23

 

Richard Egerton blickte wieder auf die Karte, die vor ihm lag, und sah dann den Chefinspektor an.

»Seltsame Sache«, meinte er.

»Ja, Sir«, sagte Chefinspektor Davy, »sehr merkwürdig.«

»Bertrams Hotel«, sagte Egerton, »im Nebel. Ja, es war gestern Abend sehr neblig. Bei Ihnen häufen sich wohl solche Fälle bei Nebel, nicht wahr? Taschendiebe und Leute, die den Damen die Handtaschen entreißen.«

»Darum ging es eigentlich nicht«, sagte Vater. »Niemand versuchte, Miss Blake etwas zu entreißen.«

»Woher kam der Schuss?«

»Bei dem Nebel ließ sich das nur schwer feststellen. Miss Blake wusste es selbst nicht genau. Aber wir nehmen an – und es scheint am wahrscheinlichsten –, dass der Mann im Kellervorhof gestanden hat.«

»Und er hat zweimal auf sie geschossen, sagen Sie?«

»Ja. Der erste Schuss ging fehl. Der Portier, der vor der Hoteltür stand, eilte herbei und stellte sich vor Miss Blake, ehe der zweite Schuss fiel.«

»Und so wurde er statt ihrer getroffen, wie?«

»Ja.«

»Ein ziemlich tapferer Bursche.«

»Ja. Er war tapfer«, sagte der Chefinspektor. »Er hat sich im Krieg ausgezeichnet. Er war Ire.«

»Wie heißt er?«

»Gorman. Michael Gorman.«

»Michael Gorman.« Egerton runzelte die Stirn und überlegte eine Weile. »Nein«, sagte er dann. »Einen Augenblick lang dachte ich, der Name komme mir bekannt vor.«

»Es ist natürlich kein sehr seltener Name. Auf alle Fälle hat der Mann dem Mädchen das Leben gerettet.«

»Und warum sind Sie eigentlich zu mir gekommen, Chefinspektor?«

»Ich hoffe, einige Aufschlüsse zu erhalten. Wir sind nämlich gern so umfassend wie möglich unterrichtet über das Opfer eines Mordanschlags.«

»Oh, gewiss, gewiss. Aber ich muss sagen, ich habe Elvira nur zweimal seit ihrer Kindheit gesehen.«

»Sie haben sie gesehen, als sie Ihnen vor etwa einer Woche einen Besuch abstattete, nicht wahr?«

»Ja, das stimmt. Was möchten Sie nun von mir wissen?«

»Es wurde mir gesagt, dass irgendetwas sie in große Sorge und Furcht versetzt habe und sie überzeugt gewesen sei, in Lebensgefahr zu schweben. Hatten Sie auch diesen Eindruck, als sie Sie besuchte?«

»Nein«, erwiderte Egerton langsam, »nein, das würde ich nicht behaupten, obwohl sie ein paar Äußerungen machte, die mir recht merkwürdig vorkamen.«

»Zum Beispiel?«

»Nun, sie wollte wissen, wer sie beerben würde, falls sie plötzlich sterben sollte.«

»Aha«, meinte Chefinspektor Davy, »diese Möglichkeit zog sie also in Betracht. Dass sie plötzlich sterben könnte. Interessant.«

»Es spukte ihr etwas im Kopf herum, aber ich wusste nicht, was. Sie wollte auch wissen, wie viel Geld sie besitzt – oder besitzen wird, wenn sie volljährig ist. Diese Frage ist vielleicht etwas verständlicher.«

»Es ist wohl ein ganzer Batzen, wie?«

»Es ist ein sehr großes Vermögen, Chefinspektor.«

»Weshalb wollte sie es wohl wissen? Was meinen Sie?«

»Wie hoch der Betrag ist?«

»Ja, und wer sie beerben würde.«

»Ich weiß es nicht, wirklich nicht. Sie schnitt auch das Thema Heirat an.«

»Hatten Sie das Gefühl, dass ein Mann im Spiel ist?«

»Ich kann es nicht beschwören – aber – ja, den Eindruck hatte ich. Ich war überzeugt, dass sich da etwas angesponnen hatte. Das ist ja meistens so! Luscombe – das ist Colonel Luscombe, ihr Vormund – scheint ja von einem Verehrer nichts zu wissen. Aber das kann man vom guten alten Derek Luscombe auch kaum erwarten. Er war ganz aufgeregt, als ich andeutete, dass sie einen Mann aufgegabelt haben könnte, noch dazu wahrscheinlich einen unpassenden.«

»Er ist unpassend«, erklärte Chefinspektor Davy.

»Ah, dann wissen Sie also, wer es ist?«

»Ich kann es mir jedenfalls denken. Ladislaus Malinowski.«

»Der Rennfahrer? Was Sie nicht sagen! Ein hübscher Draufgänger. Die Frauen sind ganz vernarrt in ihn. Ich möchte wissen, wo er Elvira über den Weg gelaufen ist. Er war, glaube ich, vor ein paar Monaten in Rom. Wahrscheinlich haben sie sich dort getroffen.«

»Sehr gut möglich. Oder könnte sie ihn vielleicht durch ihre Mutter kennen gelernt haben?«

»Was, durch Bess? Das ist meiner Ansicht nach ziemlich ausgeschlossen.«

Davy räusperte sich.

»Lady Sedgwick und Malinowski sollen eng befreundet sein, Sir.«

»Ja, ja, ich kenne das Gerücht. Vielleicht ist etwas Wahres daran, vielleicht auch nicht. Bess hat natürlich ihre Liebschaften, obwohl sie – das möchte ich betonen – durchaus kein mannstoller Typ ist. Die Menschen neigen ja stark dazu, einer Frau so etwas nachzusagen, aber auf Bess trifft es nicht zu. Jedenfalls kennen sich Bess und ihre Tochter, soweit ich unterrichtet bin, praktisch gar nicht.«

»Das hat mir Lady Sedgwick auch gesagt. Dann stimmt das also?«

Egerton nickte.

»Hat Miss Blake noch andere Verwandte?«

»Genau genommen keine. Die beiden Brüder ihrer Mutter sind im Krieg gefallen – und sie war das einzige Kind des alten Coniston. Mrs Melford, obgleich sie Elvira ›Kusine Mildred‹ nennt, ist in Wirklichkeit eine Kusine von Colonel Luscombe. Luscombe hat in seiner gewissenhaften, altmodischen Art sein Bestes für das Mädchen getan – aber es ist schwierig… für einen Mann.«

»Wie Sie vorhin erwähnten, hat Miss Blake das Thema Heirat angeschnitten. Besteht etwa die Möglichkeit, dass sie in Wirklichkeit bereits verheiratet ist?«

»Sie ist noch minderjährig – sie hätte die Einwilligung ihres Vormundes und der Treuhänder gebraucht.«

»Nach dem Buchstaben des Gesetzes, ja. Aber die jungen Leute richten sich nicht immer danach«, bemerkte Vater.

»Ich weiß. Höchst bedauerlich. Man muss dann den ganzen Apparat in Bewegung setzen, um sie zu Mündeln unter Amtsvormundschaft zu machen. Und das ist ein schwieriger Weg.«

»Und wenn sie einmal verheiratet sind, dann sind sie verheiratet. Wenn sie tatsächlich verheiratet wäre und plötzlich stürbe, dann würde das Geld wohl ihrem Mann zufallen, nicht wahr?«

»Die Idee, dass sie verheiratet sein könnte, ist ziemlich abwegig. Sie war zu wohl behütet und – « Er unterbrach sich, als er das zynische Lächeln des Chefinspektors sah.

Obgleich wohl behütet, war es Elvira offenbar doch gelungen, die Bekanntschaft des höchst unpassenden Ladislaus Malinowski zu machen.

Der Anwalt fuhr unsicher fort: »Ihre Mutter ist allerdings durchgebrannt.«

»Ja, ihre Mutter ist durchgebrannt – das entspricht ihrem Wesen –, aber Miss Blake ist ein anderer Typ. Sie ist genauso darauf bedacht, ihren Willen durchzusetzen, doch sie würde es anders anfangen.«

»Sie denken doch nicht allen Ernstes…«

»Ich denke gar nichts – noch nicht«, sagte Chefinspektor Davy.