16

 

Es war der Schrank, der Kanonikus Pennyfather störte. Er beunruhigte ihn, noch ehe er völlig wach war. Dann vergaß er ihn und schlief wieder ein. Doch als er die Augen von Neuem aufschlug, stand der Schrank immer noch am verkehrten Platz. Kanonikus Pennyfather lag auf der linken Seite, das Gesicht dem Fenster zugekehrt, und der Schrank hätte sich eigentlich an der linken Wand zwischen ihm und dem Fenster befinden müssen. Aber dort stand er nicht. Er war an der rechten Wand. Das irritierte ihn – so sehr, dass ihn eine große Müdigkeit überkam. Er hatte gewaltige Kopfschmerzen, und dazu noch der Schrank am verkehrten Platz… Hier schlossen sich seine Augen wieder.

Es war bedeutend heller im Zimmer, als er das nächste Mal erwachte. Es war zwar noch nicht helllichter Tag – nur das schwache Licht der Morgendämmerung sickerte durchs Fenster. »Meine Güte«, sagte Kanonikus Pennyfather vor sich hin, als er plötzlich das Rätsel des Schrankes gelöst hatte, »wie dumm von mir! Ich bin ja gar nicht zuhause.«

Er bewegte sich vorsichtig. Nein, dies war nicht sein eigenes Bett. Er war in einem fremden Haus. Aber wo? Ach, natürlich. Er war nach London gefahren, nicht wahr? Er war in Bertrams Hotel und – aber nein, er war nicht in Bertrams Hotel. Dort stand sein Bett gegenüber dem Fenster. Und das traf hier nicht zu.

»Lieber Himmel, wo bin ich nur?«, fragte sich Kanonikus Pennyfather.

Dann erinnerte er sich daran, dass er ja nach Luzern fahren wollte. »Natürlich«, sagte er sich, »ich bin in Luzern.« Er begann an den Vortrag zu denken, den er zu halten beabsichtigte. Jedoch nicht lange. Das Nachdenken verursachte ihm Kopfschmerzen. Also schlief er wieder ein.

Als er das nächste Mal aufwachte, war sein Kopf viel klarer. Außerdem war es ganz hell im Zimmer. Er war nicht zuhause, nicht in Bertrams Hotel und auch nicht – davon war er jetzt überzeugt – in Luzern. Dies war überhaupt kein Hotelzimmer. Er unterzog es einer genauen Musterung. Es war ein völlig fremder, schäbiger Raum, sehr spärlich möbliert. Ein Schrank, aber kein Kleiderschrank, wie er angenommen hatte, und ein Fenster mit geblümten Vorhängen, durch die das Licht drang. Ein Stuhl, ein Tisch und eine Kommode. Das war ungefähr alles.

»Oje«, sagte Kanonikus Pennyfather, »das ist wirklich höchst seltsam. Wo bin ich nur?«

Er gedachte aufzustehen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Doch als er sich im Bett aufrichtete, begann sein Kopf von Neuem zu schmerzen. Also legte er sich wieder hin.

»Ich muss wohl krank gewesen sein«, entschied Kanonikus Pennyfather. »Ja, ganz gewiss muss ich krank gewesen sein.«

Er dachte eine Weile nach und fuhr dann fort: »Ich glaube tatsächlich, dass ich immer noch krank bin. Grippe vielleicht?«

Er hörte Geräusche: Jemand regte sich im Haus. Möglicherweise hatte man ihn in eine Privatklinik gebracht. Aber nein, dies sah nicht nach einem Krankenhaus aus. Weitere Geräusche wurden hörbar. Unten rief eine Stimme: »Auf Wiedersehen, Darling. Bratwurst und Kartoffelbrei heute Abend.«

Kanonikus Pennyfather ließ sich das durch den Kopf gehen. Bratwurst und Kartoffelbrei. Die Worte klangen angenehm.

»Ich glaube«, sagte er sich, »ich bin hungrig.«

Die Tür öffnete sich. Eine Frau in mittleren Jahren trat ein, ging zum Fenster, zog die Vorhänge ein wenig zurück und näherte sich dem Bett.

»Aha, Sie sind jetzt wach«, sagte sie. »Und wie fühlen Sie sich?«

»Ach«, sagte Kanonikus Pennyfather mit ziemlich schwacher Stimme, »ich weiß es selber nicht.«

»Das kann ich mir vorstellen. Sie waren nämlich in recht schlechter Verfassung. Wie der Doktor sagte, haben Sie einen tüchtigen Stoß abbekommen. Diese Autofahrer! Hat nicht einmal angehalten, nachdem er Sie angefahren hat.«

»Habe ich einen Unfall gehabt?«, erkundigte sich Kanonikus Pennyfather. »Einen Autounfall?«

»Ganz recht«, erwiderte die Frau. »Wir fanden Sie am Straßenrand, als wir nachhause kamen. Dachten zuerst, Sie wären betrunken.« Sie kicherte vergnügt in sich hinein. »Dann sagte mein Mann, es sei wohl besser, nach Ihnen zu sehen. Es mag ein Unfall gewesen sein, sagte er. Sie rochen nicht nach Alkohol oder dergleichen, und Blut war auch keines zu sehen. Jedenfalls lagen Sie da wie ein Klotz, völlig bewusstlos. Also sagte mein Mann, wir können Sie nicht so liegen lassen, und da hat er Sie ins Haus getragen. Verstehen Sie?«

»Aha«, sagte Kanonikus Pennyfather kleinlaut, von all diesen Enthüllungen etwas überwältigt. »Ein guter Samariter.«

»Mein Mann sah auch, dass Sie ein Geistlicher sind. Er meinte, es wäre wohl besser, nicht die Polizei anzurufen, da es Ihnen vielleicht peinlich gewesen wäre, wo Sie doch Geistlicher sind. Das heißt, wenn Sie doch betrunken gewesen wären, obwohl Sie nicht danach rochen. So kamen wir dann auf den Gedanken, Dr. Stokes zu holen. Wir nennen ihn immer noch Dr. Stokes, obwohl er seinen Beruf nicht mehr ausüben darf. Er ist ein sehr netter Mann, ein wenig verbittert natürlich, weil er nicht mehr praktizieren darf. Dabei hat er nur aus reiner Güte ein paar Mädchen geholfen, die es gar nicht verdient hatten. Jedenfalls ist er ein ganz guter Doktor. Er sagte, es sei Ihnen nicht viel passiert, nur eine leichte Gehirnerschütterung. Wir sollten dafür sorgen, dass Sie flach und ruhig in einem abgedunkelten Raum liegen. ›Wohl verstanden‹, sagte er, ›ich stelle keine Diagnose; dies ist ganz inoffiziell. Ich habe kein Recht, etwas zu verordnen oder überhaupt etwas zu sagen. Von Rechts wegen sollten Sie es der Polizei melden, möchte ich meinen, aber wenn Sie nicht wollen, dann ist das Ihre Sache. Geben Sie dem armen alten Schlucker eine Chance‹, hat er gesagt. Entschuldigen Sie, wenn ich so respektlos spreche. Aber er nimmt kein Blatt vor den Mund, dieser Doktor. Wie wär’s nun mit einem Teller Suppe oder etwas heißer Milch mit Zwieback?«

»Beides«, sagte Kanonikus Pennyfather mit matter Stimme, »wäre mir sehr willkommen.«

Er sank wieder in die Kissen zurück. Ein Unfall? Das war es also. Ein Unfall; und er konnte sich überhaupt nicht daran erinnern! Ein paar Minuten später kehrte die gute Frau mit einem Tablett zurück, auf dem eine dampfende Schale stand.

»Sie werden sich besser fühlen, wenn Sie etwas im Magen haben«, meinte sie. »Ich hätte gern einen Tropfen Whisky oder Brandy hineingetan, aber der Doktor sagte, Sie dürften so etwas nicht haben.«

»Ganz gewiss nicht«, sagte Kanonikus Pennyfather. »Nicht bei Gehirnerschütterung. Nein.«

»Ich werde Ihnen noch ein Kissen in den Rücken schieben. Nicht wahr, Darling?«

Kanonikus Pennyfather war etwas sonderbar berührt, als er mit »Darling« angeredet wurde. Aber er sagte sich, dass es freundlich gemeint sei.

»Hoppla«, murmelte die Frau, »so, da wären wir.«

»Ja, aber wo sind wir?«, fragte Kanonikus Pennyfather. »Ich meine, wo bin ich? Wo liegt dieses Haus?«

»Milton St. John«, erwiderte die Frau. »Wussten Sie das nicht?«

»Milton St. John?«, wiederholte Kanonikus Pennyfather und schüttelte den Kopf. »Den Namen habe ich noch nie gehört.«

»Nun ja, es ist kein bedeutender Ort. Nur ein Dorf.«

»Sie sind sehr gütig zu mir. Darf ich vielleicht um Ihren Namen bitten?«

»Mrs Wheeling. Emma Wheeling.«

»Sie sind sehr gütig«, wiederholte Kanonikus Pennyfather. »Um noch einmal auf diesen Unfall zu kommen, ich kann mich einfach nicht entsinnen…«

»Essen Sie nur erst Ihre Suppe, Darling. Dann werden Sie sich an manches besser erinnern.«