4

 

In einem der Räume von Scotland Yard war eine Konferenz im Gange – eine ganz zwanglose Besprechung. Sechs oder sieben Männer saßen in bequemer Haltung um einen Tisch – jeder von ihnen eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Das Thema, das die Aufmerksamkeit dieser Hüter des Gesetzes in Anspruch nahm, hatte während der letzten paar Jahre eine ungeheure und ständig zunehmende Bedeutung erlangt. Es betraf eine Art von Verbrechen, die überaus beunruhigende Ausmaße angenommen hatte. Die Zahl groß angelegter Raubzüge: Bank- und Eisenbahnüberfälle, Raub von Lohngeldern und Juwelensendungen. Es verging kaum ein Monat, in dem nicht ein kühner Coup unternommen und erfolgreich durchgeführt wurde.

Sir Ronald Graves, Vizepräsident von Scotland Yard, führte den Vorsitz. Wie üblich verlegte er sich mehr aufs Zuhören als aufs Reden. Es wurden bei dieser Gelegenheit keine offiziellen Berichte diskutiert. All das gehörte in den Rahmen der alltäglichen Routinearbeit der Kriminalpolizei. Dies war eine Beratung auf höchster Ebene, ein Austausch von Ideen unter Männern, die solche Angelegenheiten von den verschiedensten Gesichtspunkten aus betrachteten. Sir Ronald Graves ließ seinen Blick langsam über seine kleine Gruppe wandern und nickte dann einem Mann am Ende des Tisches zu.

»Na, Vater«, sagte er, »nun lassen Sie mal ein paar treffende Bemerkungen vom Stapel.«

Der mit »Vater« angeredete Mann war Chefinspektor Fred Davy. Er wirkte älter, als er tatsächlich war; daher sein Spitzname »Vater«. Er war eine gemütliche, behäbige Erscheinung und besaß ein so wohlwollendes, freundliches Wesen, dass viele Verbrecher unangenehm überrascht waren, wenn sie entdeckten, dass er weniger jovial und leichtgläubig war, als sie gedacht hatten.

»Ja, Vater, lassen Sie uns Ihre Meinung hören«, sagte ein anderer Chefinspektor.

»Das Ganze ist groß angelegt«, erklärte Chefinspektor Davy mit einem tiefen Seufzer. »Ja, sehr groß. Und möglicherweise wächst es noch.«

»Wenn Sie ›groß angelegt‹ sagen, verstehen Sie darunter zahlenmäßig groß?«

»Allerdings.«

Ein anderer Mann, Comstock, mit scharfen, schlauen Zügen und wachsamen Augen mischte sich ein:

»Ist das Ihrer Ansicht nach ein Vorteil für die Organisation?«

»Ja und nein«, erwiderte Vater. »Unter Umständen könnte es sogar verhängnisvoll werden. Aber bis jetzt haben sie das Glück auf ihrer Seite gehabt, der Teufel hole sie!«

Polizeichef Andrews, ein blonder, schmächtiger, verträumt aussehender Mann, sagte nachdenklich:

»Ich war immer der Ansicht, dass die Größe eine bedeutendere Rolle spielt, als sich die meisten Menschen vorstellen. Betrachten wir einmal ein kleines Ein-Mann-Unternehmen. Wenn es gut geleitet und richtig organisiert ist, wird es sicher Erfolg haben. Wenn es sich ausdehnt und mehr Personen einstellt, erreicht es vielleicht plötzlich eine unwirtschaftliche Größe, und dann geht’s bergab. Für jedes Unternehmen gibt es eine angemessene Größe. Innerhalb dieser und unter guter Leitung arbeitet es erstklassig.«

»Für wie groß halten Sie diese Organisation?«, fragte Sir Ronald schroff.

»Sie ist größer, als wir zunächst angenommen hatten«, entgegnete Comstock.

Ein zäh aussehender Mann, Inspektor McNeill, bemerkte:

»Sie wächst, möchte ich sagen. Vater hat Recht. Sie wird von Tag zu Tag größer.«

»Das mag günstig sein für uns«, meinte Davy. »Vielleicht dehnt sie sich etwas zu schnell aus, und dann wächst sie ihnen über den Kopf.«

»Die Frage ist, Sir Ronald«, sagte McNeill, »wen sollen wir einbuchten und wann?«

»Ein rundes Dutzend könnten wir verhaften«, meinte Comstock. »Die Harris-Bande ist daran beteiligt, das wissen wir. Dann haben sie einen hübschen kleinen Schlupfwinkel in der Gegend von Luton. Ferner eine Garage in Epsom, ein Gasthaus in der Nähe von Maidenhead und eine Farm an der Great North Road.«

»Lohnt es sich, diese Leute einzusperren?«

»Ich glaube nicht. Kleine Fische, alle miteinander. Nur Mittelsmänner. Glieder in der Kette. Eine Werkstatt, wo Autos umgespritzt und rasch verscheuert werden; ein biederes Gasthaus, wo man Botschaften weiterleitet; ein Trödlerladen, wo die Bandenmitglieder ihr Aussehen verändern können; ein Theaterschneider und Kostümverleiher im Osten von London, auch sehr nützlich. Sie werden bezahlt, diese Leute. Ganz gut bezahlt, aber von den eigentlichen Vorgängen wissen sie nichts!«

Der verträumte Polizeichef Andrews ergriff wieder das Wort:

»Wir haben es mit einigen guten Köpfen zu tun, an die wir noch gar nicht herangekommen sind. Wir kennen nur einige ihrer Verbindungen und weiter nichts. Wie gesagt, die Harris-Bande gehört dazu, und Marks ist an der Finanzierung beteiligt. Die ausländischen Kontakte stehen mit Weber in Verbindung, aber er ist nur ein Agent. Wir haben eigentlich keinerlei Beweise gegen irgendeinen dieser Leute. Wir wissen wohl, dass sie über Mittel und Wege verfügen, um den Kontakt untereinander und mit den verschiedenen Zweigen der Organisation aufrechtzuerhalten, aber wir sind noch nicht dahinter gekommen, wie dies geschieht. Wir beobachten sie und folgen ihnen, und sie wissen, dass sie unter Beobachtung stehen. Irgendwo existiert eine Vermittlungszentrale. Die Planer zu schnappen, das muss unser Ziel sein.«

Comstock meinte:

»Es ist ein gigantisches Network. Ich bin ebenfalls der Ansicht, dass es irgendwo ein Hauptquartier geben muss. Eine Stelle, wo jedes Unternehmen geplant und bis ins Einzelne ausgearbeitet wird. Irgendwo sitzt jemand und denkt sich alles aus. Dann entwirft er brauchbare Schlachtpläne für Unternehmen Postsack oder Unternehmen Lohngelder. Das sind die Leute, die wir kriegen müssen.«

»Vielleicht leben sie nicht einmal in diesem Land«, warf Vater ruhig dazwischen.

»Das könnte gut sein. Vielleicht leben sie irgendwo in einem Iglu oder in einem Zelt in Marokko oder in einer Schweizer Sennhütte.«

»Ich glaube nicht so recht an diese überlegenen Geister«, sagte McNeill kopfschüttelnd. »In einem Roman klingt so etwas ganz gut. Eine Leitung muss natürlich vorhanden sein, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass so ein Superverbrecher existiert. Ich möchte eher annehmen, dass ein kluger kleiner Aufsichtsrat dahinter steckt. Zentral geplant, mit einem Vorsitzenden. Sie haben ein einträgliches Geschäft laufen und verbessern ihre Taktik von Tag zu Tag. Dennoch…«

»Ja?«, sagte Sir Ronald aufmunternd.

»Selbst bei einem kleinen, geschlossenen Team gibt es wahrscheinlich entbehrliche Leute. Es ist so eine Art Schlitten fahren. Von Zeit zu Zeit, wenn sie meinen, wir rücken ihnen zu dicht auf die Fersen, werfen sie uns einen zum Fraß vor, und zwar den, der ihnen am wenigsten nützlich erscheint.«

»Wäre das nicht ziemlich riskant?«

»Meiner Meinung nach könnte es so geschehen, dass der Betreffende nicht einmal merkt, dass er vom Schlitten gestoßen wurde. Er würde einfach annehmen, er sei heruntergefallen. Er hielte natürlich den Mund, in dem Glauben, dass sich Schweigen für ihn lohnt. Und darin hätte er selbstverständlich Recht. Sie haben viel Geld in den Fingern und können es sich leisten, großzügig zu sein. Wenn er eine Familie hat, wird für sie gesorgt, solange er im Gefängnis sitzt. Möglicherweise wird auch ein Gefängnisausbruch gedeichselt.«

»Davon haben wir allmählich genug«, erklärte Comstock.

»Meine Herren«, sagte Sir Ronald, »ich finde, es hat nicht viel Zweck, unsere Vermutungen immer wieder durchzuhecheln. Wir kommen jedes Mal zum gleichen Resultat.«

McNeill lachte. »Was ist der eigentliche Grund, weshalb Sie uns zusammengetrommelt haben, Sir?«

»Nun« – Sir Ronald überlegte einen Augenblick –, »in den Hauptpunkten sind wir alle einer Meinung«, sagte er langsam. »Wir stimmen in der Taktik überein, und wir sind uns einig, worauf wir abzielen. Meiner Ansicht nach wäre es vielleicht ergiebig, wenn wir nach kleinen Dingen Umschau hielten, nach Dingen, die nicht viel bedeuten, die nur etwas von der üblichen Norm abweichen. Es ist schwer zu erklären, was ich meine. Ich denke dabei an den Culver-Fall vor einigen Jahren. Ein Tintenfleck. Erinnern Sie sich noch? Ein Tintenfleck an einem Mauseloch. Nun, warum in aller Welt sollte jemand Tinte in ein Mauseloch gießen? Es erschien nicht wichtig, und eine Antwort darauf zu bekommen war nicht leicht. Als wir jedoch die Erklärung fanden, brachte sie uns einen guten Schritt weiter. Das ist es – in groben Zügen –, was mir vorschwebt. Etwas Absonderliches. Scheuen Sie sich nicht, zu erwähnen, wenn Ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen ist. Wie ich sehe, nickt Vater zustimmend vor sich hin.«

»Ganz meine Meinung«, erklärte Chefinspektor Davy. »Nun los, Leute, stochert mal in eurem Gedächtnis herum. Denken Sie mal an den Überfall auf die Zweigstelle der London and Metropolitan Bank an der Carmolly Street. Wir hatten eine lange Liste von Autonummern, Autofarben und Autotypen. Wir appellierten an die Bewohner der umliegenden Häuser, sich zu melden, falls sie etwas gesehen hatten, und sie reagierten – mein Gott, wie sie reagierten! Ungefähr hundertfünfzig irreführende Informationen! Wir sortierten diesen Wust aus und stießen schließlich auf sieben Autos, die in der Nachbarschaft beobachtet worden und eventuell in den Raubüberfall verwickelt waren.«

»Ja, ich entsinne mich«, sagte Sir Ronald, »bitte weiter.«

»Es waren ein oder zwei Wagen darunter, bei denen wir nicht weiterkamen. Es sah so aus, als wären die Nummern verändert worden. Das ist ja nichts Besonderes. Es geschieht häufig. Ich will nur ein Beispiel anführen. Morris Oxford, schwarze Limousine, Nummer CMG 256, von einem Bewährungshelfer gemeldet, der erwähnte, dass Richter Ludgrove am Steuer gesessen habe.«

Davy blickte sich um. Sie hörten ihm wohl alle zu, aber nicht sehr interessiert.

»Ich weiß«, fuhr er fort, »Fehlanzeige, wie so oft. Richter Ludgrove ist ein ziemlich auffallender alter Herr, unter anderem hässlich wie die Sünde. Nun, es war nicht Richter Ludgrove, weil er zu genau derselben Zeit im Gerichtssaal war. Er fährt allerdings einen Morris Oxford, aber seine Nummer ist nicht CMG 256.« Abermals blickte er sich um. »Na schön. Sie werden also sagen: Die Sache hat nichts zu bedeuten. Aber wissen Sie, wie seine Nummer lautet? CMG 265. Ziemlich ähnlich, wie? Gerade die Zahlen, die man leicht verwechselt, wenn man sich an eine Autonummer erinnern will.«

»Tut mir leid«, sagte Sir Ronald, »aber ich verstehe nicht ganz…«

»Es gibt eigentlich auch nichts zu verstehen«, unterbrach ihn Chefinspektor Davy. »Nur war die Zahl der tatsächlichen Autonummer sehr ähnlich, ja? 265 – 256 CMC Wirklich ein bemerkenswerter Zufall, dass ein Morris Oxford der gesuchten Farbe zur Stelle war, mit einer etwas verdrehten Nummer und einem Fahrer, der dem Eigentümer des Wagens aufs Haar glich.«

»Meinen Sie…«

»Nur eine kleine Verschiebung der Zahlen. Ein Beispiel für einen ›absichtlichen Fehler‹. Fast scheint es so.«

»Tut mir leid, Davy. Ich komme immer noch nicht dahinter.«

»Vielleicht steckt auch nichts dahinter. Wir haben da einen Morris Oxford, CMG 256, der zweieinhalb Minuten nach dem Banküberfall die Straße entlangfährt, und darin erkennt der Bewährungshelfer Richter Ludgrove.«

»Wollen Sie damit andeuten, dass es tatsächlich Richter Ludgrove war? Na, hören Sie mal, Davy.«

»Nein, ich behaupte nicht, dass es Richter Ludgrove war und dass er sich an einem Banküberfall beteiligte. Er wohnte in Bertrams Hotel in der Pond Street und war zur gleichen Zeit im Gerichtshof. Alles eindeutig bewiesen. Ich sage nur: Die Autonummer, der Autotyp und die Identifizierung durch einen Bewährungshelfer, der den alten Ludgrove ziemlich gut vom Sehen kennt, stellen eine Art Zufall dar, der eigentlich etwas bedeuten sollte. Offenbar hat es aber nichts zu sagen. Schade.«

Comstock räusperte sich, ein wenig beklommen.

»Dies erinnert mich an eine ähnliche Episode im Zusammenhang mit dem Juwelenraub in Brighton. Es handelte sich dabei um irgendeinen alten Admiral. Sein Name ist mir entfallen. Eine Frau behauptete mit Bestimmtheit, ihn als eine der Personen am Tatort erkannt zu haben.«

»Und er war es nicht?«

»Nein, er hat sich an dem Abend in London aufgehalten. Nahm an einem Festessen der Marine teil, glaube ich.«

»Übernachtete er in seinem Klub?«

»Nein, er verbrachte die Nacht in einem Hotel – glaube, es war dasselbe, das Sie gerade erwähnten, Vater. Bertrams, nicht wahr? Ruhiges Haus. Viele alte Käuze aus der Armee und der Marine verkehren dort, glaube ich.«

»Bertrams Hotel«, murmelte Chefinspektor Davy nachdenklich vor sich hin.