachtete die Autos, die in der Sackgasse standen. Er besichtigte eingehend eine enge Hintergasse. Ein Wagen interessierte ihn ganz besonders, und er blieb stehen. Er spitzte die Lippen und sagte leise vor sich hin: »Du bist also mal wieder hier, du Prachtexemplar.« Er warf einen Blick auf die Nummer und nickte vor sich hin. »FAN 2266 bist du heute Abend, ja?« Er beugte sich herab und strich leicht mit dem Finger über das Nummernschild. Dann nickte er anerkennend. »Gute Arbeit« flüsterte er.
Er ging weiter bis zum anderen Ende der Gasse, wandte sich dann nach rechts und abermals nach rechts und tauchte wieder einmal in der Pond Street auf, und zwar fünfzig Meter vom Eingang zu Bertrams Hotel entfernt. Noch einmal blieb er stehen und bewunderte die schönen Linien eines anderen Rennwagens.
»Auch du bist ein Prachtstück«, sagte Chefinspektor Davy. »Du hast dasselbe Nummernschild wie bei unserer letzten Begegnung. Ich glaube fast, dein Nummernschild ist tatsächlich immer dasselbe. Und das sollte bedeuten« – er brach ab – »oder etwa nicht?«, murmelte er. Er blickte auf zum unsichtbaren Himmel. »Der Nebel wird dichter«, brummte er vor sich hin.
Draußen vor der Tür zu Bertrams Hotel stand der irische Portier und schwenkte seine Arme heftig hin und her, um sich warm zu halten. Chefinspektor Davy wünschte ihm einen guten Abend.
»Guten Abend, Sir. Ekelhaftes Wetter.«
»Ja. Heute wird sich wohl kaum noch jemand hinauswagen, der nicht dringend weg muss.«
Er wies mit dem Daumen auf Bertrams Hotel.
»Ich muss da hinein. Habe etwas zu erledigen.«
»Geht es immer noch um den verschwundenen Kanonikus?«
»Wohl kaum. Man hat ihn gefunden.«
»Gefunden?« Der Mann starrte ihn an. »Wo denn?«
»Er wurde nach einem Unfall mit einer Gehirnerschütterung aufgelesen.«
»Aha, das sieht ihm ähnlich. Hat wohl die Straße überquert, ohne nach rechts oder links zu schauen.«
»Scheint so«, sagte Vater.
Er nickte und trat durch die Schwingtüren ins Hotel. An diesem Abend hielten sich nicht sehr viele Leute in der Halle auf. Er entdeckte Miss Marple in einem Sessel am Feuer. Miss Marple sah ihn ebenfalls, ohne sich jedoch anmerken zu lassen, dass sie ihn erkannt hatte. Er ging zum Empfang.
Miss Gorringe saß wie immer hinter ihren Büchern. Sie wurde ein wenig nervös, als sie ihn sah. Es war eine sehr schwache Reaktion, aber sie entging ihm nicht.
»Sie entsinnen sich ja wohl an mich, Miss Gorringe«, sagte er. »Ich war vor einigen Tagen hier.«
»Ja, natürlich erinnere ich mich an Sie, Chefinspektor. Wünschen Sie noch eine weitere Auskunft? Möchten Sie mit Mr Humfries sprechen?«
»Nein, danke. Ich glaube nicht, dass es nötig sein wird. Ich würde ganz gern noch einen Blick in Ihr Hotelregister werfen, wenn ich darf.«
»Selbstverständlich.« Sie schob es ihm hin.
Er schlug es auf, und sein Blick glitt langsam über die Seiten. Miss Gorringe hatte den Eindruck, als suchte er nach einem besonderen Eintrag. In Wirklichkeit war das nicht der Fall. Vater besaß ein Talent, das er bis zur höchsten Vollendung entwickelt hatte. Er konnte sich Namen und Adressen genau merken, hatte sozusagen ein fotografisches Gedächtnis, mit dem er solche Angaben vierundzwanzig, manchmal sogar achtundvierzig Stunden behielt. Er schüttelte den Kopf, als er das Buch wieder zumachte und ihr zurückgab.
»Kanonikus Pennyfather ist wohl noch nicht wieder hier gewesen, wie?«
»Kanonikus Pennyfather?«
»Sie wissen doch, dass er wieder aufgetaucht ist, nicht wahr?«
»Aber nein. Das hat mir niemand gesagt. Wo denn?«
»Irgendwo auf dem Lande. Autounfall, wie es scheint. Ist uns nicht gemeldet worden. Irgendein guter Samariter hat ihn einfach aufgelesen und für ihn gesorgt.«
»Oh, das freut mich aber. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht.«
»Seine Freunde ebenfalls«, sagte Vater. »Ich habe eben nachgesehen, ob sich einer von ihnen vielleicht hier aufhält. Erzdiakon – Erzdiakon – ich komme im Augenblick nicht auf den Namen, würde ihn aber erkennen, wenn ich ihn sähe.«
»Tomlinson?«, meinte Miss Gorringe hilfsbereit. »Wir erwarten ihn nächste Woche. Von Salisbury.«
»Nein, Tomlinson war es nicht. Nun, es ist nicht so wichtig.« Er wandte sich ab.
Es war an diesem Abend sehr ruhig in der Halle.
Chefinspektor Davy nahm im Vorbeigehen von allen Anwesenden Notiz. Ohne Hast und ohne offenbare Absicht gelangte er an sein Ziel.
Miss Marple saß am Kamin und beobachtete, wie er sich ihr näherte.
»Sie sind also noch immer hier, Miss Marple. Das freut mich.«
»Ich reise morgen ab«, sagte Miss Marple. »Meine vierzehn Tage Ferien sind zu Ende.«
»Sie haben sie hoffentlich genossen.«
Miss Marple antwortete nicht gleich.
»In einer Hinsicht – ja – « Sie brach ab.
»Und in anderer Hinsicht, nein?«
»Es ist schwierig zu erklären, was ich meine…«
»Sitzen Sie nicht vielleicht ein wenig zu nahe am Feuer? Ziemlich heiß hier. Möchten Sie sich nicht lieber woandershin setzen – vielleicht an den Ecktisch da drüben?«
Miss Marple betrachtete die angedeutete Sitzgruppe, dann den Chefinspektor.
»Ich glaube, Sie haben Recht«, meinte sie.
Er half ihr beim Aufstehen, trug ihre Handtasche und ihr Buch und machte es ihr in der von ihm gewählten ruhigen Ecke bequem.
»So besser?«
»Bedeutend besser.«
»Sie wissen, warum ich diesen Vorschlag machte?«
»Sie nahmen an – ein sehr freundlicher Gedanke –, dass es für mich zu heiß sei am Feuer. Außerdem«, fügte sie langsam hinzu, »kann unsere Unterhaltung hier wohl nicht belauscht werden.«
»Haben Sie etwas auf dem Herzen, was Sie mir erzählen möchten, Miss Marple?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Ich habe es Ihnen angesehen.«
»Es tut mir leid, dass ich es so deutlich gezeigt habe. Das lag nicht in meiner Absicht.«
»Na, wie war’s denn?«
»Ich weiß nicht recht, ob ich darüber sprechen soll. Bitte, glauben Sie mir, Inspektor, dass ich mich wirklich nicht gern in fremde Angelegenheiten mische. Ich bin durchaus dagegen. Selbst wenn eine solche Einmischung gut gemeint ist, kann sie großes Unheil anrichten.«
»Aha, darum geht es also. Ja, ich verstehe, es stellt ein ziemliches Problem für Sie dar.«
»Manchmal beobachtet man, dass Menschen etwas tun, was einem unklug – ja sogar gefährlich erscheint. Hat man aber das Recht, sich einzumischen? Meistens wohl nicht.«
»Geht es eigentlich um Kanonikus Pennyfather?«
»Kanonikus Pennyfather?« Miss Marple schien erstaunt. »O nein. Lieber Himmel, nein, es hat überhaupt nichts mit ihm zu tun. Es betrifft – ein junges Mädchen.«
»Ein Mädchen? Was Sie nicht sagen! Und Sie dachten, ich könnte helfen?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Miss Marple. »Ich weiß es wirklich nicht. Aber ich mache mir Sorgen, große Sorgen.«
Vater drängte nicht. Er ließ ihr Zeit. Sie hatte sich bemüht, ihn zu unterstützen, und er war durchaus bereit, ihr nach Kräften zu helfen. Er war nicht besonders interessiert. Andererseits konnte man nie wissen…
»Man liest oft in den Zeitungen«, fuhr Miss Marple mit leiser klarer Stimme fort, »Berichte über Gerichtsverhandlungen; von Kindern oder Jugendlichen, die ›schutz- und pflegebedürftig‹ sind. Es ist wohl nur ein juristischer Ausdruck, aber er könnte auch eine wirkliche Bedeutung haben.«
»Und Sie haben das Gefühl, dass diese junge Dame, die Sie erwähnten, schütz- und pflegebedürftig sei?«
»Ja. Ja, wirklich.«
»Steht sie allein auf der Welt?«
»O nein. Ganz und gar nicht. Allem äußeren Anschein nach ist sie wohl beschützt und genießt die beste Pflege.«
»Klingt ja spannend«, meinte Vater.
»Sie wohnte in diesem Hotel«, sagte Miss Marple, »in Begleitung einer gewissen Mrs Carpenter. Den Namen habe ich im Gästebuch nachgeschlagen. Das Mädchen heißt Elvira Blake.«
Vater blickte mit plötzlicher Anteilnahme auf.
»Sie ist reizend. Sehr jung und, wie ich schon sagte, wohl behütet und umsorgt. Ihr Vormund ist ein Colonel Luscombe, ein sehr netter Mann. Durchaus charmant. Schon etwas älter natürlich und, ich fürchte, schrecklich naiv.«
»Der Vormund oder das Mädchen?«
»Ich meinte den Vormund«, erwiderte Miss Marple. »Wie es in dieser Hinsicht um das Mädchen steht, ist mir nicht bekannt. Aber ich glaube allen Ernstes, dass sie in Gefahr schwebt. Ich habe sie vor Kurzem ganz zufällig im Battersea Park gesehen. Sie saß dort mit einem jungen Mann in einem Teegarten.«
»Aha, da liegt der Hund begraben«, sagte Vater. »Unerwünschter Typ wahrscheinlich. Ein Taugenichts – Gammler – Rowdy –?«
»Ein sehr gut aussehender Mann«, sagte Miss Marple. »Nicht so sehr jung. Über dreißig. Ein Mann, der auf Frauen sehr anziehend wirkt, möchte ich sagen. Aber sein Gesicht ist das Gesicht eines schlechten Menschen. Grausam, habichtartig, raubgierig.«
»Vielleicht ist er nicht so übel, wie er aussieht«, meinte Vater besänftigend.
»Eher noch schlechter«, erklärte Miss Marple. »Davon bin ich überzeugt. Er fährt einen großen Rennwagen.«
Vater blickte rasch auf. »Rennwagen?«
»Ja. Ein paar Mal habe ich ihn in der Nähe dieses Hotels stehen sehen.«
»Sie erinnern sich nicht zufällig an die Nummer?«
»O doch, FAN 2266. Ich hatte eine Kusine, die Fanny hieß«, setzte Miss Marple erläuternd hinzu. »Deshalb habe ich die Nummer behalten.«
Vater betrachtete sie ein wenig verblüfft.
»Wissen Sie, wer es ist?«, erkundigte sich Miss Marple.
»Allerdings«, sagte Vater langsam. »Halb Franzose, halb Pole. Sehr bekannter Rennfahrer. War vor drei Jahren Weltmeister. Sein Name ist Ladislaus Malinowski. In mancher Hinsicht sind Ihre Ansichten über ihn ganz zutreffend. Was Frauen angeht, genießt er einen schlechten Ruf. Mit anderen Worten, er ist kein passender Umgang für ein junges Mädchen. Aber es ist nicht leicht, in einer solchen Sache etwas zu unternehmen. Vermutlich trifft sie sich heimlich mit ihm. Hab ich Recht?«
»Das ist anzunehmen.«
»Haben Sie sich schon an ihren Vormund gewandt?«
»Ich kenne ihn nicht. Durch eine gemeinsame Bekannte ist er mir einmal vorgestellt worden, das ist alles. Und ich möchte lieber nicht als Klatschtante an ihn herantreten. Ich hatte im Stillen gehofft, dass Sie vielleicht etwas tun können.«
»Ich kann’s versuchen«, sagte Vater. »Übrigens wird es Sie vielleicht interessieren, dass Ihr Freund, Kanonikus Pennyfather wieder aufgetaucht ist.«
»Wirklich?« Miss Marple sah ganz aufgeregt aus. »Wo denn?«
»In einem Dorf, Milton St. John.«
»Wie sonderbar! Was hat er denn dort gemacht? Konnte er sich darauf besinnen?«
»Scheinbar« – Chefinspektor Davy betonte das Wort – »hat er einen Unfall erlitten.«
»Was für einen Unfall?«
»Von einem Auto angefahren, Gehirnerschütterung – er könnte natürlich auch einen Schlag auf den Kopf bekommen haben.«
»Ach so.« Miss Marple dachte nach. »Weiß er selbst es denn nicht?«
»Er behauptet, er wisse gar nichts.«
»Sehr merkwürdig.«
»Nicht wahr? Das Letzte, woran er sich erinnern kann, ist, dass er in einem Taxi nach Kensington zur Flughafenabfertigung fuhr.«
Miss Marple schüttelte verdutzt den Kopf.
»Ich weiß, so etwas kommt bei Gehirnerschütterungen vor«, murmelte sie. »Hat er gar nichts geäußert, was einen Hinweis geben könnte?«
»Er murmelte etwas von den Mauern von Jericho.«
»Josua?«, fragte Miss Marple zaghaft. »Oder Archäologie-Ausgrabungen?«
»Während dieser ganzen Woche bringen die Gaumont-Kinos nördlich der Themse: Die Mauern von Jericho«, sagte Vater.
Miss Marple blickte ihn misstrauisch an.
»Er hätte sich den Film in der Cromwell Road ansehen können. Dann wäre er gegen elf herausgekommen und anschließend hierher zurückgekehrt. Aber in dem Falle hätte ihn jemand sehen müssen – denn es wäre ja noch lange vor Mitternacht gewesen.«
»Ist wahrscheinlich in den falschen Bus gestiegen«, schlug Miss Marple vor. »Oder so etwas Ähnliches…«
»Sagen wir mal, er ist nach Mitternacht hier eingetroffen«, meinte Vater. »Dann hätte er auf sein Zimmer gehen können, ohne gesehen zu werden. – Aber wenn diese Vermutung zutrifft, was geschah dann? Und warum hat er das Hotel drei Stunden später wieder verlassen?«
Miss Marple suchte nach einer Erklärung.
»Die einzige Idee, die mir einfällt – oh!«
Sie fuhr zusammen. Draußen auf der Straße ertönte ein Knall.
»Fehlzündung«, sagte Vater beruhigend.
»Verzeihen Sie, dass ich so schreckhaft bin – ich bin heute Abend nervös – dies Gefühl, das man so hat…«
»Dass etwas passieren wird? Ich glaube, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.«
»Nebel war mir schon immer unheimlich.«
»Sie haben mir sehr geholfen«, bemerkte Chefinspektor Davy. »Die Dinge, die Sie hier beobachten – wenn’s auch nur Kleinigkeiten waren –, haben das Bild abgerundet.«
»In diesem Hotel stimmt also doch etwas nicht, wie?«
»Hier stimmt vieles nicht.«
Miss Marple seufzte.
»Zuerst erschien es so wunderbar – alles so unverändert. Wissen Sie – es war, als kehrte man in die Jugendzeit zurück – in eine Zeit, die man geliebt und genossen hatte.«
Sie ließ eine Pause eintreten. Dann fuhr sie fort:
»Nun, es schien alles in bester Ordnung zu sein – aber es war nicht so. Es war ein regelrechter Mischmasch – wirkliche Personen und solche, die nicht echt waren. Man konnte sie nicht immer unterscheiden.«
»Was verstehen Sie unter ›nicht echt‹?«
»Es waren pensionierte Offiziere anwesend, aber auch Personen, die wie Offiziere wirkten, aber nie in der Armee gedient hatten. Und Geistliche, die keine Geistlichen waren. Ferner Admirale und Kapitäne, die nie etwas mit der Marine zu tun gehabt hatten. Mein Gott, wenn ich noch an meine Freundin Selina Hazy denke – es amüsierte mich zuerst, wie begierig sie sich immer auf Menschen stürzte, in denen sie alte Bekannte zu erkennen glaubte, und wie oft sie sich irrte, weil es doch nicht die Menschen waren, für die sie sie gehalten hatte. Aber es passierte zu häufig. Also – kam mir die Sache allmählich etwas böhmisch vor. Selbst Rose, das Zimmermädchen – so nett –, erweckte in mir den Gedanken, dass sie vielleicht auch nicht echt sei.«
»Falls es Sie interessieren sollte – sie ist eine ehemalige Schauspielerin. Eine gute sogar. Bezieht hier eine bessere Gage als je auf der Bühne.«
»Aber – warum das Ganze?«
»In der Hauptsache, um die Atmosphäre zu vervollkommnen. Aber vielleicht steckt auch noch mehr dahinter.«
»Ich bin froh, dass ich von hier fortgehe«, gestand Miss Marple mit leichtem Schaudern. »Ehe etwas passiert.«
Chef Inspektor Davy blickte sie neugierig an.
»Was soll denn Ihrer Meinung nach geschehen?«, fragte er.
»Irgendetwas Böses«, erwiderte Miss Marple.
›»Etwas Böses‹ ist ein ziemlich starkes Wort…«
»Sie halten es für zu melodramatisch? Aber ich habe einige Erfahrung. Ich bin nämlich – ziemlich oft – mit Mord in Berührung gekommen.«
»Mord?« Chefinspektor Davy schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Mordverdacht. Es geht hier nur um die nette, gemütliche Aushebung einer auffallend raffinierten Verbrecherbande.«
»Das ist nicht dasselbe. Mord – der Wunsch, einen Mord zu begehen – ist etwas ganz anderes. Es ist – wie soll ich mich ausdrücken? – es ist eine Verachtung Gottes.«
Davy blickte sie an und sagte mit sanfter, beruhigender Stimme:
»Es wird kein Mord stattfinden, Miss Marple.«
Ein scharfer Knall, lauter als der frühere, drang von draußen herein. Dann ein Hilferuf und ein zweiter Knall.
Chefinspektor Davy war im Nu auf den Beinen und rannte mit einer für einen so massigen Mann erstaunlichen Geschwindigkeit los. In wenigen Sekunden war er durch die Schwingtüren und draußen auf der Straße.
Angstschreie – es war eine Frauenstimme – durchdrangen schrill den Nebel. Chefinspektor Davy raste in Richtung dieser Schreie die Pond Street hinab. Er konnte die schwachen Umrisse einer Frauengestalt erkennen, die an einem Geländer lehnte. Mit wenigen Schritten stand er neben ihr. Sie trug einen langen, hellen Pelzmantel, und ihr glänzendes blondes Haar fiel zu beiden Seiten ihres Gesichts herab. Einen flüchtigen Augenblick lang glaubte er zu wissen, wer es sei. Dann aber wurde er sich bewusst, dass er nur ein schmächtiges junges Mädchen vor sich hatte. Vor ihr lag der Körper eines Mannes in Uniform. Chefinspektor Davy erkannte ihn. Es war Michael Gorman.
Als Davy herangekommen war, klammerte sich das Mädchen, am ganzen Leibe zitternd, an ihn und stieß abgerissene Sätze hervor.
»Jemand hat versucht, mich zu töten… Irgendjemand… man hat auf mich geschossen… Wenn er nicht gewesen wäre – « Sie deutete auf die regungslose Gestalt zu ihren Füßen. »Er hat mir das Leben gerettet. Ich glaube, er ist verletzt – schwer verletzt…« Chefinspektor Davy kniete neben der Gestalt nieder und zog eine Taschenlampe hervor. Der große Ire war gefallen wie ein Soldat. Auf der linken Seite seines Uniformrocks zeigte sich ein feuchter Fleck, der immer größer wurde, je mehr Blut durch das Tuch sickerte. Davy zog sein Augenlid in die Höhe und berührte sein Handgelenk. Dann erhob er sich wieder.
»Ihn hat’s erwischt«, sagte er.
Das Mädchen stieß einen gellenden Schrei aus. »Wollen Sie etwa sagen, er ist tot? O nein, o nein! Er kann nicht tot sein.«
»Wer hat auf Sie geschossen?«
»Ich weiß es nicht… Ich hatte meinen Wagen an der nächsten Ecke stehen lassen und tastete mich hier am Geländer entlang – auf dem Weg zu Bertrams Hotel. Dann plötzlich ertönte ein Schuss, und eine Kugel sauste mir an der Wange vorbei – und dann kam er, der Portier vom Bertrams, auf mich zugelaufen und schob mich hinter sich, und dann fiel noch ein Schuss… Ich glaube – ich glaube, der Täter muss sich dort drüben verborgen haben.«
Chefinspektor Davy blickte auf die Stelle, auf die sie deutete. Auf dieser Seite von Bertrams Hotel lag ein altmodischer Kellervorhof, tiefer gelegen als das Straßenniveau, mit einem Tor und einer kleinen Treppe, die hinunterführte. Da nur Vorratsräume dahinter lagen, wurde er nicht viel benutzt. Aber ein Mann hätte sich dort ganz bequem verstecken können.
»Haben Sie ihn nicht gesehen?«
»Nicht richtig. Er stürzte wie ein Schatten an mir vorbei. Der Nebel war ja so dicht.«
Davy nickte.
Das Mädchen begann hysterisch zu schluchzen.
»Aber wer könnte überhaupt die Absicht haben, mich zu töten? Warum sollte jemand mich umbringen wollen? Dies ist das zweite Mal. Ich verstehe nicht, warum…«
Chefinspektor Davy legte einen Arm um das Mädchen und fuhr mit der anderen Hand in seine Tasche.
Die schrillen Töne einer Polizeipfeife drangen durch den Nebel.
In der Halle von Bertrams Hotel hatte Miss Gorringe jäh von ihrem Tisch aufgeblickt.
Einige Gäste hatten ebenfalls aufgehorcht, nur die älteren, schwerhörigen hatten sich nicht gerührt.
Henry, im Begriff, ein Glas alten Brandy auf einen Tisch zu stellen, hielt abrupt in der Bewegung inne.
Miss Marple saß vornübergebeugt und hielt die Armlehnen ihres Sessels umklammert. Ein pensionierter Admiral sagte in festem Ton:
»Unfall! Zwei Wagen sind wohl im Nebel zusammengestoßen.«
Die Eingangstüren wurden aufgerissen, und herein kam ein riesiger Polizist, der überlebensgroß wirkte.
Er stützte ein Mädchen in hellem Pelzmantel. Sie schien kaum gehen zu können. Der Polizist blickte sich Hilfe suchend um.
Miss Gorringe eilte hinter ihrem Tisch hervor. Doch in diesem Augenblick kam der Lift von oben, und eine schlanke Gestalt trat heraus. Das Mädchen riss sich von dem Polizisten los und rannte ungestüm durch die Halle.
»Mutter«, rief sie, »o Mutter, Mutter…«, und warf sich schluchzend Bess Sedgwick in die Arme.