17

 

Sir Ronald Graves zeichnete eine Katze auf seine Schreibunterlage. Dann fiel sein Blick auf die breite Gestalt von Chefinspektor Davy, der ihm gegenübersaß, und er zeichnete eine Bulldogge.

»Ladislaus Malinowski?«, wiederholte er. »Möglich. Haben Sie irgendwelche Beweise?«

»Nein. Aber er könnte es schon sein, nicht wahr?«

»Ein Teufelskerl. Nerven wie Stricke. Hat die Weltmeisterschaft gewonnen. Vor etwa einem Jahr schwer verunglückt. Schürzenjäger. Zweifelhafte Einkommensquellen. Sehr verschwenderisch mit seinem Geld, hier und im Ausland. Pendelt dauernd zwischen England und dem Kontinent hin und her. Sind Sie der Ansicht, er ist der Mann, der hinter diesen groß organisierten Raubüberfällen steckt?«

»Ich glaube nicht, dass er der Organisator ist. Aber ich nehme an, dass er dazugehört.«

»Warum?«

»Er fährt zum Beispiel einen Mercedes-Rennwagen. Ein Fahrzeug dieser Art wurde am Morgen des Postraubs in der Nähe von Bedhampton gesehen. Anderes Nummernschild – aber daran sind wir ja gewöhnt. Und es ist derselbe Trick – FAN 2299 statt 2266. Man sieht hier nicht gerade viele dieser Mercedes-Modelle. Lady Sedgwick hat einen und auch der junge Lord Merrivale.«

»Sie halten also Malinowski nicht für die treibende Kraft?«

»Nein, ich glaube, an der Spitze stehen Leute, die mehr Verstand besitzen als er. Aber er ist beteiligt. Ich habe mir die früheren Akten angesehen. Nehmen wir einmal den Überfall auf die Midland and West London Bank. Drei Lieferwagen blockierten zufällig – ganz zufällig – eine gewisse Straße. Dank dieser Blockade konnte ein Mercedes, der am Tatort war, glatt entkommen.«

»Er wurde später angehalten.«

»Ja. Man hat ihn anstandslos weiterfahren lassen. Vor allem, weil die Leute, die ihn gesehen hatten, sich nicht über die korrekte Nummer einigen konnten. Der Wagen war als FAN 3366 gemeldet worden – Malinowskis Nummer ist FAN 2266 – wieder dieselbe Masche.«

»Und Sie glauben wirklich, das Ganze steht mit Bertrams Hotel im Zusammenhang? Unsere Leute haben übrigens einige Informationen über das Bertrams für Sie ausgegraben…«

Vater klopfte sich auf die Tasche.

»Habe alles hier. Ordnungsgemäß eingetragene Gesellschaft. Bilanz – einbezahltes Kapital – Direktoren – und so weiter, und so weiter. Hat nichts zu bedeuten! Dieser finanzielle Klimbim ist immer derselbe – nichts weiter als eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt! Gesellschaften und Dachorganisationen – macht einen ganz schwindlig!«

»Na, na, Vater. So geht das eben in der City. Hat etwas mit der Besteuerung zu tun – «

»Ich möchte aber hinter die Kulissen sehen. Wenn Sie mir ein paar Zeilen mitgeben, würde ich mich an eine höhere Instanz wenden.«

Der Vizepräsident starrte ihn an.

»Und was verstehen Sie unter einer höheren Instanz?«

Vater erwähnte einen Namen.

Der Vize schien bestürzt. »Ich weiß nicht recht«, sagte er stirnrunzelnd. »Ich glaube kaum, dass wir an ihn herantreten dürfen.«

»Es könnte sehr nützlich sein.«

Es entstand eine Pause. Die beiden Männer sahen sich unverwandt an. Vater machte einen gelassenen, geduldigen Eindruck. Der Vize gab nach.

»Sie sind ein eigensinniger alter Teufel, Fred«, meinte er. »Aber machen Sie, was Sie wollen. Gehen Sie hin und rücken Sie dem Spitzenmann der internationalen Finanzwelt Europas auf die Bude.«

»Er wird’s wissen«, sagte Chefinspektor Davy. »Er wird es wissen. Und wenn nicht, kann er es herauskriegen, indem er einen Knopf auf seinem Schreibtisch drückt oder telefoniert.«

»Ich weiß nicht, ob er sehr glücklich sein wird.«

»Wahrscheinlich nicht«, gab Vater zu. »Aber es wird ihn nicht groß aufhalten. Ich brauche jedoch die nötige Vollmacht.«

»Sie haben also allen Ernstes Bertrams Hotel ins Auge gefasst, wie? Aber worauf stützt sich eigentlich Ihr Verdacht? Es wird vorzüglich geleitet, hat eine gute, angesehene Kundschaft – keine Übertretung der Ausschankgesetze.«

»Ich weiß – ich weiß. Keine Saufgelage, kein Rauschgift, keine Spielhölle, kein Unterschlupf für Kriminelle. Alles unschuldig und rein wie frisch gefallener Schnee. Keine Gammler, keine Rowdys, keine jugendlichen Verbrecher. Nur gesetzte alte, viktorianische Damen, Landadel, Touristen aus Boston und den vornehmeren Gegenden der USA. Nichtsdestoweniger hat man beobachtet, dass ein ehrbarer Kanonikus das Hotel um drei Uhr morgens auf etwas verstohlene Weise verlassen hat.«

»Wer hat das gesehen?«

»Eine alte Dame.«

»Reden Sie etwa von – wie heißt er doch noch – Kanonikus Pennyfather?«

»Ganz recht, Sir. Sein Verschwinden wurde gemeldet, und Campbell bearbeitet die Sache.«

»Komischer Zufall – sein Name ist gerade erwähnt worden, im Zusammenhang mit dem Postraub in Bedhampton.«

»Wirklich? Inwiefern, Sir?«

»Eine andere alte Dame – oder jedenfalls eine nicht mehr ganz junge – hat ihn identifiziert. Als der Zug durch das manipulierte Signal zum Halten gezwungen wurde, wachten ziemlich viele Passagiere auf und blickten auf den Gang. Diese Frau, die in Chadminster lebt und Kanonikus Pennyfather vom Sehen her kennt, behauptet, sie habe beobachtet, wie er in den Zug stieg. Sie hatte damals angenommen, er sei ausgestiegen, um festzustellen, was los war, und sei dann wieder eingestiegen. Da er vermisst wird, wollten wir diese Spur aufnehmen…«

»Warten Sie mal – der Zug wurde morgens um fünf Uhr dreißig angehalten, und Kanonikus Pennyfather verließ Bertrams Hotel kurz nach drei Uhr morgens. Ja, es könnte möglich sein. Falls er – sagen wir mal – in einem Rennwagen hingefahren worden wäre.«

»Also sind wir wieder bei Ladislaus Malinowski angelangt!« Der Vize betrachtete die Kritzeleien auf seiner Schreibunterlage. »Was für eine Bulldogge Sie doch sind, Fred«, meinte er.

Eine halbe Stunde später betrat Chefinspektor Davy ein ruhiges und ziemlich schäbiges Büro.

Der große Mann hinter dem Schreibtisch erhob sich und streckte seine Hand aus.

»Chefinspektor Davy? Bitte nehmen Sie Platz«, sagte er. »Darf ich Ihnen eine Zigarre anbieten?«

Davy schüttelte den Kopf.

»Ich muss Sie um Entschuldigung bitten«, sagte er mit seiner tiefen, Vertrauen erweckenden Stimme, »dass ich Ihre kostbare Zeit in Anspruch nehme.«

Mr Robinson lächelte. Er war ein korpulenter, sehr gut gekleideter Mann. Er hatte ein gelbliches Gesicht, dunkle, schwermütige Augen, und sein Mund war groß und voll. Sein Lächeln entblößte übergroße Zähne. »Damit ich dich besser fressen kann«, ging es Chefinspektor Davy unwillkürlich durch den Kopf. Mr Robinson sprach ein tadelloses, akzentfreies Englisch, aber er war kein gebürtiger Engländer. Vater fragte sich im Stillen – wie manch einer vor ihm –, welcher Nationalität Mr Robinson eigentlich war.

»Nun, was kann ich für Sie tun?«

»Ich möchte gern wissen«, sagte Chefinspektor Davy, »wem Bertrams Hotel gehört.«

Mr Robinsons Gesichtsausdruck veränderte sich in keiner Weise. Der Mann zeigte weder Überraschung, als er den Namen hörte, noch gab er zu verstehen, dass er ihm bekannt war. Nachdenklich sagte er:

»Bertrams Hotel… das liegt, glaube ich, in der Pond Street, in der Nähe von Piccadilly.«

»Ganz recht, Sir.«

»Ich selbst habe gelegentlich dort gewohnt. Ein ruhiges Hotel. Gut geführt.«

»Ja«, stimmte Vater zu, »sehr gut geführt.«

»Und Sie möchten wissen, wem es gehört? Das kann man doch sicher leicht feststellen.«

Er lächelte etwas ironisch.

»Sie meinen, über die üblichen Instanzen? O ja.« Vater zog ein kleines Stück Papier aus der Tasche und las drei oder vier Namen und Adressen laut vor.

»Wie ich sehe«, meinte Mr Robinson, »hat sich jemand sehr viel Mühe gemacht. Interessant. Und Sie kommen zu mir?«

»Wenn es überhaupt jemand weiß, dann Sie, Sir.«

»Im Augenblick bin ich überfragt. Gewiss, ich habe Mittel und Wege, um mir die Information zu beschaffen. Man hat« – er zuckte seine sehr breiten Schultern –, »man hat so seine Beziehungen.«

»Ja, Sir«, sagte Vater mit ausdrucksloser Miene.

Mr Robinson blickte ihn an. Dann nahm er den Hörer von der Gabel.

»Sonia? Verbinden Sie mich mit Carlos.« Er wartete eine Weile. »Carlos?« Er redete sehr rasch in einer fremden Sprache die Vater nicht einmal erkannte.

Vater konnte sich in gutem Französisch mit leicht englischem Akzent unterhalten. Er konnte einige Brocken Italienisch und Deutsch. Er wusste, wie Spanisch, Russisch und Arabisch klangen, obwohl er diese Sprachen nicht verstand. Die Sprache, deren sich Mr Robinson bediente, gehörte aber nicht zu diesen. Nach seinem Dafürhalten mochte es Türkisch oder Persisch oder Armenisch sein, aber selbst das wusste er nicht mit Sicherheit. Mr Robinson legte den Hörer wieder auf und sah Chefinspektor Davy an.

»Ich glaube nicht«, sagte er jovial, »dass wir lange zu warten brauchen. Ich bin nämlich auch interessiert. Sehr sogar. Ich selbst habe mich gelegentlich im Stillen gewundert…«

Vater blickte ihn fragend an.

»Über Bertrams Hotel«, fuhr Mr Robinson fort. »In finanzieller Hinsicht, wissen Sie. Man fragt sich, wie es sich überhaupt rentieren kann. Ich hatte jedoch nie Anlass, der Sache nachzugehen. Und man schätzt« – wieder zuckte er die Achseln – »ein behagliches Absteigequartier mit ungewöhnlich gut geschultem Personal… Ja, ich habe mich oft gewundert.« Er blickte Vater an. »Sie kennen die näheren Umstände?«

»Noch nicht«, erwiderte Vater, »aber ich habe die feste Absicht, mich zu orientieren.«

Ein leises Summen ertönte auf seinem Schreibtisch, und Mr Robinson griff wieder zum Hörer.

»Ja? Ja, Sie haben sich aber beeilt. Ich bin hocherfreut. Ach so. Oh! Amsterdam, ja… Aha… Vielen Dank… Ja. Buchstabieren Sie es doch bitte. Gut.«

Er schrieb rasch etwas auf einen Notizblock.

»Dies wird Ihnen hoffentlich von Nutzen sein«, sagte er, als er das Blatt abriss und es Vater über den Tisch reichte, aber den notierten Namen laut vor sich hin sagte: »Wilhelm Hoffman.«

»Schweizerische Staatsangehörigkeit«, bemerkte Mr Robinson. »Obgleich nicht in der Schweiz geboren, möchte ich sagen. Besitzt ziemlichen Einfluss in Bankkreisen. Er hält sich zwar streng an den Buchstaben des Gesetzes, hat aber doch bei sehr vielen – fragwürdigen Geschäften mitgemischt. Er arbeitet einzig und allein auf dem Kontinent, nicht in diesem Land.«

»Oje.«

»Aber er hat einen Bruder«, fuhr Mr Robinson fort. »Robert Hoffman. Der lebt in London – Diamantenhändler – höchst angesehenes Geschäft. Seine Frau ist Holländerin. Er hat auch Büros in Amsterdam – Ihre Leute sind vielleicht über ihn im Bilde. Wie ich schon sagte, handelt er hauptsächlich mit Diamanten, aber er ist ein sehr reicher Mann und besitzt viele Grundstücke, die gewöhnlich nicht unter seinem eigenen Namen laufen. Ja, er steht hinter einer ganzen Reihe von Unternehmen. Er und sein Bruder sind Eigentümer von Bertrams Hotel.«

»Ich danke Ihnen vielmals, Sir.« Chefinspektor Davy erhob sich. »Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass ich Ihnen sehr verbunden bin.«

Im Polizeipräsidium fand er eine Notiz vor:

 

Kanonikus Pennyfather ist wieder aufgetaucht – leicht verletzt. Wurde offenbar in Milton St. John von einem Auto angefahren – Gehirnerschütterung.